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Großbritannien
Leben in einer Klassengesellschaft

Kaum eine Gesellschaft ist so besessen von Klasseneinteilung wie die britische. Dabei ist soziale Klasse nicht nur eine Frage des Geldes, sondern vor allem des Stallgeruchs, beschreibt der britische Soziologe Mike Savage in seiner Studie "Social Class in the 21st Century". Der eigentliche Startvorteil der Upper Class bestehe vor allem in ihrem sozialen Kapital.

Von Sandra Pfister | 11.04.2016
    Passanten auf der Oxford Street in London im August 2013
    Die meisten Briten glauben daran, in einer Meritokratie zu leben, in der man sich durch eigene Anstrengung etwas erarbeiten kann. (picture alliance / dpa / Facundo Arrizabalaga)
    Alte Aristokratie – oder Arbeiterschicht: Kaum eine Gesellschaft ist so besessen von Klasseneinteilungen wie die britische. Soziologen behaupten, Briten könnten ihr Gegenüber binnen Sekunden allein anhand der Aussprache und der Verwendung bestimmter Begriffe in Ober- oder Unterschicht einordnen. Die Zeitungen sind voll von Geschichten über Eliteschulen und Elitehochschulen, die Briten verschlingen nahezu Gerüchte über den exklusiven Bullington-Club, in dem Elite-Zöglinge wie auch der Premier David Cameron angeblich ihre Exzesse pflegen.
    Trotz aller Faszination für "Oben" und "Unten" aber glauben die meisten Briten daran, in einer Meritokratie zu leben, in der man sich durch eigene Anstrengung etwas erarbeiten kann. Wenn man die Briten fragt, zu welcher Klasse sie gehören – und das hat Mike Savage zusammen mit der BBC vor drei Jahren im "Great British Class Survey" getan - dann sagen die meisten von ihnen: Wir sind irgendwo in der Mitte. Der Soziologe Savage sagt: Damit lügen sich viele selbst in die Tasche. Soziale Mobilität, sagt er, werde überschätzt; die Klassengesellschaft lebe weiter:
    "Unser Argument ist ganz einfach: Früher war die Zugehörigkeit zu einer Klasse vorwiegend über den Beruf definiert, und die soziale Kluft zwischen Mittel- und Arbeiterschicht hat die meisten Ängste und Sorgen hervorgerufen. Heute legen wir den Fokus auf verschiedene Arten von Kapital und wie sie dazu führen, dass sich Besitz anhäuft. Wir können jetzt eine ganz andere Struktur erkennen: Da steht nämlich auf einmal eine sehr schmale, wohlhabende Elite-Klasse einem Prekariat gegenüber, das nur über sehr wenige Ressourcen verfügt."
    Neuer Klassen-Snobismus greift um sich
    Und mit Ressourcen ist durchaus nicht nur Geld gemeint, sondern auch kulturelles Know-how. Das wurde deutlich, als in der Woche, in der die Umfrage veröffentlicht wurde, der Verkauf von Theatertickets sprunghaft um fast 200 Prozent anstieg. Soziologen führen es darauf zurück, dass viele allein durch die Umfrage daran erinnert wurden, dass Theaterbesuche ein Zeichen dafür sind, dass man zur höheren Klasse gehört.
    "Deshalb greift es um sich, dass immer mehr sich auf 'sophistication' berufen, auf ihre vielfältigen und erlesenen Vorlieben und so weiter, weil das eine Möglichkeit ist, sich von anderen Menschen abzusetzen, die einen viel einheitlicheren oder einfacheren Geschmack haben. So sieht ein neuer Klassen-Snobismus aus, und der greift immer mehr um sich, auch wenn er nicht unverhohlen gezeigt wird. Die Gebildeten wollen heute nicht mehr offen 'versnobt' sein, die Unterschiede sind subtiler – aber dadurch nur umso stärker."

