Mittwoch, 24. April 2024

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Größtes Bibliotheksprojekt Osteuropas
"Viktor Lazić ist ein Kulturpatriot"

Der Serbe Viktor Lazić rettet bedrohte Bibliotheksbestände aus privater und öffentlicher Hand. Er plant die Gründung der größten internationalen Bibliothek Osteuropas. Ihn treibe nichts engstirnig Nationalistisches, sagte die Slawistin Brigitte van Kann im Dlf. Eine Million Bücher hat er zusammen.

Brigitte van Kann im Gespräch mit Angela Gutzeit | 01.02.2018
    Mehrere Bücher liegen auf drei Stapeln nebeneinander.
    Neuere Bücher, teils sehr alte Werke - eine Million hochwertige Exemplare, auch aus Privatbibliotheken, hat Victor Lazic gesammelt für sein Projekt. Die British Library hat jetzt einem Kooperationsprojekt zugestimmt. (picture-alliance / dpa / Romain Fellens)
    Angela Gutzeit: In Serbien rettet ein junger Rechtsanwalt Bibliotheksbestände von Privatleuten, die ansonsten wohl entsorgt werden würden. Der 31-jährige Viktor Lazić plant nichts weniger als die Gründung "der größten internationalen Bibliothek zwischen Istanbul und Wien", wie er selbst kundtut. Eine Million Bücher hat er bereits zusammengetragen. Die Geschichte dieses Bücherfanatikers einschließlich seiner Familie ist so anrührend und gleichzeitig so bizarr, dass sie hier erzählt werden sollte. Ich habe mit der Kritikerin, Slawistin und Übersetzerin Brigitte van Kann über dieses Projekt gesprochen, das sie selbst auch unterstützt, und sie zuerst gefragt, was diesen jungen Mann aus Belgrad eigentlich antreibt?
    "Er ist ein Kulturpatriot"
    Brigitte van Kann: Ja, ich würde sagen, es ist die Liebe zu den Büchern, die Liebe zu seinem Land. Er ist ein Kulturpatriot. Der Wunsch, etwas für sein Land zu tun, und zwar nichts engstirnig Nationalistisches, sondern über das Land hinauszuschauen. Er plant ja eine internationale Bibliothek, und er hat arabische und hebräische und indonesische Bücher genauso wie 100.000 deutsche bereits oder 200.000 russische. Und man muss auch sagen, er stammt aus einer Familie von Büchersammlern.
    Angefangen hat wohl ein Vorfahr, der serbisch-orthodoxer Priester war im 18. Jahrhundert. Der hat nur sehr wenig Bücher zusammentragen können, die waren damals sehr teuer. Viktor Lazics Urgroßvater hat dann 1882 zur Proklamation des Königreichs Serbien die Bücherbestände der Familie öffentlich zugänglich gemacht. Das bedeutet ja auch, eine Bibliothek haben, dass man sie zugänglich macht. Und mit diesem Luka Lazic sind sehr viele Geschichten verbunden.
    Als die serbische Armee im Ersten Weltkrieg über die Berge nach Albanien geflüchtet ist, um dann übers Meer ins Exil nach Korfu zu gehen, hat er die kostbarsten Bücher in seine Fellweste eingenäht. Das Schiff ging unter, die Bücher waren verloren. Der Mann überlebte und machte sich wirklich gleich auf Korfu daran, alle Verlautbarungen der serbischen Exilregierung auf Korfu zu sammeln. Das ist eine einmalige Sammlung, so einmalig, dass die British Library einem Kooperationsprojekt zugestimmt hat und mit Victor Lazic zusammen diese Bestände jetzt digitalisiert.
    "Kommunistische Bücherbestände einfach weggeworfen"
    Gutzeit: Und jetzt kommen wir mal auf das Aktuelle zurück, Brigitte von Kann. Sie bezeichnen Viktor Lazic und seine Helfer als Rotes Kreuz für Bücher. Mittlerweile ist dieser Mensch als Retter von Bibliotheksbeständen in ganz Serbien bekannt und in den Medien präsent. Um welche Bestände geht es denn da, und was hat er bereits unternommen?
    van Kann: Er sammelt nicht nur private Bestände, private Nachlässe, sondern er nimmt auch Bestände von Institutionen auf, die sich von ihren Büchern trennen oder trennen müssen. Als der Umbruch war vom Kommunismus zu Kapitalismus und Demokratie, wenn man so will, haben viele Institutionen ihre kommunistischen Bücherbestände einfach weggeworfen. Er hat sie aufgesammelt. Er sagt, ohne eine Gesamtausgabe von Titos Werken kann man diese wichtige Ära für Jugoslawien ja gar nicht erforschen.
    Gutzeit: Wo bringt er das alles eigentlich unter, frage ich mich. Ich habe in der Anmoderation davon gesprochen von einer Millionen Büchern. Wo lässt er die?
    van Kann: Inzwischen ist es bereits mehr als eine Million. Es gibt ein Bücherlager, das ich auch besichtigen konnte. Das ist der Luftschutzkeller seiner ehemaligen Schule. Dort sind wahnsinnige Bücherkistengebirge regelrecht aufgetürmt. Dieser Raum erfüllt alle Kriterien, die er braucht. Er ist trocken, er ist sicher, und er ist umsonst. Denn das kann er sich nicht leisten, für seine Bücherdepots auch noch Miete zu bezahlen.
    "Er hat da wirklich keine nationalistischen Scheuklappen"
