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Großbritannien und EU
"Das ist Öl ins Brexit-Feuer"

Der Grünen-Europapolitiker Sven Giegold warnt vor einer Drohrhetorik vor dem britischen Referendum über einen EU-Austritt. Äußerungen wie die von Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble zu den Folgen eines Brexits hätten die Briten noch nie beeindruckt, sagte Giegold im Deutschlandfunk.

Sven Giegold im Gespräch mit Peter Kapern | 13.06.2016
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    Giegold: "Das ist hier Öl ins Brexit-Feuer und nicht hilfreich" (Deutschlandradio)
    Schäuble hatte unter anderem mit Blick auf den EU-Binnenmarkt gesagt: "Drin heißt drin und raus heißt raus." EU-Ratspräsident Donald Tusk sagte der "Bild"-Zeitung: "Der Brexit könnte der Beginn der Zerstörung nicht nur der EU, sondern der gesamten politischen Zivilisation des Westens sein."
    Giegold erklärte, er finde diese "rhetorische Eskalation" nicht hilfreich. Die Briten könnten selbst entscheiden, Schulmeisterei sei nicht hilfreich. Letztlich werde es ein Weiter für die EU geben, auch wenn sich die Briten für einen Ausstieg entscheiden sollten. Giegold forderte statt einer Drohrhetorik ein klares Bekenntnis zu einem sozialeren Europa, zu mehr Demokratie und mehr Transparenz.

    Das Interview in voller Länge:
    Peter Kapern: Ein bequemer Partner war Großbritannien innerhalb der Europäischen Union nie. Das lässt sich schon anhand der Tatsache erkennen, dass der Begriff "Hand Bagging" in den allgemeinen englischen Wortschatz eingegangen ist und so viel bedeutet wie jemand anderen rüde behandeln. Die Wortschöpfung geht zurück auf Margaret Thatcher, die mit ihrer Handbag, mit ihrer Handtasche auf den Tisch geschlagen haben soll, um ihre Forderung zu untermauern, "I want my Money back". Aber das ist ja nicht alles, was Großbritannien zur EU beigetragen hat. Das Land ist wirtschaftlich stark, hat ein Bewusstsein für eine internationale Führungsrolle und wirkt als Medikament gegen die Eurosklerose, die von manchem veränderungsunwilligen kontinentaleuropäischen Land ausgelöst wird. Kann die EU also überhaupt ohne Großbritannien?
    In Brüssel am Telefon Sven Giegold, der Sprecher der deutschen grünen Abgeordneten im Europaparlament. Guten Morgen, Herr Giegold!
    Sven Giegold: Guten Morgen, Herr Kapern!
    Kapern: Herr Giegold, ich lese Ihnen mal ein Zitat vor des Ratspräsidenten Donald Tusk aus einem Interview in der "Bild"-Zeitung. Da hat er gesagt: "Der Brexit könnte der Beginn der Zerstörung nicht nur der EU, sondern der gesamten politischen Zivilisation des Westens sein." Geht es auch eine Nummer kleiner, oder hat der Mann recht?
    Giegold: Ja das habe ich mich, ehrlich gesagt, auch gefragt. Ich finde, diese rhetorische Eskalation ist nicht hilfreich. Schon die harten Worte von Herrn Schäuble waren nicht hilfreich und letztlich wird es natürlich auch ein Weiter für die EU geben, auch selbst dann, sollten sich die Briten bedauerlicherweise, wie ich finde, für einen Ausstieg entscheiden. Noch ist Zeit, dieses Szenario zu verhindern.
    "Schulmeisterei ist der falsche Weg"
    Kapern: Ist es denn hilfreich, dass Donald Tusk und Wolfgang Schäuble sich hier in Berlin oder in der "Bild"-Zeitung oder im Deutschlandfunk äußern, dass aber keiner dieser Top-Politiker der Europäischen Union sich auf der Insel in den Wahlkampf stürzt?
    Giegold: Zunächst mal: Diese Droh-Rhetorik aus Deutschland, "in is in, out is out", in Bezug auf den Binnenmarkt entweder ist man nun drin, oder man ist draußen, das ist so eine Droh-Rhetorik aus Deutschland von Herrn Schäuble, die hat die Briten noch nie beeindruckt und Gott sei Dank nicht in der Geschichte. Deshalb ist das hier Öl ins Brexit-Feuer und nicht hilfreich.