    Die Elite schirmt sich durch ihren Habitus derart vom Rest der Gesellschaft ab, dass selbst soziale Aufsteiger, die zu Geld gekommen sind, sich in solchen Kreisen oft unwohl fühlen. Was der Elite-Forscher Michael Hartmann für die deutsche Oberschicht bereits eindrücklich beschrieben hat, gilt umso mehr für die britische. Denn die wurde weder durch Revolutionen noch Weltkriege dezimiert oder elementar infrage gestellt. Soziale Klasse ist nicht nur eine Frage des Geldes, sondern vor allem des Stallgeruchs. Wenige Bücher aus jüngerer Zeit beschreiben das so eindrücklich wie dieses.
    Außenansicht des Royal Opera House in London
    Die Upper Class zeichnet sich auch durch kulturelles Know-how und den Konsum "schwieriger " Kunst aus. (imago/Newscast)
    Zugang zu Elite-Einrichtungen versprechen Erfolg
    Insofern ist Savages Buch tatsächlich eine Art "Piketty-Plus". Der französische Ökonom Thomas Piketty führt ja die zunehmende Ungleichheit weniger auf steigende Gehälter für Superreiche zurück, als vor allem auf deren angehäuftes Vermögen. Geld allein jedoch kann noch keinen Einfluss kaufen. Savage beruft sich auf den Soziologen Pierre Bourdieu, wenn er eindrücklich illustriert, dass der eigentliche Startvorteil der Upper Class in ihrem sozialen Kapital besteht: Schon Papa und Großpapa kannten die richtigen und wichtigen Leute, und heute treffen sich die Söhne beim Rugby oder Golf. Kulturelles Kapital: Wer was auf sich hält, konsumiert nicht Mainstream, sondern "schwierige" Kunst. Savage dazu:
    "Wir leben jetzt in einer polarisierteren Welt, in der die Vermögens-Elite sich zunehmend vom Rest der Bevölkerung absetzt. Ich will darauf hinaus, dass sich hier verschiedene Arten von Kapital gegenseitig befruchten."

    Wer dabei erwartet, dass die Bildungsexpansion der vergangenen Jahrzehnte die Klassenunterschiede nivelliert hätte, der irrt. Wenn inzwischen große Teile eines Jahrgangs zur Uni gehen, dann spielt es eine noch viel größere Rolle als vorher, welche Uni man besucht:
    "Dass es jetzt immer mehr meritokratische Wege gibt, auf denen Kinder Zugang zu höherer Bildung erlangen, ebnet das Spielfeld allerdings nicht ein und bedeutet auch nicht das Ende der Klassenunterschiede. Davon sind wir weit entfernt. In einem Bildungsmarkt, der sehr vom Wettbewerb geprägt ist, ist es der Zugang zu Elite-Einrichtungen, der wirklich strahlenden Erfolg verspricht."
    Blick auf Clare College und King’s College Chapel, die zur Universität Cambridge in der gleichnamigen Stadt gehören.
    Die britischen Zeitungen sind voll von Geschichten über Eliteschulen und Elitehochschulen wie die Universität Cambridge. (picture alliance / dpa / Chris Radburn)
    Wer hat, dem wird gegeben
    Wer hat, dem wird gegeben: Wie sehr das Matthäus-Prinzip noch heute in Großbritannien gilt - und wie viel stärker noch als in anderen europäischen Gesellschaften -, das hat noch keine Studie so systematisch erfasst wie diese.
    Savage und seine Co-Autorin lassen sich allerdings etwas zu sehr von der vorwiegend in London ansässigen britischen Elite faszinieren. Die Beschreibung der fünf Klassen der Mittelschicht fällt viel diffuser und längst nicht so überzeugend aus. Ein weiteres Manko ist der formale und akademische Nominalstil des Buches, wo doch gerade englische Wissenschaftler in der Regel stark darin sind, ihre Erkenntnisse massentauglich aufzubereiten.
    Politisch hätte diese Studie über soziale Ungleichheit und ihre Verstetigung und Verstärkung in Großbritannien ein Erdbeben auslösen können. Es ist aber weitgehend ruhig geblieben. Das könnte nicht zuletzt daran liegen, dass der Großteil der aktuellen Tory-Regierung aus Oxford- und Cambridge-Absolventen besteht.
    Mike Savage: "Social Class in the 21st Century"
    Pelican, 480 Seiten, ISBN: 978-0-241-00422-7