    Gutzeit: Interessant finde ich ja, dass Lazic osteuropäisch denkt und nicht national serbisch, und auch nicht unbedingt ideologisch, das haben Sie gerade schon angedeutet, weil er also auch durchaus marxistische Literatur oder Literatur aus der marxistischen Ära. Also dieses osteuropäische übergreifende Denken finde ich wohltuend, da ja nicht zuletzt in Osteuropa der Nationalismus stark auf dem Vormarsch ist.
    van Kann: Ja, das ist richtig. Viktor Lazic stattet zum Beispiel auch arme Dorfbibliotheken in überwiegend muslimischen südserbischen Dörfern aus. Er liefert Bücher in den Kosovo. Nicht alle seiner Landsleute heißen das gut, aber ich glaube, er hat da wirklich keine nationalistischen Scheuklappen.
    Gutzeit: Das heißt, es ist so etwas wie auch ein friedensstiftendes Projekt? Ich übertreibe jetzt vielleicht mal ein bisschen, aber Jugoslawien fiel auseinander, die Balkankriege, wir erinnern uns daran. Und er macht es sozusagen mit seinen Bücheraktionen über die Grenzen hinaus.
    van Kann: Auf jeden Fall kann man das sagen. Er hat sogar gesagt, er würde die Nationalbibliothek in Sarajewo, die bis jetzt ja leider Gottes wunderbar restauriert da steht, aber ohne ein einziges Buch, auch die würde er unterstützen. Ich glaube, das sind alles kleine Schritte in Richtung Frieden und Versöhnung, und ich glaube, der Balkan braucht das immer noch ganz schön dringend.
    "Lazic hat das Vertrauen der Leute, dass er nichts wegwirft"
    Gutzeit: Gibt es denn eigentlich keine staatliche Einrichtung in Serbien, die das Erbe der serbischen und internationalen Literatur pflegt und aufbereitet?
    van Kann: Es gibt natürlich ein Nationalmuseum, es gibt eine Nationalbibliothek, es gibt ein Nationalarchiv. Tatsache ist aber, dass durch diese ganzen Umbrüche und Kriege manche serbischen Institutionen vielleicht nicht im idealen Zustand sind und die Leute in Serbien auch nicht mehr so das große Vertrauen in diese Institutionen haben, weil man nie weiß, was der morgige Tag bringen wird. Und wenn Sie 150 Kisten Familienarchiv haben, wenn Ihr Urgroßvater Gründer der Belgrader Bibliothek war und Ihre Verwandten hochrangige Politiker, dann wollen Sie sichergehen, dass die Dinge nicht morgen veräußert werden oder sonst was mit ihnen geschieht. Viktor Lazic hat das Vertrauen der Leute, dass er nichts wegwirft.
    Schenkungen von Schriftstellern noch zu Lebzeiten
    Gutzeit: Er hat sogar so das Vertrauen der Leute, dass Schriftsteller ihm ihre Nachlässe beziehungsweise Vorlässe vermacht haben.
    van Kann: Das ist richtig. Ein solcher Vorlass, also eine Schenkung zu Lebzeiten, die dann nach dem Tode realisiert wird, hat zum Beispiel Pero Subertz gemacht, Schöpfer des berühmtesten serbischen Liebesgedichts. Einen Nachlass hat Dani Tsaleko gemacht. Ihr Vater ist eben jener Begründer der Belgrader Universität und Begründer des Serbischen Roten Kreuzes. Christina Pawlowitsch, die Tochter des berühmtesten serbischen Dichters, Miodrag Pawlowitsch, hat den gesamten Nachlass ihres Vaters an die Gesellschaft Adligat (adligat-serbia.com), die Viktor Lazic gegründet hat, übergeben. Und sehr anrührend ist es zu sehen, das gesamte Arbeitszimmer von Miodrag Pawlowitsch ist in den Räumen des Buchmuseums, auch das hat Lazic bereits gegründet, wieder aufgebaut. Seine Handbibliothek mit seinen Zetteln, seinen Anstreichungen. Wer über Pawlowitsch arbeiten will, tut sicher gut daran, auch eine gewisse Zeit in diesem rekonstruierten Arbeitskabinett zu arbeiten.
    Bücher des Tschechow-Übersetzers Peter Urban gerettet
    Gutzeit: Man sollte vielleicht noch ergänzen, dass Viktor Lazic auch den gesamten privaten Buchbestand des Übersetzers Peter Urban gerettet hat.
    van Kann: Ja, das kann man wohl sagen. 2013 ist Peter Urban, vor allem bekannt geworden als Tschechow-Übersetzer, gestorben, und es ist in über zweijähriger intensiver Arbeit nicht möglich gewesen, die 15.000 Bände seiner Bibliothek irgendwo unterzubringen. Alle Einrichtungen, alle Universitäten, die die Witwe angesprochen hat, haben abgewunken. Und zwei Wochen, bevor sie das Haus räumen musste, tauchte Viktor Lazic auf und hat diese 15.000 Bände übernommen.
    Gutzeit: Ich sagte zu Beginn, dass Sie das Projekt unterstützen. Was schätzen Sie denn an dieser Initiative, was verbindet Sie mit Viktor Lazic und seiner Bücherrettung?
    van Kann: Mich beeindruckt, dass ein junger Mensch seine ganze Energie in ein solches Projekt gibt. Ich glaube an das Buch. Ich glaube nicht so sehr an das Bestehen digital gesicherter Bücher. Wenn Sie mal überlegen, ich glaube, über 400 Bände, über 400 Gutenberg-Bibeln sind gedruckt worden. Etwa 180 gibt es noch davon. Aber haben Sie noch eine Floppy Disk oder eine Diskette oder so was, die Sie einlesen können?
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.