Freitag, 19. April 2024

Archiv


Große Generationen-Saga

Carsten Jensen erzählt eine Saga einer Seefahrer-Familie Dänemarks, von Freud und Leid der Männer in See und der daheim gebliebenen Frauen und Kinder. Ein Heimatroman, raffiniert auf der Klaviatur der Effekte spielend - ohne dass man dies Jensen übel nimmt.

Rezensiert von Christoph Bartmann | 16.02.2009
    Carsten Jensen ist in Dänemark bekannt und bei manchen auch gefürchtet als streitfreudiger linksliberaler Intellektueller, der sich gern in den tagespolitischen Nahkampf begibt und dabei ordentlich austeilt – vor allem in Richtung der Nationalpopulisten, die das wahre Dänentum gern gegen Überfremdung verteidigen möchten. Auch als Romanautor ist Jensen hervor getreten, aber ein Werk wie das in Dänemark vielfach preisgekrönte und vom Publikum begeistert aufgenommene Epos "Wir Ertrunkenen" hatte man von ihm nicht erwartet. Denn dieser monumentale Seefahrer- und zugleich Heimatroman erzählt nicht ohne Patriotismus und Sentimentalität die Geschichte eines ganzen Volkes. Vielleicht wollte Carsten Jensen einmal wirklich den Geschmack eines nach nationaler Erbauung lechzenden Leserpublikums treffen, vielleicht wollte er auch nur den Rechten das Privileg des Zugriffs auf Heimat und Volk entreißen. Wie auch immer, die Dänen haben sich in Jensens Gemälde offensichtlich wiedererkannt.

    Der Roman führt auf die kleine Insel Ärrö in der dänischen Ostsee, genauer in die Inselhauptstadt Marstal, wo Jensen 1952 geboren wurde – als Abkömmling von Seefahrern, denn in Marstal sind, wie wir erfahren, alle Männer Seefahrer gewesen. Aus lokalen Archiven, aus alten Zeitungen und Gesprächen mit der Bevölkerung hat Jensen die Geschichte Marstals zwischen 1848, dem Jahr des ersten Deutsch-Dänischen Krieges, und 1945 rekonstruiert und eine große Generationen-Saga in Szene gesetzt. Das ist beeindruckend in der Fülle des Wissens, in der Vielfalt der Schauplätze und der Begebenheiten, aber der Form und dem Erzählton nach eine Reprise. So hat schon im 19. Jahrhundert erzählt, oder richtiger, so hätte man erzählt, wäre damals schon der magische Realismus verbreitet gewesen. Es ist der magische Realismus, der Garcia-Marquez-Ton also eher als der Stevenson-Ton, von dem Jensen zehrt. Erkennbar wird dies gleich im allerersten Satz: "Laurids Madsen war im Himmel gewesen, doch dank seiner Stiefel war er wieder heruntergekommen." Damit ist der Grundton des Romans angeschlagen, das Fantastische, Übersinnliche, das auch vom Titel des Romans bekräftigt wird. "Wir Ertrunkenen", damit sind Söhne Marstals gemeint, die in Ausübung ihres maritimen Berufs ertrunken sind und die nun, im Chor gleichsam, den allwissenden Erzähler abgeben. Auch das kennt man, etwa von Lobo Antunes, wie überhaupt man bei Jensen häufiger das Gefühl hat, im Handwerklichen dies oder jenes zu kennen. Auch was die Erzähltechnik angeht, hat sich Jensen, wie es scheint, und herausgekommen ist ein Buch, das beschlagen und versiert wirkt, aber nicht wirklich originell.

