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Größter Mangrovensumpf der Welt
Die Sundarbans zwischen Bangladesch und Ostindien

Die Sundarbans bilden den größten Mangrovensumpf der Welt: zu zwei Dritteln im Südwesten Bangladeschs, zu einem Drittel in Ost-Indien. Hier münden mächtige Flüsse wie der Ganges und der Meghna in den Golf von Bengalen. Es kann eine gefährliche Gegend sein - nicht nur wegen der Tiger.

Von Achim Nuhr | 07.09.2014
    Durch Betulia führt eine einzige Sandpiste mit ein paar Asphaltflecken. An Lehmbuden werden Bananen, Kekse und Zucker-Limonaden angeboten. Weiter weg von der Piste stehen Wohnhäuschen aus unverputzten Backsteinen. Bald fällt auf: Die Behausungen wirken zwar allesamt ärmlich, aber trotzdem neu. Denn Holz und Lehm zeigen noch keine Risse, und das Stroh liegt lückenfrei auf den Dächern.
    Betulia liegt in einer gefährlichen Gegend: an den Sundarbans, dem größten Mangrovensumpf der Welt, der sich zu zwei Dritteln im Südwesten Bangladeschs, zu einem Drittel in Ost-Indien ausdehnt. Hier münden mächtige Flüsse wie der Ganges und der Meghna in den Golf von Bengalen. Mehr als acht Millionen Menschen leben nahe der Sümpfe, obwohl die für menschenfressende Tiger und verheerende Wirbelstürme bekannt sind. Aber woanders ist anscheinend kein Platz mehr in den übervölkerten Ländern. Betulias Buden und Häuser sind neu, weil alle paar Jahre Flutwellen den Ort zerstören.
    Doch das ist gerade schwer vorstellbar: Bei 40 Grad Mittagshitze wirkt Betulia eher komatös. Keine Brise regt sich. An einem der vielen kleinen Flüsschen, die das Dorf und den Sumpf durchziehen, steht eine Lehmhütte. Vor der sitzt ein Mann und schaut neugierig herüber zu dem fremden Reporter und seiner Übersetzerin. Wir fragen ihn, ob hier wirklich manchmal Tiger vorbeikommen. Der Mann – mit nacktem Oberkörper, Gehrock und Badelatschen – staunt über die Frage:
    Natürlich, ab und zu wandern hier Tiger mitten durchs Dorf. Immer dann, wenn sie drüben im Sumpf nicht mehr genügend zu fressen finden. Dann schwimmen sie zu uns herüber und suchen ihre Beute stattdessen in Betulia.
    Gerade streifen zwar nur drei Ziegen und eine Horde Straßenköter am Ufer entlang. Doch im Internet sind Videos zu sehen, in denen Tiger durch die Dörfer der Sundarbans streifen - manchmal verfolgt von Hunderten Dorfbewohnern, die versuchen, sie durch Lärm zu vertreiben oder mit Schlingen zu fangen.
    "Die Angst vor dem Tiger ist allgegenwärtig"
    "Uns geht es letztlich wie den Tigern, nur umgekehrt. Wenn wir nicht genug zu Essen haben, müssen wir ans andere Flussufer hinüber paddeln: hinein in die Mangroven-Wälder, ins Revier der Tiger. Dort suchen wir dann nach allem, was sich essen oder verkaufen lässt: Honig, Kräuter und Blätter, Feuerholz, Fische. Dabei sind zwar schon viele von uns gefressen worden: die meisten von Tigern, manche von Krokodilen. Aber was sollen wir tun? Früher oder später müssen wir alle tief in den Sumpf hinein gehen, denn von irgendwas müssen wir schließlich leben. Meine Familie besitzt kein eigenes Ackerland. Selbst unsere Hütte steht auf öffentlichem Grund."
