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Große alte Dame der deutschen Publizistik

Zeitgeschichte und Journalismus verbinden sich in Leben und Werk der Margret Boveri, die Heike B. Görtemaker in ihrer Biographie "Ein deutsches Leben" nachzeichnet. Eine Vita vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis in die sozialliberale Ära der deutschen Bundesrepublik - von 1900 bis 1975. Als Reporterin und Korrespondentin war Magret Boveri da, wo während des Zweiten Weltkrieges und später in der Konfrontation der Blöcke die Fieberkurve des Zeitalters gemessen wurde: in Berlin, Stockholm, Tokio, Washington, Lissabon.

Von Wolfgang Stenke | 19.07.2005
    "Ich hab’ meinen Doktor in Geschichte gemacht, bei Hermann Oncken. Ich würde mich eigentlich als Historikerin bezeichnen. Ob die heutigen Historiker mich noch als solche bezeichnen würden, das weiß ich nicht. Neuerdings ist das Wort Zeitgeschichte aufgekommen, die Historie der unmittelbar verflossenen Gegenwart, und ich würde sagen, Zeitgeschichtlerin bin ich schon."

    Zeitgeschichte und Journalismus verbinden sich in Leben und Werk der Margret Boveri. Eine Vita vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis in die sozialliberale Ära der deutschen Bundesrepublik - von 1900 bis 1975. Als Reporterin und Korrespondentin war sie da, wo während des Zweiten Weltkrieges und später in der Konfrontation der Blöcke die Fieberkurve des Zeitalters gemessen wurde: in Berlin, Stockholm, Tokio, Washington, Lissabon. Ihre Reportagen führten sie durch Amerika, Afrika und Asien - noch zu Zeiten, als eine im Auto alleinreisende Frau eine Rarität war. Nach 1945 setzte Margret Boveri ihre Karriere als weithin beachtete politische Publizistin fort: "Verrat im 20. Jahrhundert" oder "Wir lügen alle. Eine Hauptstadtzeitung unter Hitler" sind Buchtitel, die man immer noch nennt. Die Historikerin Heike Görtemaker hat es nun unternommen, dieses faszinierende Journalistenleben in einer Biographie kenntnisreich, faktengesättigt und kritisch darzustellen: "Ein deutsches Leben. Die Geschichte der Margret Boveri".

    Sucht man nach der politischen Essenz dieser Geschichte, dann stößt man auf den Nationalkonservatismus, der die Boveri von ihren Jugendtagen im wilhelminischen Kaiserreich bis in die sechziger Jahre begleitet hat und erst im Alter einer liberaleren Haltung gewichen ist. Die Wurzeln dieser Einstellung gehen zurück auf eine konfliktbeladene Familienkonstellation: Margret Boveri war das Kind eines deutsch-amerikanischen Gelehrtenpaares. Die Mutter, die Amerikanerin Marcella O’Grady, war eine der ersten Frauen, die Ende des 19. Jahrhunderts als Biologin das Massachusetts Institute of Technology absolvierte. In Würzburg lernte sie den deutschen Zellbiologen Theodor Boveri kennen - die erste ausländische Wissenschaftlerin an dieser Universität heiratete einen deutschen Ordinarius. Der Ehe opferte die Amerikanerin, die im provinziellen Würzburg ein Fremdkörper blieb, zunächst die eigene akademische Karriere. Doch ihre Tochter erzog diese aktive Frau zu Freiheit und Selbständigkeit.

    Margret litt unter den amerikanisch-pragmatischen Wertvorstellungen ihrer Mutter, fühlte sich mehr zum Vater hingezogen und dessen schöngeistigen Neigungen, die sie als "deutsch" empfand. In den Augen der Tochter verkörperten die Eltern gegensätzliche Prinzipien - ein Widerspruch, der sich während früher Aufenthalte in den USA vertiefte. Theodor Boveri starb bereits mit 53 Jahren zu Beginn des Ersten Weltkriegs. Schon damals optierte Margret Boveri für die Lebenswelt des Vaters und ihres Vormunds Wilhelm Röntgen - die Welt des nationalkonservativen wilhelminischen Bürgertums. Obwohl der journalistische Beruf sie in viele Länder führte, verstand sie sich Zeit ihres Lebens als deutsche Patriotin - nach dem Prinzip: "Right or wrong, my country!", die Verteidigung der nationalsozialistischen Herrschaft gegen Kritiker im In- und Ausland inbegriffen.