    Wenn Jensen in seinem Roman ein Epos der Dänen hat schreiben wollen, dann fußt dies auf zwei Grundaussagen. Erstens: die Dänen sind ein Seefahrervolk, pragmatisch, wetterfest und dem Handel nicht abgeneigt. Und zweitens: in Dänemark regieren, auch wenn oder gerade weil die Männer zur See fahren und Geschäfte machen, die Frauen. So betrachtet, hat Jensen vielleicht wirklich ein sozialliberales Nationalepos geschrieben: Er beschreibt die Dänen als weltoffen und die Däninnen als emanzipiert. Ausgeführt wird dies am Schicksal der Marstaler Dynastie der Madsens. Laurids Madsen, der Mann, der vom Himmel wieder zurück in seine Stiefel fiel, obwohl ihn eine deutsche Kanone in der Eckernförder Bucht getroffen hatte, hat es im weiteren Verlauf seiner Seemannslaufbahn in die Südsee verschlagen, wo er eine Zweitfamilie gegründet und den Schrumpfkopf von James Cook in seinen Besitz gebracht hat. Albert Madsen, sein Sohn, gelangt nach manchen Abenteuern auf seine Spur, kehrt dann aber, anders als der Vater, in die Heimat zurück und baut ein Schiffsimperium auf. Im Alter erwärmt ihm ein siebenjähriger Junge, Knud Erik, das Herz, und bald darauf fasst Albert Zuneigung zu dessen Mutter, zu Klara Friis. Kaum sind die Beiden ein Paar, stirbt Albert, und Klara bleibt zurück mit ihrem Sohn und einem Erbe aus Geld und Handelsschiffen. Zu Alberts Lebzeiten hatte sie verzweifelt versucht, den unheilvollen Drang von Marstals jungen Männern zu Meer und Schiffen zu bremsen. Nun, als Marstals mächtigste Reederin will sie, wenn sie schon gegen Fernweh und Abenteuerlust nichts auszurichten vermag, das Geschäft fortan wenigstens selbst steuern. Darauf also ist Marstals lang anhaltender Wohlstand gegründet: auf dem Draufgängertum der Männer und auf der Umsicht der Frauen. Und letztlich der Wohlstand Dänemarks, auch wenn dieser in den Zeiten, von denen dieser Roman nicht mehr erzählt, nicht mehr allein von der maritimen Ausbeute abhängt – wohl aber von den Tugenden, deren Loblied Jensen singt.

    So gesehen hat Jensen dann zwar einen Heimat- und Nationalroman geschrieben, aber einen, der den Gedanken an eine Essenz des Dänischen, an eine Verwurzelung im Eigenen gar nicht erst aufkommen lässt. Hier ist niemand verwurzelt, hier sind alle, erst die Männer und irgendwann auch die Frauen, ständig unterwegs, und während die besten Söhne von Marstal auf den Weltmeeren kreuzen, herrscht daheim zwar ein muffiger, von Lehrern und Pastoren geprägter Biedersinn, aber auch nur solange, bis wieder ein Schiff anlegt, und neue Fracht und neue Kunde von anderen Weltgegenden und Lebensweisen an Land bringt. Wo ein Hafen ist, dort kann gar keine Provinz sein, und wo der Kantische Geist der Geschäftigkeit und somit auch der Aufklärung regiert, da haben es fest etablierte Sitten und Gebräuche schwer. Die Seefahrer von Marstal sind frühe Helden der Globalisierung; so bindungslos und flexibel wie sie muss manch ein Landmensch von heute erst noch werden. Sehr anschaulich zeigt Jensen diese Lebensweise, und wirkungssicher erzählt er in einem Jahrhundert der Geschichte von Marstal ein Jahrhundert Weltgeschichte und ein Jahrhundert Schifffahrtsgeschichte mit. Und ganz am Ende kommen sie alle nach Hause, die Lebenden und Toten, wie man es in einem Historienroman wie diesem nicht anders erwarten darf, und

    "Teodor Bager war dabei und hielt wie immer die Hand auf das Herz gepresst; mit dabei war Henning, einst der hübscheste Kerl auf der Hydra mit seinem hellen Haar und der Stirnlocke, die Knud Erik geerbt hatte; mit dabei war die unermüdliche Anna Egidia und ihre sieben toten Kinder – sie schlossen sich der noch lebenden Tochter in unserem Tanz an."

    Ja, Carsten Jensen kann auf der Klaviatur der Effekte spielen, ohne dass man es ihm wirklich übel nähme.

    Carsten Jensen: Wir Ertrunkenen. Roman. Aus dem Dänischen von Ulrich Sonnenberg. Albrecht Knaus Verlag, München 2008. 784 S., Euro 24, 95