    Der Mann heißt Gupal Schana. Er sitzt vor seiner Holzhütte, um Kräfte zu sparen. Seine Familie hat kaum genug zu essen, weil er sich gerade nicht herübertraut. Denn momentan wäre das besonders gefährlich: In der glühenden Hitze, vor Ausbruch der Regenzeit, stoßen die Tiger kaum noch auf Beutetiere. Selbst Grundwasser ist knapp und schmeckt dazu noch arg salzig. Entsprechend gereizt und hungrig sind die Raubkatzen am anderen Ufer.
    Herrn Schana käme ihnen da gerade recht: Die Tiger der Sundarbans gelten als die gefährlichsten Raubkatzen der Welt, aggressiver als ihre Artgenossen in Indochina, Südchina, Sibirien und auf Sumatra. Rund 600 Tiger sollen das mehr als 10.000 Quadratkilometer große Sumpfgebiet durchstreifen, die weltweit größte Population.
    "Letztes Mal schwamm ein Tiger direkt bis zu unserer Hütte. Anschließend wanderte er durchs ganze Dorf, kehrte dann aber hierher zurück, um sich hinter unserer Hütte zu verstecken. Wir alarmierten die Nachbarn und versuchten, dem Tiger eine Falle zu stellen. Aber da kamen plötzlich die Förster angefahren. Sie sagten, wir sollten den Tiger in Ruhe lassen. Dann schossen sie auf ihn mit einem Betäubungsgewehr und fuhren ihn anschließend mit einem Boot in den Sumpf zurück."
    Gleich gegenüber von Betulia beginnt der geschützte Teil der Sundarbans: in Bangladesch ein Nationalpark mit mehreren Wildreservaten. Dort gehen Festland und Sumpf ineinander über, die Grenzen zwischen Land und Wasser verwischen. Die Flüsse gliedern sich in immer kleinere Arme auf. Die Landzungen werden immer schmaler. Im Sumpfgebiet liegen über hundert größere und unzählige kleine Inseln: das Herz der Sundarbans. Dort darf niemand dauerhaft wohnen. Einheimische und Touristen brauchen jeweils Sondergenehmigungen, um tagsüber in den Nationalpark einzudringen. Dazu benötigt man Boote, denn es gibt dort keine Straßen.
    Losgeht's in Kalkutta
    Deshalb hatte ich auf einer vorherigen Reise eine Tour durch den indischen Teil der Sundarbans gebucht: mit Start in Kalkutta, wo neben Europäern auch Angehörige der neuen einheimischen Mittelschicht solche touristischen Reisen buchen. Laut Statistik sollen angeblich bis zu 75.000 Touristen jährlich allein den indischen Teil der Sundarbans besuchen. Doch diese Zahl erscheint dubios: Die meisten Touristen-Boote könnten zwar jeweils hundert Touristen befördern. Aber wenn man überhaupt mal alle paar Stunden einem begegnet, sieht man nur ein paar Menschen an Bord.
    Die sechs Touristen auf meinem Boot hatten sich nur für die Tiere interessiert, nicht für die Menschen der Sundarbans. Niemand erzählte ihnen, dass hier immer wieder Menschen von Tieren getötet werden – nach groben Schätzungen mindestens 200 jährlich. Dabei war das Boot durch mehrere enge Flussarme gefahren, wo auf der einen Seite Tiger, gleich auf der anderen Seite Menschen lebten: zum Beispiel im Dorf Jamespur.
    "Da drüben liegt also Jamespur?"
    "Ja genau, Jamespur."
    "Und wozu dient der kleine Zaun am Ufer gegenüber?"
    "Der Zaun wurde errichtet, damit die Tiger nicht durch den Fluss schwimmen und nach Jamespur einfallen. Der Zaun ist zwar weder besonders hoch noch robust. Aber er bildet doch eine psychologische Barriere für die Tiger."
    "Die Tiger schwimmen also niemals herüber nach Jamespur?" – "Na ja, wenn ein Sturm die Reviermarkierungen der Tiger wegspült, kann das vielleicht doch mal versehentlich passieren. Aber wirklich nur selten. Außerdem passen die Wildhüter auf. Früher gab es da Probleme, aber heutzutage eigentlich kaum noch. Wegen der Schutzmaßnahmen."
