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Großbritannien und die EU
"Cameron will keinen Austritt"

Der britische Politologe Anthony Glees sieht im Streit um einen möglichen EU-Austritt Großbritanniens eine große Herausforderung für David Cameron. "Er muss die Möglichkeit eines Austritts anbieten, ohne den Austritt zu bewirken," sagte Glees im DLF. Denn Cameron selbst wolle, dass Großbritannien in der EU bleibe.

Anthony Glees im Gespräch mit Sandra Schulz | 29.05.2015
    Der britische Premier David Cameron diskutiert mit Bundeskanzlerin Angela Merkel im Garten von Schloss Meseberg bei Berlin.
    Da geht's lang: der britische Premier David Cameron und Bundeskanzlerin Angela Merkel (picture alliance / dpa / Fabrizio Bensch / Pool / Archiv)
    Cameron wolle allerdings Reformen - die er in der EU nur schwer werde durchsetzen können, so Glees. Auch werde es schwierig werden, den euroskeptischen Teil der britischen Bevölkerung gleichzeitig von Reformen zu überzeugen und davon, gegen einen Austritt zu stimmen. Die Befürworter eines Austritts teilten sich in zwei Meinungslager: Die einen glaubten, dass Großbritannien sowieso keine große Rolle in der EU spiele. Die anderen forderten, Großbritannien solle Abkommen mit einzelnen Nationen schließen, statt Mitglied in einer Union zu sein. Das ergibt laut Glees aber keinen Sinn. Insbesondere wirtschaftlich gebe es keinen Grund, die EU zu verlassen.
    Die Europäische Union bedürfe zwar Reformen. Diese würden jedoch nicht nur Großbritannien zugutekommen und das Land in der EU halten, meint Glees. Auch den anderen EU-Staaten "werden sie viel Gutes bescheren."

