Samstag, 20. April 2024

Archiv

Großbritannien
Überlebensstrategien des Landadels

Der britische Adel hat zwar immer noch seine Titel - aber zumeist nur noch wenig Geld. Viele Adlige müssen ihre Schlösser deshalb verkaufen. Einige haben jedoch Strategien entwickelt, die für ein regelmäßiges Einkommen sorgen. Auch die Familie Hart Dyke von Lullingstone Castle im Süden Englands konnte ihr Schlösschen retten.

Von Ruth Rach | 16.01.2015
    Außenaufnahme des im 15. Jahrhundert erbauten Lullinstone Castle in Kent (Oktober 2003).
    Lullingstone Castle, knapp 20 Meilen südlich von London, ist schon seit 20 Generationen im Besitz der Hart Dykes. (picture-alliance / dpa / Daniel Sambraus)
    Ein lauschiger See, ein verschwiegenes Wäldchen, eine prächtige Parklandschaft, eine uralte Schlosskapelle und ein englisches Herrenhaus. Lullingstone Castle, knapp 20 Meilen südlich von London, ist schon seit 20 Generationen im Besitz der Hart Dykes.
    Vor 14 Jahren drohte der Familie das finanzielle Aus. Die Kosten für die Renovierung und Reparaturen waren nicht mehr zu bewältigen. Ein Problem, das dem englischen Landadel wohl bekannt ist. Wie viele Schlossherren ist auch Guy Hart Dyke, 82, in erster Linie auf Besucher angewiesen:
    "Immer wieder werde ich gefragt, wie ich das ertrage, dass die Besucher durch Haus und Garten trampeln. Und dann sage ich: Nur ihnen habe ich es zu verdanken, dass wir überhaupt noch an diesem wunderschönen Ort wohnen."
    Ritterspiele oder milliardenschwere Mieter: So verdient der britische Adel sein Geld
    Mittelalterliche Ritterspiele, Antiquitätenmessen, Rennen mit alten Autos, für viele Schlossbesitzer sind solche Veranstaltungen eine notwendige Einkommensquelle. Manche vermieten sogar das ganze Schloss. Ausländische Milliardäre legen dem Vernehmen nach bis zu einhunderttausend Pfund pro Woche auf den Tisch und bekommen dafür ein authentisches britisches Schloss- und Jagderlebnis geboten, komplett mit nagelneuen Tweed-Outfits, Hauspersonal und Butler. Guy Hart Dyke hingegen trägt eine uralte Tweed-Jacke - und hat keinen Butler.
    "Wenn ich nach unseren Hausdienern gefragt werde, dann sage ich: Der eine steht vor Ihnen. Der andere ist meine Frau. Vor hundert Jahren gab es allein im Schloss noch über zwei Dutzend Bedienstete, aber die Zeiten sind vorbei. Einen Butler können sich nur noch die Fußballer leisten, und die reichen Chinesen."
    Die britische Aristokratie ist tot. Mit diesem Diktum sorgte der 12. Earl von Devonshire schon vor fünf Jahren für Aufregung. Der Adel habe keinen Einfluss mehr, sondern höchstens noch Titel. Und zumeist wenig Geld. An dieser Bemerkung sei etwas dran, findet Sarah Hart Dyke, die Schlossherrin von Lullingstone. Wenn sie die Besucher, die an Wochenenden in Haus und Garten strömen, höchstpersönlich herumführt, muss sie erst einmal daran arbeiten, Klassenvorurteile abzubauen:
    "Die Schlossherrin putzt und der Schlossherr mäht"
    "Sie sehen das große Haus, den Park, den See, und meinen automatisch, wir würden im großen Geld schwimmen. Dass wir uns jeden Tag abrackern, können sie sich gar nicht vorstellen. Erst, wenn die Besucher mitbekämen, dass die Schlossherrin das Haus selber putzt und der Schlossherr auch das Gras mäht, seien sie bereit, den Hart Dykes auf Augenhöhe zu begegnen."
    Gesellschaftliche Unterschiede hätten in ihrer Kindheit keine Rolle gespielt, betont hingegen Anya Hart Dyke, die Tochter des Ehepaars. Sie ging mit ihrem Bruder Tom auf die örtliche Grundschule. Am meisten habe ihren Schulkameraden imponiert, dass Anyas Eltern sehr liberal waren: In Lullingstone konnten sie sich nach Herzenslust austoben. Und das völlig unbeaufsichtigt. Im Wald. Auf dem See. Und im Schloss:
    "Einmal durchbohrte ein Jo-Jo ein uraltes Olgemälde. Aber meine Mutter war nie sauer: Sie hat Lullingstone Castle nie als 'stately home' betrachtet, wo man auf Zehenspitzen herum trippelt, sondern als ein 'family home', wo auch mal was zu Bruch gehen darf."
    "Von Überheblichkeit keine Spur"
    Auch hinsichtlich der schulischen Leistungen und Berufspläne ihrer Sprösslinge waren die Hart Dykes ungewöhnlich entspannt. "Sie haben uns nie unter Druck gesetzt, den Stammsitz zu übernehmen - obwohl Lullingstone schon seit dem 16 Jahrhundert in Familienbesitz ist", sagt Anya. Die Hart Dykes gehörten eben nicht zu den Leuten, die schon beim Mittagessen über ihre Vorfahren sprächen.
    Anyas Bruder Tom ging mit 17 von der Schule ab. Er ist für den Garten zuständig. Den "World Garden". Schon als Kind hatte er nur einen Berufswunsch: als "plant hunter" in der Welt herumzureisen, um seltene Pflanzen zu entdecken. Das birgt seine Risiken. Auf einer seiner Expeditionen wurde Tom entführt und fast ein Jahr lang von Rebellen im kolumbianischen Dschungel festgehalten. Dort schwor er sich, einen Weltgarten anzulegen, sollte er überleben.
    Inzwischen ist der "World Garden" die Hauptattraktion von Lullingstone. Er enthält tausende von Pflanzen, die Tom von seinen Reisen nach Hause gebracht hat und die er den Besuchern voller Begeisterung vorstellt. Viele kommen jedes Jahr, wie Patricia und ihr Mann James:
    "Eine reizende Familie, die Hart Dykes. Sie kümmern sich höchstpersönlich um ihre Besucher, von Überheblichkeit keine Spur."
    Das hat der uralte Adel auch nicht nötig, meint Patricia. Die Neureichen hingegen täten so, als wären sie etwas ganz Besonderes und müssten das allen Leuten unter die Nase reiben.