    Tiger und Krokodile halten sich nicht an die Regeln
    Das Dörfchen Jamespur liegt auf der indischen Insel Satjelia, nahe der Grenze zu Bangladesch. Auch die Inder brauchen eine Sondergenehmigung, um im Tigergebiet nach Honig oder Kräutern zu suchen. Die wird nur selten offiziell erteilt, und dann meist nur gegen ein Bestechungsgeld. Aber auch viele Inder müssen in das Tigerreservat gehen, um zu überleben. Und die vielen Tiger und Krokodile halten sich ohnehin nicht an Regeln: Sie schwimmen immer wieder herüber nach Jamespur. Dort müssen die Familien sogar im Fluss baden, weil es keine öffentliche Wasserversorgung gibt. Ein großes Krokodil hatte sich am Ortsrand gesonnt, während wir in dem sicheren Boot vorbeigefahren waren.
    Am Tag darauf hatte ich einen anderen Bootsführer und einen Dolmetscher angeheuert, um nach Jamespur zurückzukehren. Dort war ich an Land gegangen, um die Bewohner nach den Tigern zu fragen. Ein Anwohner hatte uns an den Ortsrand geführt: zu Frau Prowa Boti Mondul, einer "Tigerwitwe".
    "Mein Mann ging mit zwei Nachbarn fischen. Er stand gerade aufrecht im Boot und warf den Anker ins Wasser. Da stürzte plötzlich ein Tiger aus dem Wald heraus, sprang durch das flache Wasser mit Riesensätzen auf ihn zu und attackierte ihn. Die beiden Nachbarn waren vor Angst wie gelähmt. Der Tiger schleifte meinen Mann vom Boot in den Wald. Dort muss er ihn getötet und gefressen haben. Denn mein Mann ist nie zurückgekommen. Und er wurde auch nie gefunden."
    "Tigerwitwen" wie Frau Prowa werden von ihren Nachbarn diskriminiert: Weil deren Schicksal als eine Strafe der Götter gilt, mussten allein in Jamespur fünf Tigerwitwen am Dorfrand leben, isoliert von den anderen. Frau Prowa gab an, "etwa 45 Jahre" alt zu sein. Doch sie wirkte wegen ihrer vielen tiefen Falten im Gesicht bereits viel älter. Mit gesenkten Mundwinkeln hatte sie erzählt:
    "Wir haben hier nicht mal Strom. Nachts ist es stockfinster. Das gefällt den Tigern, dann schleichen sie sich an. Wenn die Tiere jemanden verletzen, gibt es hier keinen Arzt. Das nächste Hospital liegt weit weg und ist nur mit einem Boot zu erreichen. Wir leben in Angst: Jederzeit kann ein Tiger auftauchen und einen von uns schnappen. Ich bin nicht wütend auf sie. Sollen sie leben. Doch sollten nicht auch wir geschützt werden? Aber die Regierung interessiert sich nur für die Tiger."
    Jamespur war angelegt wie die meisten Dörfer der Sundarbans: Am Flussufer schützte ein Damm aus Lehm vor kleineren Fluten. Gleich hinter dem Damm standen die ersten Hütten aus Holz oder Stroh, alle mit Strohdächern, obwohl die nicht mal vor Regen lange schützen. Die Fußwege auf den Lehmdämmen waren von Spuren übersät gewesen. Neben den Abdrücken von Sandalen und nackten Menschenfüßen waren Krallenspuren zu erkennen. An meinem Besuchstag wurden mir frische Spuren gezeigt: Am Vortag, als ich tags mit dem Boot vorbeifuhr, hatte abends ein Tiger Jamespur besucht, wie die Anwohnerin Loki Mondul erst nachher bemerkte.
