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Großbritannien
Das Jahr, in dem die Briten den Brexit wählten

Fünf Nachbarn am Tisch in der Petersham Road in London diskutieren über den Brexit. Drei sind dafür, zwei dagegen. Kurz vor dem Jahreswechsel weiß keiner von ihnen genau, was das neue Jahr für Großbritannien bringen wird. Dass es schwierig wird, den Austritt umzusetzen, glauben alle.

Von Friedbert Meurer | 31.12.2016
    Zwischen England-Fahnen schaut jemand hervor, der eine Bulldoggenmaske mit englischen Fahnenemblemen,anhatt.
    Großbritannien im Zeichen des Brexit (dpa/picture-alliance/Facundo Arrizabalaga)
    Wir sitzen gemeinsam an unserem Esstisch. Alle vier Adventskerzen brennen, es gibt Glühwein. Die Nachbarn kennen sich untereinander, die Stimmung ist erwartungsvoll. Wie in Großbritannien üblich, sprechen wir uns mit Vornamen an. Alle verfügen über einen ähnlichen sozialen Hintergrund, beruflich erfolgreich, ein Eigenheim - und doch sind sie über den Brexit gespalten. Diana arbeitet als Buchhalterin in leitender Position für eine Fondsverwaltung in der City und ist für den Brexit.
    "Ich konnte am Abend des 23. Juni nicht schlafen und habe nachts den BBC World Service eingeschaltet. Ich hörte, dass wir gewinnen. Ich konnte es nicht fassen."
    "Meine Frau und ich waren sehr enttäuscht", berichtet James dagegen, ein Manager im Gesundheitswesen. "Wir empfanden das als Rückschlag für eine liberale und progressive Politik. Das war ein philosophischer Tiefschlag."
    Emotionale Achterbahnfahrt
    "Die Zeit danach kam für mich emotional einer Achterbahnfahrt gleich", gesteht Felix, er ist außer mir der einzige Deutsche in der Runde. Felix lebt seit 19 Jahren in London und investiert in Unternehmen in Afghanistan. Die Zeitung "Financial Times" hat gerade lobend über ihn berichtet. "Mehr als die Hälfte deiner Nachbarn sagt dir, verlass jetzt bitte das Land. Das war wirklich hart. Es hat eine ganze Weile gedauert, bis ich als Deutscher darüber hinwegkam."
    Die EU-Gegner am Tisch beschwichtigen, das Referendum habe sich nicht gegen ihn gerichtet. Jason verweist auf die kleine Hautarztklinik, die er und seine Frau aufgebaut haben, die Hälfte der Angestellten komme aus Europa. "Das richtet sich überhaupt nicht gegen Ausländer. Ich persönlich würde sogar mehr hereinlassen. Ich bin kein Rassist oder Fremdenfeind, das stimmt einfach nicht."
    Diana stammt aus Wolverhampton, am Tag der Abstimmung war sie in der Nähe in Birmingham. Sie berichtet von dort anderes. "Ich war erschrocken, als meine Freunde mir zu verstehen gaben, dass das in Birmingham tatsächlich gegen Ausländer gerichtet war. Es tut mir für Felix absolut leid, dass er dachte, jeder will, dass er nach Hause gehen soll."
    Den Brexit jetzt umzusetzen, das werde schwierig, sagen alle am Tisch. Wird er am Ende vielleicht sogar doch noch abgeblasen?
    Viele Leute sind wütend
    "Er wird definitiv kommen, es weiß nur niemand wie", antwortet Felix. "Zuletzt war ja davon die Rede, dass es zehn Jahre dauert." "Ich schwanke hin und her", gesteht Brexit-Befürworterin Diana. "Einerseits denke ich, wir machen das jetzt weiter mit dem Artikel 50 und verhandeln mit der EU. Andererseits glaube ich ..."
    Sie macht eine Pause. Diana will sagen, dass das keinen Sinn mehr macht, weil die EU sich querstellt. Also soll Großbritannien einfach abrupt herausgehen – eine Variante, die politisch derzeit nicht ernsthaft zur Debatte steht. "Viele hier in unserem Land akzeptieren den Brexit nicht. Der Kampf geht endlos weiter. Wenn wir nicht aufpassen, dann könnte das noch sehr hässlich werden. Es gibt viele Leute, die sehr wütend sind."
    Bruce kommt jetzt hinzu, ein weiterer Nachbar, der sich schon im Ruhestand befindet. "Die Regierung Cameron hat alles Mögliche aufgelistet, was alles Schlimmes passieren würde nach einem Brexit. Vieles davon war so lächerlich. Viele dachten: Ihr redet schlicht Unsinn."
    Bruce ist für den Brexit, wie die meisten Älteren, und verweist zur Begründung auf den historischen Einschnitt in der englischen Geschichte schlechthin. "Heinrich VIII., als er die Scheidung wollte, hat die katholische Kirche verlassen. Seine Tochter Elisabeth hatte dann eine der großartigsten Regierungszeiten unserer Geschichte."
    Keiner weiß genau, was es bringen wird
    Wir streifen kurz die frühere britische Weltmachtstellung. Felix, der Deutsche, meint, dass sie bei etlichen Briten noch in den Köpfen spuke. James ist nachdenklich geworden, irritiert und geradezu sauer von dem Gerede über eine großartige Zukunft für Großbritannien außerhalb der EU, von der Theresa May und Boris Johnson ständig schwärmen.
    "Ich bin aufgewachsen mit dem Gedanken, wenn es ein Problem in der Familie gibt, dann halten wir zusammen und versuchen, es zu lösen. Wir haben nicht einfach die Tür zugeknallt. Vielleicht brauchen wir ja selbst in zehn Jahren die Hilfe der anderen. Das ist sehr negativ und eine moralische Bankrotterklärung."
    Fünf Nachbarn am Tisch in der Petersham Road in London, drei sind für den Brexit, mich eingerechnet sind drei dagegen. Der Topf mit dem Glühwein ist leer. Alle wünschen wir uns ein gutes neues Jahr, von dem keiner genau weiß, was es für Großbritannien bringen wird.