Dienstag, 23. April 2024

Archiv


Große Lücke

Ökologie. - Große Fleisch- oder Pflanzenfresser stehen in vielen Ökosystemen am Ende der Nahrungskette und scheinen von dort großen Einfluß auf deren Struktur zu haben. Eine großangelegte Studie zeigte jetzt in "Science", dass das Verschwinden der Großtiere auch starke negative Folgen für den Rest der Lebensgemeinschaft hat.

Von Lucian Haas | 15.07.2011
    Löwen, Wölfe, Haifische oder Killerwale – solche großen Raubtiere bilden in ihrem Lebensraum jeweils die Spitze der Nahrungspyramide. Die breite Basis dieser Pyramide sind die Pflanzen, darüber kommen die Pflanzenfresser, und am oberen Ende die großen Fleischfresser. Zahlenmäßig fallen die Raubtiere kaum ins Gewicht, weshalb Forscher bisher bei Studien über die Zusammenhänge und Einflüsse in den Nahrungspyramiden meist nur auf Auswirkungen von unten nach oben geachtet haben. Doch Ökologen wie James Estes von der University of California fordern nun zum Umdenken auf. Neuen Erkenntnissen nach geht von den großen Räubern ein so prägender Einfluss aus, dass er sich wie ein Domino-Effekt auf alle tieferen Ebenen eines Ökosystems auswirkt. Die Forscher nennen das die trophische Kaskade.

    "Die trophische Kaskade kehrt alles um. Sie bedeutet, dass die Raubtiere die Population der Pflanzenfresser regulieren, was wiederum die Verbreitung der Pflanzen beeinflusst und so weiter und so fort."

    In der Science-Studie liefert Estes gemeinsam mit 23 Koautoren viele Beispiele dafür, wie stark und negativ sich der Rückgang der Raubtierpopulationen in der Natur bemerkbar macht. Ohne Wölfe im Yellowstone-Nationalpark vermehren sich etwa Elche so stark und fressen so viele junge Birkentriebe, dass sich die Wälder entlang der Flüsse gar nicht mehr regenerieren können. Fehlen Seeotter an der Pazifik-Küste, nehmen die Seeigel im Meer überhand und vernichten ganze Unterwasserwälder von Seetang, eine der wichtigsten Nahrungsgrundlagen für viele weitere Tiere. Dort wo Haie stark bejagt werden, steigt die Zahl der Rochen, die dann wiederum weitflächig die Muschelbänke vernichten. Bisher hatten Biologen solche Beobachtungen nur als interessante lokale Einzelfälle gesehen. Doch in der Summe zeigt sich eine ökologische Regel, die globale Dimensionen erreicht:

    Die großen Raubtiere und zudem die großen Pflanzenfresser wie Elefanten oder Wale, die keine Fressfeinde mehr haben, prägen weltweit das Bild der Natur. Der Mensch ist sich dessen aber kaum bewusst. Und weil er zudem die Raubtiere schon seit langem immer weiter verdrängt, fällt es selbst Forschern heute schwer, das ganze Ausmaß der Folgen zu überblicken. Estes:

    "Das Problem ist, dass diese Tiere schon fast überall auf der Welt verschwunden sind. Deshalb sind die Auswirkungen, die sie einst hatten, heute nicht mehr so offensichtlich. Nur in den Fällen, wo wir historische Aufzeichnungen haben, können wir überhaupt abschätzen, wie wichtig sie sind."

    James Estes sieht die Ergebnisse der Studie als Herausforderung für den Naturschutz. Die Menschen sollten sich nicht mehr nur aus emotionalen Gründen für die Rettung von Wölfen oder Tigern einsetzen, sagt er. Genauso wichtig sei die Erkenntnis, dass der Erhalt dieser Tiere letztendlich der Menschheit zugute kommt. Zum Beispiel könnten Raubtiere sogar das Auftreten bestimmter Krankheiten wie Malaria oder Borreliose regulieren.

    "Im Nordosten der USA gibt es eine lang anhaltende Borreliose-Epidemie. Die Menschen versuchen zu verstehen, warum es diese Krankheit überhaupt gibt und was sie tun können, um sie einzudämmen. Nun zeigt sich, dass der Verlust der Raubtiere in diesem Ökosystem einer der zentralen Faktoren ist, die zu der Epidemie beigetragen haben. Ohne Raubtiere gibt es mehr Wild in den Wäldern. Rehe und Hirsche wiederum sind die Wirte der Zecken, welche die Krankheit übertragen. So kann man sagen: Auf der Welt geschehen Dinge, die viel für das Wohlergehen der Menschen bedeuten, und die möglicherweise mit diesen großen Tieren zusammenhängen."

    Noch mangelt es häufig an Wissen über solche komplexen Zusammenhänge. Eins ist für James Estes aber klar: Wenn die großen Raubtiere noch weiter verschwinden, wird die Welt eine völlig andere sein.