    "Wir haben seine Spuren erst heute gefunden. Ich kam gestern ahnungslos vom Fluss zurück und hing meine Wäsche auf. Dabei muss mir der Tiger bereits gefolgt sein. Dann ist er zu unserem Kuhstall geschlichen und hat sich dort versteckt. Auch an der Stallwand sind Krallenspuren. Von dort ist er zur Nachbarhütte weiter gewandert. Die Nachbarn kamen erst im Dunkeln vom Markt zurück. Dabei hatten sie ein Riesenglück, denn der Tiger war anscheinend bereits ins nächste Dorf gewandert. Dort hat er später zuerst zwei Ziegen, dann einen Hund verschlungen."
    In diesem Moment kam ich mir sehr lächerlich vor mit dem Pfefferspray, das ich aus Deutschland mitgebracht hatte. Wenn der Tiger erneut aufgetaucht wäre, hätte kein Förster mehr helfen können: Denn dem alten Ranger habe eine Raubkatze ein halbes Jahr zuvor ein Bein abgebissen, hatte Frau Mondul berichtet. Er sei daraufhin in Ruhestand gegangen und ein neuer Förster noch nicht gefunden worden, wegen der schlechten Bezahlung. Während ich nach ein paar Stunden zurück in sichere Gefilde reiste, lebten die Anwohner weiterhin ungeschützt.
    Bei meiner nächsten Reise durch die Sundarbans besuchte ich einen besser erschlossenen Teil. Nach einem Wirbelsturm waren ohnehin viele Flüsse und Meeresarme durch entwurzelte Bäume blockiert gewesen. Deshalb fuhr ich zuerst mit einem Zug von Kalkutta nach Canning, einer Hafenstadt mit Straßen, Strommasten, Restaurants und Kinos. Am Stadtrand von Canning markierten dann ein wackliger Holzsteg und ein paar alte Holzboote den Weg in die Wildnis. Zwei große Schiffe lagen dort umgekippt am Ufer, kaputt und ausgeweidet - ein Hinweis darauf, wie der Wirbelsturm nur wenige Wochen zuvor gewütet hatte.
    "Deshalb war ich nur bis Ghodamara gekommen, einer Insel am nordwestlichen Rand der Sundarbans. Die Fahrt in der Nussschale führte bereits ein Stück weit durch den Golf von Bengalen, doch das Wasser war an diesem Tag zum Glück ruhig geblieben. Das Meer nagt an den Inseln der Sundarbans. Vier Nachbarinseln von Ghodamara sind bereits unter Wasser verschwunden – die Menschen, die dabei ihre Heimat und ihre Felder verloren, wurden von den Vereinten Nationen zu Umweltflüchtlingen ernannt. Denn bekanntlich lässt der Treibhauseffekt den Meeresspiegel steigen."
    Schon bei der Anfahrt war zu sehen gewesen, wie flach die übrig gebliebenen Inseln im Meer liegen. Am Bootssteg von Ghodamara hatte ich zufällig Herrn Sriminal Kanti Sid getroffen. Er kehrte mit einem dicken Sack Reis auf seine Heimatinsel zurück – ein Geschenk von Verwandten aus Kalkutta.
    "Der letzte Sturm begann mit starkem Regen und Wind. Das kommt hier eigentlich öfter vor, aber beim letzten Mal ist doch tatsächlich später unser Dorfdeich gebrochen. Dabei hatten den die britischen Kolonialherren gebaut. Über hundert Jahre lang hatte er gehalten! Aber dann passierte es: Das Meer raste auf uns zu. Wir waren entsetzt und rannten weg, so schnell wir konnten. Hinter uns fielen schon die Hütten zusammen. Zum Glück brach der Deich tagsüber, im Hellen. So konnten wir wenigstens noch unsere Kinder packen und ein paar Tiere, sogar noch unseren Kochtopf. Aber alles andere ist weg."
