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Großbritannien und der Brexit
Gespaltene Wirtschaft, nervöse Märkte

Premierminister David Cameron will die EU reformieren, um Großbritannien in der Union zu halten. In der Wirtschaft sind die Meinungen zu einem Brexit, einem EU-Austritt, gespalten. Die Finanzmärkte hingegen reagieren bereits mit Kursverlusten auf ein geplantes Referendum.

Von Stephanie Pieper | 29.01.2016
    Die Flagge Großbritanniens und die der Europäischen Union
    Der "Brexit" - ein Austritt Großbritanniens soll mit einem Referendum beschlossen oder abgelehnt werden. (Facundo Arrizabalaga, dpa picture-alliance)
    Wenn der britische Premierminister mit seinem Dienstwagen den Regierungssitz in der Downing Street in London verlässt – oder wenn David Cameron mit dem Auto in Brüssel zu einem weiteren EU-Gipfel vorfährt, dann soll das möglichst wenig Lärm machen. Nicht politischen, sondern echten Lärm. Genau dafür sorgt Pritex: Die britische Firma entwickelt und produziert akustische Dämmstoffe für die Autohersteller. Ihre Kunden sitzen nicht nur in Großbritannien, sondern etwa auch in Deutschland. Daher mag sich Pritex-Chef Gareth Jones gar nicht vorstellen, dass sein Land aus der EU austritt:
    "Ohne Zweifel ist die EU ein wichtiger Markt für die Branche, 50 Prozent unserer Exporte gehen dorthin. Und gerade die Zuliefererketten sind quer durch Europa integriert. Bei Pritex ist inzwischen jeder dritte Beschäftigte kein Brite und die meisten davon kommen aus anderen Teilen Europas."
    Den europäischen Binnenmarkt und die Arbeitnehmerfreizügigkeit möchte Jones keinesfalls missen; so wie neun von zehn Mitgliedern des britischen Automobilverbandes für die weitere EU-Mitgliedschaft sind. Doch je kleiner eine Firma, je stärker auf den heimischen Markt ausgerichtet, desto eher klagt sie über die von der EU verursachte Bürokratie. Die britische Wirtschaft ist also gespalten. Alan Foster, Direktor beim Sportwagen-Hersteller McLaren, schreckt die Aussicht jedenfalls nicht, dass Großbritannien die EU verlassen könnte:
    "Wäre ein Brexit nun gut oder schlecht für uns? Ganz ehrlich: Ich kann Ihnen das heute nicht sagen. Bin ich besorgt wegen des Referendums? Nicht wirklich. Unser Businessplan für die nächsten drei Jahre steht, und den werden wir auch so durchziehen."
    Aber nicht nur die Realwirtschaft, auch die Welt des großen Geldes ist uneins in der EU-Frage. Es ist der Kampf der City of London, wo Banken und Versicherungen sitzen, gegen Mayfair, wo die Hedgefonds residieren. Die britischen – und auch die US-amerikanischen - Geldhäuser sind überwiegend pro-EU; Goldman Sachs etwa gilt als größter Finanzier der Kampagne "Britain Stronger In Europe". Einige Hedgefonds dagegen spenden ihr Geld an jene Gruppen, die weg wollen von Brüssel - weil sie sich davon weniger Regulierung versprechen. Für "Leave.EU" engagiert sich auch der Immobilien-Entwickler und Millionär Arron Banks, der den Euro und die EU für gescheitert hält:
    "Die wirtschaftlichen Probleme wurden verursacht durch eine politische Union, für die der Süden nicht bereit war. Die EU ist das Rezept für politisches Chaos, es wird immer schlimmer – und die Briten sind nur die ersten, die ausbrechen."
    Bank of England für EU-Verbleib
    Großbritannien als eine der größten Volkswirtschaften der Welt sei allein stärker, statt nur 1/28 zu sein im europäischen Klub, meint Banks. Noch halten sich viele Banker, Manager und Unternehmenschefs bedeckt; erst wenn Cameron einen EU-Reformdeal erreicht hat, und wenn der Termin für den Volksentscheid feststeht, werden sich wohl mehr nach vorne wagen. Zugleich warnt der deutsch-britische Europa-Abgeordnete David McAllister davor, das Werben für die EU als reines Elitenprojekt zu betreiben:
    "Wenn der Eindruck entsteht, das für Europa sich nur die Leute aus dem Big Business stark machen; wenn es nur um Banker geht aus der City of London, wenn's um große Unternehmenslenker geht, wenn's um Funktionäre geht, um Politiker – das alleine wird nicht reichen."
    Vielmehr müssten alle EU-Befürworter für jede einzelne Familie herunterbrechen, so McAllister, was die Mitgliedschaft bringt. Auf ihre Unabhängigkeit – auch in der Frage des EU-Referendums - pocht derweil die "Old Lady von der Threadneedle Street", die Bank of England. Notenbank-Chef Mark Carney lehnte sich im Herbst aber doch recht weit für Europa aus dem Fenster:
    "In vielerlei Hinsicht ist Großbritannien der größte Nutznießer der Römischen Verträge von 1957 – durch den freien Fluss von Waren, Dienstleistungen, Kapital und Arbeitskräften. Die EU hat die Dynamik der britischen Wirtschaft gestärkt durch die Schaffung des größten Binnenmarktes der Welt."
    Der britische Premier wird hoffen, dass sich der oberste Zentralbanker unmittelbar vor dem EU-Referendum so pro-europäisch äußert, dass ihn das Volk auch versteht. Je dichter das Referendum rückt, umso nervöser dürften die Investoren am Aktien- und am Devisenmarkt werden. Das Pfund Sterling hat gegenüber dem US-Dollar in den vergangenen Wochen bereits deutlich an Wert verloren. Die britische Währung leidet also schon unter der "Brexit"-Gefahr.