    Boveris Biographin Heike Görtemaker zeichnet diese Lebensgeschichte auf eine Weise nach, die dem Leser die Chance zu einem eigenen Urteil lässt. Der Entschluss einer begabten jungen Frau, promoviert von einem liberalen Historiker, kurz nach der Machtübernahme der Nazis in Deutschland die Journalistenkarriere einzuschlagen, wird nicht von wohlfeiler Kritik aus der Perspektive der Nachgeborenen begleitet. Aber die Fakten, die Görtemaker zusammenträgt, machen deutlich, dass Margret Boveri, die dank ihrer Herkunft über ein internationales Netzwerk von Kontakten verfügte, sich auch anders hätte entscheiden können. Schon damals war klar: Wer mit dem Teufel essen wollte, brauchte einen langen Löffel. Boveri als Expertin für internationale Politik glaubte der Herausforderung gewachsen zu sein. Sie war keine Nationalsozialistin und hoffte als Mitarbeiterin des "Berliner Tageblatts" und später der "Frankfurter Zeitung" eine unabhängige Position wahren zu können. Gleichwohl machte sie ihre Kompromisse mit dem Regime - bis hin zur Mitarbeit an Goebbels Renommierzeitschrift "Das Reich". Journalisten wie Sebastian Haffner oder Boveris Mentor und Chefredakteur Paul Scheffer entschieden sich anders: Beide gingen den Weg in die Emigration. Zu einer Zeit, in der die Welt das Deutschland der Olympiade bewunderte und Hitler bis 1938 im Zenith seiner außenpolitischen Erfolge stand. Die "Judenfrage" war damals für Boveri, die aus Stockholm berichtete oder durch den Vorderen Orient reiste, kein vordringliches Thema. Zu Hitlers Außenpolitik fiel ihr noch im August 1939 in einem Privatbrief ein, dass, wer so gut spiele wie er, auch ein Recht zu gewinnen habe. Die Vereinigten Staaten, die Heimat ihrer Mutter, beschrieb sie als Korrespondentin auf eine Weise, die auch Goebbels gefallen mochte - als ein hochtechnisiertes, aber geschichtsloses Land, normiert und standardisiert, das dem Vergleich mit deutscher Hochkultur nicht standhalten konnte.

    Margret Boveri war eine geradezu manische Briefschreiberin. Fast die gesamte Korrespondenz ist im Nachlass erhalten. Eine Quelle erster Ordnung sind Boveris Rundbriefe, mit denen sie ihre zahlreichen Freunde auf dem Laufenden hielt. Diese Beschreibungen und Reflexionen, die von den Korrespondentenplätzen Berlin, Washington, Stockholm oder Lissabon in die Welt gingen, bildeten das Rohmaterial, aus denen die Journalistin ihre Bücher komponierte. Boveris Blick auf die politische Lage wird darin ebenso gespiegelt wie redaktionsinterne Konflikte oder die Auseinandersetzungen mit den Zensoren im Reichspropagandministerium, die schließlich zur Einstellung der "Frankfurter Zeitung" führten. Als sie sich im Frühjahr 1945 dafür entschied, nicht vor der Roten Armee zu flüchten, sondern die Eroberung Berlins an Ort und Stelle abzuwarten, protokollierte sie die Ereignisse auf Postkarten und in Rundbriefen. Mehr als 20 Jahre später entstand aus diesen Aufzeichnungen das Buch "Tage des Überlebens".

    "Ich wollte es ja überhaupt nicht erscheinen lassen, solange ich am Leben bin, denn es ist kein Buch, sondern es war eine private Mitteilung an Freunde. Es ist alles so beschrieben, dass einige Leute nicht gerne haben, dass sie darin beschrieben werden. Ich hab ja einige Namen der schlimmeren Szenen mit den Russen auch verändert, sonst hätt’ ich’s nicht erscheinen lassen können."

    Als die "Tage des Überlebens" 1968 erschienen, war Margret Boveri dabei, ihren Frieden mit der ungeliebten Bundesrepublik zu machen. Gegen Adenauer und seine Politik der Westbindung hatte sie stets Front gemacht, alte Freunde wie Theodor Heuss stieß sie dabei vor den Kopf, weil sie ihnen unterstellte, sie hätten sich mit der Idee einer deutschen Zweistaatlichkeit de facto längst arrangiert. Im Alter aber erschien der Patriotin Margret Boveri die Ostpolitik von Brandt und Bahr als zukunftsweisender Entwurf, der irgendwann zur Überwindung der deutschen Teilung führen könnte. Zugleich knüpfte sie Kontakte zu jungen Autoren wie Hans-Magnus Enzensberger oder Uwe Johnson, die den saturierten CDU-Staat im Westen kritisierten. Von Johnson, der vor dem totalitären Regime der DDR geflohen war, ließ sie sich geradezu inquisitorisch über ihre journalistischen Kompromisse mit der Nazi-Diktatur befragen.

    Als Margret Boveri am 6. Juli 1975 in Berlin starb, hatte sie die Vereinigten Staaten, die Heimat ihrer Mutter, nach der Ausweisung im Jahre 1942 nie mehr wiedergesehen. Aber in ihrem politischen Denken waren die USA von der verhassten Besatzungsmacht zum "mächtigsten Verbündeten" und zum Garanten einer deutschen Friedenspolitik geworden. Auch diese Entwicklungslinie zeichnet Görtemakers Boveri-Biographie akribisch nach. Merkwürdig nur, dass sie den Beitritt der großen alten Dame des deutschen Journalismus zur linken Gewerkschaft IG Druck und Papier nicht verzeichnet. Und kein Wort verliert sie über die Ursache des Todes der großen alten Dame der deutschen Publizistik. Nur ihre Krebserkrankung wird irgendwo erwähnt. - Wie auch immer: Vielleicht verhält es sich mit Journalisten wie mit alten Soldaten - sie sterben nicht, sondern verschwinden ganz einfach. Eine so kantige Figur wie Margret Boveri hat die deutsche Presselandschaft seither nicht wieder hervorgebracht.

    Heike B. Görtemaker: Ein deutsches Leben
    C.H. Beck Verlag