    Zu Besuch beim Bürgermeister
    Der letzte Sturm hatte große Lücken in den Küstenstreifen von Ghodamara gerissen: Große Erdbrocken waren offensichtlich herausgebrochen und ins Meer geschwemmt worden. Andere Brocken lagen noch kreuz und quer am Strand herum. Auch abgeknickte Palmenspitzen waren zu sehen gewesen, und weiter landeinwärts zerstörte Lehmhütten. Selbst mein sturmerprobter Dolmetscher war beeindruckt gewesen. Ihm hatte Herr Sid erklärt, wie er damals seine Hütte zuerst noch retten wollte.
    "Als die ersten Wellen über den Deich schwappten, stieg das Wasser zunächst langsam. Da wollte er noch die Mauern seines Hauses stabilisieren: Er stopfte Lehm und Steine in die ersten Risse. Aber später, nach dem Deichbruch, kamen die Wassermassen herangeschossen. Da konnte er nichts mehr machen und musste flüchten."
    Danach hatte mich Herr Sid zum Bürgermeister der Insel Ghodamara geschickt, der ein paar Kilometer entfernt wohnte. Der schmale Weg dorthin war mit Ziegeln gepflastert, mein Gefährt ein "Fahrradlaster": So nennen die Einheimischen Fahrräder mit angeschweißter Ladefläche. Der Fahrpreis wird schnell ausgehandelt, dann tritt ein Fahrer in die Pedale. Dabei hatte ich ohne Landkarte schnell die Orientierung verloren. Erst später konnte ich Ghodamara auf Satellitenfotos betrachten: ein Gewirr von viereckigen Feldern und Häusern, kaum Brachflächen, sehr dicht besiedelt.
    Das Haus des Bürgermeisters hatte in der Mitte der Insel auf einer kleinen Anhöhe gestanden. Wahrscheinlich wird es als letztes in den Fluten versinken: Ein Bericht der Vereinten Nationen gibt Ghodamara und den Nachbarinseln noch etwa 15 Jahre. Bürgermeister Odjuel Kumarpatro hatte sich gleich Zeit genommen, als ich so plötzlich bei ihm auftauchte. So ist es Sitte auf den Sundarbans - zumal bei Fremden, weil die nur sehr selten vorbeikommen. Sich anzukündigen, ist ohnehin unmöglich: Denn es gibt weder Handymasten noch Telefonleitungen oder gar eine Internetverbindung auf der Insel. Der Bürgermeister war stolz auf die Vergangenheit von Ghodamara gewesen, sah aber gleichzeitig schwarz für die Zukunft.
    "Unsere Geschichte reicht etwa 200 Jahre zurück. Damals regierten hier noch die Briten und die Insel war fast 30.000 Biga groß. Das entspricht etwa 10.000 Hektar. Nun ist die Insel nur noch 1.000 Hektar groß: Neun Zehntel sind bereits im Meer versunken! Deshalb leben hier auch viel weniger Menschen als früher: Damals waren es 30.000, jetzt sind es nur noch 5.000."
    Herr Kumarpatro hatte von einem Diener seine Amtsstube öffnen und die Möbel abstauben lassen, damit wir ungestört sprechen konnten. Doch dann mussten wir schnell zurück nach draußen flüchten: Die plötzliche Unruhe hatte Wespen aufgescheucht, die hinter einem Fensterladen ihr Nest gebaut hatten und nun aufgeregt durch das Büro schwirrten. Sicher ist es schwierig, eine versinkende Insel zu regieren.
    "Ich habe wenig Hoffnung, dass die Regierung in den nächsten Jahren doch noch etwas unternehmen wird, um uns zu retten. Wir haben schon alles versucht: Wir sind sogar nach Kalkutta gefahren, zum Landesparlament von Westbengalen. Doch die Politiker meinen, dass sie uns nicht helfen können. Es gibt nicht einmal einen Evakuierungsplan, immer nur Gerüchte: Dass hier und da mal ein paar Familien umziehen sollen, irgendwo anders hin. Wer etwas Geld hat, finanziert seinen Umzug aufs Festland aus eigener Tasche. Wer arm ist, kommt zu mir und fragt nach Hilfe."