    Herr Schäuble war ja in London und hat dort entsprechend geredet. Allerdings haben die britischen Freundinnen und Freunde aus allen Parteien eigentlich übergreifend gesagt, dass jetzt große Kampagnen egal von wo aus Europa, liebe Briten, bleibt, dass das nicht hilfreich ist. Denn die Briten können selbst entscheiden und Schulmeisterei ist da, ehrlich gesagt, der falsche Weg.
    Kapern: Aber es sind nur noch zehn Tage, Herr Giegold. Es steht Spitz auf Knopf. In den Umfragen sind die Brexit-Befürworter an den Gegnern jedenfalls in den letzten Tagen leicht vorbeigezogen. Und die Abwesenheit der Junckers und Tusks muss doch den Eindruck erwecken, dass es der EU eigentlich Wurst ist, ob die Briten drin bleiben oder nicht?
    Giegold: Den Eindruck habe ich nicht. Ich glaube, die meisten Briten wissen, dass sich die meisten Partner in Europa wünschen, dass die Briten bleiben. Wir Grünen auch. Wir haben auch eine gemeinsame Konferenz durchgeführt als einzige deutsche Partei mit den britischen Grünen und das auch gemeinsam erklärt, unter Anwesenheit von Aktiven aus der Partei von vor Ort bis hin in die Bundesspitze. Das wissen auch die Freundinnen und Freunde in Großbritannien. Aber ihre Kampagne bei einem Referendum wollen sie doch alleine führen und das gebietet auch der Respekt, das zu akzeptieren.
    "Was Europa fehlt ist nicht nur Hirn, sondern auch Herz"
    Kapern: Ich hatte ja gerade die aktuellen Umfragen von der Insel angeführt. Dazu kommt, dass allein an diesem Wochenende britische Nobelpreisträger sich gegen den Brexit positioniert haben. Wissenschaftler, Wirtschaftswissenschaftler haben das getan, Unternehmen zu Dutzenden, alles dies in den letzten Tagen. Aber das alles ändert nichts: In den letzten Wochen haben die Brexit-Befürworter erst aufgeholt und dann die Brexit-Gegner sogar überholt. Warum?
    Giegold: Wenn in Großbritannien nur die Nobelpreisträger abstimmen dürften, dann wäre das Ergebnis klar für die EU. Was Europa fehlt ist nicht nur Hirn, sondern auch Herz. Europa hat bisher zu wenig gezeigt, dass es gerade auch den sozial Schwächeren hilft, dass es mit seinen Bildungsprogrammen wie "Erasmus" was Großartiges erreicht hat, auch diejenigen erreicht, die nicht studieren. Und es gibt leider auch bisher keine Antwort auf das, wie ich finde, zurecht empfundene Defizit an Demokratie- und Bürgerbeteiligung in Europa.
    Was mir eher fehlt ist weniger, dass jetzt europäische Politiker Werbung in Großbritannien für die eine oder andere Position machen. Was mir fehlt und auch bei den Einlassungen von Herrn Schäuble im "Spiegel", was mir dort fehlt ist ein klares Bekenntnis, dass wir verstanden haben, dass wir mehr soziales Europa und vor allem mehr Transparenz und Demokratie in Europa brauchen. Nur wenn es da einen Aufbruch gibt, können wir auch die Herzen der Bürgerinnen und Bürger erreichen.
    Mehr Transparenz und Demokratie in Europa erforderlich
    Kapern: Meinen Sie, dass sich das noch in den nächsten Tagen nach England transportieren lässt?
    Giegold: Ehrlich gesagt fürchte ich, dass das jetzt nicht mehr tragen wird. Das würde auch wie eine Panikreaktion wirken. Aber das Entscheidende ist: Was passiert nach dem Referendum? Unabhängig davon, ob die Briten sich für das Bleiben oder für das Gehen entscheiden, braucht Europa diese demokratischen und sozialen Reformen.
    Und was nicht akzeptabel ist, ist, dass selbst Proeuropäer wie Herr Schäuble offensichtlich auch mit Blick auf die schwierigen Entscheidungen im Bundestagswahlkampf - denken Sie an die Reaktionen etwa normalerweise der CSU, wenn man von mehr sozialem oder demokratischem Europa spricht - dann mit Blick auf solche Wahlkampfmanöver im Grunde man schon hasenfüßig ist und eine entsprechende Offensive für mehr Demokratie in Europa nicht mehr betreibt. Das hat mir bei den Äußerungen von Herrn Schäuble genauso wie von Herrn Juncker oder Herrn Tusk gefehlt, dieses Verständnis, dass den Menschen ein Europa mit so wenig oder mit so begrenzter Demokratie nicht genug ist.
    Kapern: Das heißt, die Antwort auf einen Brexit müsste lauten, die EU muss sich weiter vertiefen, obwohl ja auch im Rest der Europäischen Union die Europaskepsis immer stärker um sich greift?