    Das Interview mit Anthony Glees in voller Länge:
    Sandra Schulz: Vor der Sendung habe ich den britischen Politikwissenschaftler Anthony Glees von der Universität von Buckingham gefragt, was genau David Cameron will?
    Anthony Glees: Was David Cameron will, ist eine politische Lösung zu einem großen Problem für ihn, für die Tories, aber auch inzwischen für die anderen Parteien in Großbritannien. Er will eine politische Lösung, denn Cameron selber würde sehr ungerne sehen, wenn Großbritannien aus der EU austräte. Das möchte er nicht. Und vor einigen Jahren hat er die beschrieben, die den Austritt haben wollen, als Verrückte, als völlig bekloppte Leute! Jetzt muss er die Möglichkeit eines Austritts anbieten, ohne jedoch den Austritt selber zu bewirken. Das wird für ihn sehr, sehr schwierig sein.
    Schulz: Ja, worum geht es denn bei den Reformen, die er vorschlägt? Geht es wieder – in Fragezeichen oder Klammern gesprochen – um eine Extrawurst für Großbritannien oder geht es wirklich um eine Reform, die für ganz Europa gut sein soll?
    Glees: Er sagt und er meint – und ich habe auch persönlich dafür Verständnis –, dass die Europäische Union als solche Reformen bedarf und dass die Reformen nicht nur Großbritannien in der Europäischen Union halten werden, sondern auch viel Gutes bescheren werden an die anderen EU-Mitglieder. Und ich glaube, das ist für David Cameron sehr, sehr wichtig.
    Aber wenn man versucht, ein bisschen präziser zu werden und Genaues von ihm verlangt, da gibt es zwar sehr große Sachen, zum Beispiel das, was in vielen Verträgen steht, dass die Staaten der Europäischen Union sich verpflichten zu einer immer enger werdenden Verbindung, dass diese Lösung vielleicht gestrichen werden sollte, jedenfalls dass Großbritannien sich außerhalb dieses Wortlautes halten wird. Aber das sind ganz große, weitschweifige Fragen.
    Und dann engere Sachen wie zum Beispiel, dass die Leute, die nach Großbritannien kommen müssen, nur nach Großbritannien kommen, um zu arbeiten, und dass sie erst nach vier Jahren Arbeit in Großbritannien dann Familiengeld, Kindergeld und Sozialgeld bekommen können.
    "Die Leute, die dagegen sind, für die wird keine Reform genügen"
    Schulz: Das, was Sie da gerade ansprechen, das sind ja die Einschränkungen der Arbeitnehmerfreizügigkeit, die Cameron will oder die er zumindest vorgeschlagen hat, möglicherweise anstrebt. Da geht es jetzt um die Grundfreiheiten der Europäischen Union. Die sind so was wie sakrosankt, um daran etwas zu verändern, müsste man auf jeden Fall an die Verträge heran. Gibt es eine Chance, dass sich David Cameron damit in der EU durchsetzen kann?
    Glees: Ich glaube, es wird für ihn sehr schwer sein, in der EU sich durchzusetzen. Es wird auch sehr schwer für ihn, die britische Bevölkerung für die Reformen, die er bestimmt ... Er wird bestimmt etwas bekommen. Aber ob es genug sein wird für die Briten, die euroskeptisch, besser gesagt eurofeindlich sind, ist auch sehr fragwürdig.
    Die Meinungsumfragen heute sagen: Zu 45 Prozent möchten die Briten in der EU bleiben, zu 35 Prozent austreten. Aber das kann sich so schnell ändern und die Meinungsumfragen waren sowieso bei unserer Wahl vor drei Wochen völlig falsch! Also, die Leute, die dagegen sind, für die wird keine Reform genügend sein. Und für die Leute, die auch mit geringen Reformen glücklich sein werden, die wären vielleicht nicht im nächsten Jahr oder übernächsten Jahr, wenn der Volksentscheid kommen soll, damit zufrieden.
    Also, es ist alles sehr, sehr fragwürdig, was kommen wird, das wissen wir. Die meisten Firmen zum Beispiel in Großbritannien, die großen Firmen wollen überhaupt nicht aus der EU austreten! Aber das, was Cameron haben möchte, ist sowieso sehr schwierig für ihn zu bestimmen. Denn Großbritannien steht sowieso außerhalb von vielem, was die anderen EU-Mitglieder machen. Wir sind schon einigermaßen ausgetreten! Und das wird ernst genommen von den europäischen Partnern.
    Schulz: Ja, oder Sie sind teilweise ja auch gar nicht eingetreten, wie zum Beispiel beim Euro.
    Glees: Genau.
    "Wenn etwas schief geht, dann ist die EU schuld"
    Schulz: Lassen Sie mich noch ein Wort aufgreifen, das David Cameron jüngst dem EU-Kommissionspräsidenten Juncker gesagt hat: Er hat gesagt, das britische Volk sei nicht glücklich mit Europa. Und das skizzieren Sie so ja auch. Warum eigentlich nicht?
    Glees: Es gibt viele Gründe, es gibt geschichtliche Gründe. Man kann zum Zweiten Weltkrieg zurückgehen, wenn man will. Unsere feinste Stunde war, 1940 außerhalb zu stehen und Nazi-Deutschland zu überwinden. Aber was vielleicht noch wichtiger ist: Die Leute müssen verstehen, dass seit den letzten fünf, sechs Jahren die Briten nur Schlimmes über die Europäische Union hören, nur Schlimmes. Wenn etwas schiefgeht, dann ist die EU schuld. Wenn etwas gut geht, dann ist es die nationale Regierung in Westminster, die das geschaffen hat.
    Schulz: Von wem hören sie das, von wem hören sie nur Schlechtes? Von UKIP?
    Glees: Von den politischen Führern, von UKIP, von ab und zu, das wechselt ab, manchmal sind die Tories EU-feindlich, manchmal sind es Labour. Vor den letzten Wahlen wollte Labour keinen Volksentscheid haben, jetzt hat Labour gesagt, sie begrüßen einen Volksentscheid. Und immerhin, bitte, das darf man nicht vergessen: Vier Millionen Briten haben für UKIP gestimmt. Ob alle, die für UKIP gestimmt haben, auch den Austritt unbedingt haben, ist fragwürdig.
    Man kann sehen, man kann lesen, dass so ungefähr 30 Prozent der UKIP-Wähler gar nicht aus der EU austreten wollen, aber vier Millionen Stimmen, das ist immerhin eine ganz große Menge. Und wenn man zu diesen Leuten in der UKIP die Leute in der konservativen Partei nimmt, die Angst vor diesen vier Millionen UKIP-Wählern haben, die auch austreten werden ... Es gibt da große Figuren, auch unser jetziger Außenminister Philip Hammond ist eher ein Euroskeptiker und eurofeindlich gesinnt als europafreundlich, würde ich sagen!
    Keinen wirtschaftlichen Grund für Austritt Großbritanniens
    Schulz: Jetzt müssen Sie uns noch sagen, was daran eigentlich so schlimm wäre, wenn Großbritannien aus der EU austreten würde!
    Glees: Wissen Sie, es gibt zwei Meinungen zu dieser Frage: Die eine Meinung ist, dass Großbritannien sowieso keine große Rolle in der Europäischen Union spielt. Also, es würde den anderen Europäern, aber auch den Briten an und für sich wenig ausmachen, ob wir drin wären oder draußen wären. Auf der anderen Seite gibt es die Leute, die sagen: Wenn man genau hinguckt, die Leute, die den Austritt wollen, sagen, statt der Europäischen Union müsse man eine andere Union haben, eine andere Assoziation. Und Großbritannien müsse dann von selber mit einzelnen Nationen, aber auch dann mit der Europäischen Union als solcher, Freihandelsverträge abzeichnen. Das würde Jahre dauern!
    Es gibt keinen Grund, weswegen es wirtschaftlich günstiger wäre für Großbritannien, außerhalb der Europäischen Union zu sein, als innerhalb. Und die Sachen, die wir nicht gerne haben, ja, die Freizügigkeit der Arbeiter ... Ich glaube, es gibt sehr viele Stimmen in Deutschland, in Frankreich, in Italien, die genau das hören wollen, was David Cameron dazu aussagt.
    Das ist der blaue Himmel für David Cameron, dass das, was er kriegt, gut genug ist, seine eigenen Skeptiker und die britischen Wähler mit sich zu ziehen, aber nicht so drastisch ist, dass es die Europäische Union als solche zerstören wird. Denn da haben wir auch kein Interesse dran in Großbritannien, auch Nigel Farage und UKIP sagen, er wolle nicht, dass die Franzosen und Deutschen zum dritten Mal in den Krieg gehen. Also, wir wollen nicht zu eng mit der Europäischen Union verbunden sein – aber das sind wir nicht!
    Schulz: Herr Glees, so oder so, wir bleiben auf jeden Fall im Gespräch! Herzlichen Dank an den Politikwissenschaftler in London, an Anthony Glees! Danke Ihnen!
    Glees: Gerne geschehen!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.