    Blick in die Zukunft
    Doch Herr Kumarpatro kann allenfalls gelegentlich ein paar Essensrationen verteilen. Als einzigen Hinweis auf die Neuzeit entdeckte ich vor seinem Bürgermeister-Büro eine echte Straßenlaterne. Auf der klebte eine Plakette, die den Laternen-Spender auswies: einen Auswanderer, der es von Ghodamara bis nach Kanada geschafft hatte. Die Laterne wurde mit Solarzellen betrieben.
    Haben die Sundarbans und ihre Bewohner eine Zukunft? Um das zu klären, reise ich nun mit den Hilfsorganisationen USAID und CARE zu dem Dorf Kolvari in Bangladesch. Und zwar mit einem Geländewagen, denn bis zum nördlichen Rand des Mangrovensumpfs führt hier noch eine letzte Piste.
    Eine kleine Delegation von Dorfbewohnern erwartet uns bereits: Denn in Kolvari kann man mit dem Handy telefonieren, und viele Einheimische tragen stolz ein Telefon in ihrer Brusttasche. Das Hilfsprojekt der Nichtregierungsorganisationen ist klassisch angelegt: Früher kauften Großhändler den Bauern ihre Feldfrüchte billig ab, um sie in der Stadt teuer weiter zu verkaufen. Nun sollen sich die Farmer zusammen tun und ihre Produkte – wie Wassermelonen, Tomaten, Bohnen und Fische - selbst weiterverkaufen, ohne Mittelsmänner.
    Aber als ich mich bei einem Rundgang umschaue, sind nur wenige Felder zu sehen. Ein Mann steht auf einem Hüttendach und erntet von einem einzelnen Baum ein paar Mangos. Überall sind dagegen viereckige, also künstlich angelegte Teiche zu entdecken. Kolvari sieht aus wie eine große Fischfarm. Und das hat seinen Grund, erzählt ein Dorfbewohner:
    "Das Grundwasser wird immer salziger. Deshalb wachsen hier Feldfrüchte immer schlechter. Selbst Reis bauen wir kaum noch an. Stattdessen züchten wir immer mehr Fische. Allerdings ist das Wasser auch für viele Fischsorten bereits zu salzig geworden."
    Mohamed Abdul Asis ist froh, dass seine Familie wenigstens ein paar Kilometer entfernt wohnt von den offenen Sumpfgebieten der Sundarbans. Deshalb dauert es bei einem Sturm oft zwei oder gar drei Tage, bis die Fluten in seinem Dorf ankommen: genügend Zeit, um sich in einem soliden Sturmschutzbunker in Sicherheit zu bringen, den die Wasserbehörde vor sechs Jahren errichten ließ. Tiger kommen nicht bis Kolvari, weil das Dorf dafür zu weit weg liegt von den nächsten Sümpfen.
    "Wenn das Wasser in den Teichen steigt, wissen wir, dass die Flut bald unser Dorf erreichen wird. Das meldet dann auch zusätzlich die Regierung im Radio. Dann packen wir unsere Kinder, die Kühe und die Hühner und ziehen zum Flutschutz-Bunker. Dort ist es zwar nicht gerade geräumig, aber doch recht sicher. Wer reich ist und in einem Haus mit zwei oder gar drei Etagen wohnt, kann sogar meist zu Hause wohnen bleiben: im obersten Stockwerk, weil das trocken bleibt."
    In Kolvari könnten die Sundarbans eine Chance haben: Weil das Dorf Unterstützung von außen erfährt, über eine Straße zu erreichen ist, nur langsam geflutet wird und keine Tiger dorthin kommen. Hart ist es sowieso – das Überleben am größten Mangrovensumpf der Welt.
    "Als wir noch viel Reis anbauten, konnten wir wenigstens dreimal am Tag essen. Nun hängt es daran, wie viel Geld wir beim Verkauf unserer Fische verdienen. Meist können wir uns immerhin zwei Mahlzeiten leisten. Aber egal, was passiert: Die Sundarbans sind das Land unserer Vorfahren. Hier bleiben wir sowieso."