    Giegold: Das wäre zu plump. Da gebe ich Herrn Schäuble schon Recht, einfach nur zu sagen, noch mehr vom gleichen, sondern es geht darum, dass wir da, wo wir Europa machen, es tatsächlich demokratisch machen. Und das fehlt vielen Bürgerinnen und Bürgern.
    Kapern: Können Sie das mal konkret machen? Was heißt das?
    Giegold: Damit meine ich, dass es nicht akzeptabel ist, dass die Bürger nicht wissen, wie sich ihr eigenes Land im Rat der Europäischen Union, also dem Rat der Mitgliedsländer positioniert hat. Es gibt Nachtsitzungen, da wird gekämpft, aber was dabei herausgekommen ist, wird zwar transparent, aber nicht, wie es zustande gekommen ist.
    Das mächtigste Gremium in der EU, nämlich der Rat, ist nach wie vor intransparent, während das Parlament nach wie vor bei wichtigen Fragen - denken Sie etwa an die Eurorettung - außen vor ist, und das stört die Bürgerinnen und Bürger, weil die Menschen mögen ihre Demokratie und wollen eher noch mehr Mitbestimmungsrechte als weniger. Es geht also nicht einfach darum, jetzt noch mehr Europa in allen Bereichen wahllos, sondern es geht darum, da wo wir Europa machen und gerade auch in den Bereichen, wo wir mehr Europa brauchen, da müssen wir es tatsächlich demokratisch machen.
    "Schäuble sagt das Richtige im falschen Ton"
    Kapern: Herr Giegold, Sie haben eben Wolfgang Schäuble mehrfach kritisiert für seine klaren alarmistischen Worte, "in is in, out is out". Andererseits muss man den Briten nicht die Illusion nehmen, man könne sozusagen austreten und dann trotzdem die ganzen Benefits der Europäischen Union noch weiter genießen? Da werden ja immer wieder die Modelle Schweiz und Norwegen genannt. Kann das funktionieren für Großbritannien?
    Giegold: Schäuble sagt das Richtige im falschen Ton, und dieser Ton ist es genau, der letztlich schon aus Stolz in Großbritannien eher eine Gegenreaktion auslösen muss. Sehen Sie, es ist ja richtig: Nachdem sich die Bürger dagegen entschieden hätten, wenn es dazu kommt in Großbritannien, die EU zu verlassen, dann wird man nicht einfach wie in Norwegen im Grunde alle binnenmarktbezogenen Gesetze eins zu eins kopieren können. Dieser Weg verschließt sich aus demokratischem Respekt. Umgekehrt zu drohen, dann gibt es im Grunde keinen Zugang mehr zum Binnenmarkt, in den scharfen Worten, ist nicht hilfreich, sondern Öl ins Feuer des Brexit.
    Giegold: Brexit wird "auf jeden Fall eine ganz schwierige Geschichte"
    Kapern: Wenn die Briten austreten, welches Land folgt als Nächstes?
    Giegold: Ich gehe erst mal nicht davon aus, dass dann ein weiteres Land folgt, sondern dann wird erst mal allen sichtbar werden, wie schwierig solche Austrittsverhandlungen sein werden. Das heißt, solche Verhandlungen werden zu Turbulenzen an den Finanzmärkten vermutlich beitragen.
    Es wird auf jeden Fall eine ganz schwierige Geschichte. Und deshalb glaube ich auch nach wie vor, dass sich die Briten am Ende pragmatisch wie sie sind für das Vernünftige entscheiden werden und auch das Richtige, nämlich in Europa zu bleiben.
    Kapern: Die Gefahr eines Dammbruchs sehen Sie nicht?
    Giegold: Nein! Das glaube ich, ehrlich gesagt, nicht. Denn nach wie vor ist die Logik für Europa sehr stark und in den allermeisten Ländern, wenn Sie die Umfragen anschauen, gibt es klare Mehrheiten für eine Zukunft in Europa. Das bedeutet allerdings, dass wir als Europäer - und der Meinung bin ich schon - dann reagieren müssen und zeigen müssen, dass wir verstanden haben. Da geht es nicht nur darum, wie bürokratisch Europa ist, sondern gerade auch, wie demokratisch und sozial es ist.
    Kapern: ... sagt Sven Giegold, der Sprecher der deutschen grünen Abgeordneten, heute Morgen hier im Deutschlandfunk. Herr Giegold, danke für das Gespräch, einen schönen Tag nach Brüssel.
    Giegold: Sehr gerne.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.