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Größenwahn und Absturz in Paris

Die große Mehrheit junger Schriftsteller erkundet zunächst einmal ihre eigenen Erfahrungswelten. Nicht so der 1981 in Toulouse geborene Tristan Garcia. Viel schwieriger als er kann man es sich mit seinem Romandebüt eigentlich kaum machen. Zum einen taucht er in ein Milieu und eine Zeit ab, die er selbst nicht erlebt hat: die Pariser Homosexuellenszene am Ende des 20. Jahrhunderts. Zum anderen schreibt er aus der Perspektive einer Frau.

Von Christoph Vormweg | 05.04.2011
    "Der beste Teil der Menschen" ist also ein in jeder Hinsicht recherchierter Roman, in dem der Autor vor allem seine Einfühlungsfähigkeit in fremde Kontexte unter Beweis stellen muss. Umso erstaunlicher das Ergebnis. Tristan Garcia überzeugt nicht nur durch genaue Detailkenntnisse und eine rhythmisch sichere, lakonische Prosa. Er versteht es auch, die großen gesellschaftlichen Reizthemen der 1980er und 90er-Jahre provokant aufzubereiten: vom sich wandelnden Selbstverständnis der Pariser Intellektuellen bis hin zum Wüten der Aids-Krankheit.

    Im Mittelpunkt stehen die drei Männer, die im Leben der Erzählerin die Hauptrolle spielen. Zunächst ist da Doumé, ihr homosexueller Kollege bei der linken Tageszeitung Libération, dann dessen langjähriger Freund Willie, und schließlich ihr jüdischstämmiger, verheirateter Geliebter Leibo, der sich als Intellektueller in die Zeitgeist-Debatten einmischt.

    Und ich? Also, ich heiße Elizabeth Levallois, bin dreiunddreißig und Journalistin, so etwas wie die typische Pariserin, schöne Wohnung, nicht reich, aber erst recht nicht arm, und links, weil ich nicht illusionslos genug bin, um zynisch zu werden. Ich kenne zwar sonst nicht viel, aber die Aktualität, die schon. Und das ist genau das, was Leibo hasst, mit seinem ewigen Sermon über das Inaktuelle, das "Nichtmoderne", eine andere Zeit. Unsere Diskussionen kommen mir entsetzlich banal vor, zu banal. Er ist kleiner als ich. Wenn wir schlafen, sind meine Brüste oberhalb der Bettdecke. An der Uni hat er mir das alles beigebracht: die Erinnerung, die andere Zeit, den Anderen, das Schweigen und die Geschichte – ich habe es alles behalten. Ich habe nicht weiter darüber nachgedacht, aber ich repräsentiere das genaue Gegenteil. Er ist nicht zu weichlich, er maßregelt mich und heult in meinen Armen.

    Gegenüber ihrem Geliebten Leibo wahrt die Erzählerin eine distanzierte Selbstsicherheit. An Willie aber, dem Provinzler aus der Normandie, hat sie einen Narren gefressen: wegen seiner Unberechenbarkeit, seiner Wildheit. Ihm verzeiht sie alles – auch dann, als er die Verbundenheit ihres Drei-Männer-Haushalts sprengt. Denn nach der Trennung vom weit älteren Doumé sät Willie heilloses Chaos. Öffentlich attackiert er die Safer-Sex-Kampagne seines Ex-Geliebten. Mehr noch: er propagiert kondomfreie Sexpartys mit Aids-Infizierten. Die Folge: Eine hasserfüllte Mediendebatte entbrennt. Zielsicher nimmt Tristan Garcia, im Brotberuf Universitätsdozent für Philosophie, hier den Laberstrom der Pariser Medien-Intellektuellen auf die Schippe. Und doch leidet sein Roman "Der beste Teil der Menschen" unter den vielen Debatten-Resümees und dem Ideengesäusel, mit dem sich Leibo zum "Hausphilosophen" von Staatspräsident Chirac wandelt. Literarisch weit eindrucksvoller ist sowohl der mitreißende Roman-Einstieg, der die Vorgeschichte der vier Protagonisten aufgefächert, als auch die Arbeitsamts-Groteske, als Willie einen Angestellten mit seiner Penetranz in den Wahnsinn treibt.

    Doch wie dem auch sei: Der wilde Willie zieht im Medienkrieg letztlich den Kürzeren. Denn Paris hat seine eigenen Gesetze:

    Jemand, der wie Willie die Welt der Ideen und Debatten betritt, ohne von jemandem herzukommen, hat einen kurzen Moment lang das Privileg, genial und originell zu erscheinen, dann aber läuft die lange Welle der Gewohnheiten über ihn hinweg, und er wird zu einem Idioten, einem Eindringling – der wieder dahin zurück verfrachtet wird, wo er herkommt, auch wenn er dort gar nicht mehr hingehört.
    "Der beste Teil der Menschen" ist ein ernüchterndes, trauriges und gleichzeitig hellsichtiges, kontroverses, zeitkritisches Romandebüt. Es erzählt von Größenwahn und Absturz in der Pariser Medienmetropole. Die routinierten rhetorischen "Turnkünstler" bleiben zuletzt die Sieger. Doumé und Leibo können ihre Versöhnung sogar noch bestens vermarkten. Die Erzählerin Elizabeth hingegen verliert alle drei Männer, die ihr bisheriges Erwachsenenleben bestimmt haben. Leibo, ihr Geliebter, kehrt in den Schoß seiner Familie zurück, Doumé als Rentner in seine alte Heimat Korsika und der aidskranke Willie zum Sterben nach Amiens. Ihr Abschied von Willie erlaubt Tristan Garcia drei Dinge: im Detail das Sterben an Aids zu beschreiben, das Szenario einer bizarren, sehr französischen Beerdigung zu skizzieren, und den Gründen für eine rätselhafte Liebe nachzuspüren. Denn warum die Erzählerin Willie geliebt hat, weiß sie selbst nicht genau. Den "besten Teil der Menschen" jedoch meint sie in ihm zu erkennen: in einer verborgenen, nie gezeigten, zurück gehaltenen Liebe, die Willie angetrieben haben muss.

    Er war rein. Beim Kontakt mit der Welt ergibt das einen extrem schmutzigen Menschen.

    Tristan Garcia: "Der beste Teil der Menschen". Roman.
    Aus dem Französischen von Michael Kleeberg.
    Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2010.
    319 Seiten, 19,80 Euro.