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Große Reportagen
Albert Londres - Star seiner Zunft

Die große Reportage ist eine aussterbende Gattung. Dabei haben gute Reportagen ein Nachleben; die besten landen zwischen Buchdeckeln und sind auch nach Jahrzehnten noch lesenswert. So ergeht es drei Texten von Albert Londres, die zum Teil erstmals ins Deutsche übersetzt wurden.

Von Martin Ebel | 27.05.2014
    Zwei Juden, die sich in einem Haus versteckt hatten, werden von SS-Soldaten gefangen genommen. Die Aufnahme entstand während des Warschauer Ghetto-Aufstands, der vom 19. April 1943 bis zu seiner blutigen Niederschlagung am 16. Mai 1943 dauerte. Die Nationalsozialisten hatten ein Jahr nach der Besetzung Polens im November 1940 in Warschau ein Ghetto errichtet und dorthin annähernd eine halbe Million Juden verschleppt. Zwischen Juli und September 1942 wurden 300 000 Opfer in den Todeslagern, die meisten in Treblinka, ermordet. Als am 19. April 1943 die SS mit der Verschleppung der restlichen 60 000 Ghetto-Einwohner begann, leisteten mehrere hundert militärisch organisierte Juden bewaffneten Widerstand. Bei den Kämpfen wurden etwa 14 000 jüdische Aufständische getötet.
    In seiner zweiten Reportage dokumentiert Londres die Lage der hungernden und diskriminierten Juden in Osteuropa im Jahr 1929 - 12 Jahre vor Beginn des Holocaust. (picture alliance / dpa)
    Sie stammen aus einer anderen Epoche: die erste, "China aus den Fugen" aus dem Jahr 1922, zeigt das Land der Mitte in Chaos und Bürgerkrieg versunken. In der zweiten, "Ahasver ist angekommen" aus dem Jahr 1929, träumen die hungernden Juden Osteuropas vom gelobten Land, wo wiederum wenige Siedler sich einer feindlichen arabischen Übermacht gegenüber sehen. "Perlenfischer" schließlich, die dritte, zeigt Dubai als ein heruntergekommenes Piratennest: Wir schreiben das Jahr 1930. Ferne Zeiten, für uns herangezoomt durch die drei klassischen Qualitäten eines Reporters: Präsenz, Aufmerksamkeit und Stil. Londres ging dahin, wo etwas los war und andere nicht so leicht hinkamen, weil es schwierig, umständlich oder gefährlich war. Er schaute genau hin und hörte aufmerksam zu. Und er konnte, was er sah und hörte, in suggestive sprachliche Bilder und Szenen umsetzen.
    Albert Londres war ein Star seiner Zunft, der sich seine fürstlichen Honorare, seine Privilegien und Allüren hart erarbeitet hatte. Angeblich reichte er auch Spesenrechnungen ein, die so lauteten: "Sie war blond, 400 Francs". 1886 in Lyon geboren, begann seine journalistische Karriere im Ersten Weltkrieg mit einer Reportage über die von den Deutschen in Brand geschossene Kathedrale von Reims. 1920 reiste er als einer der ersten in die junge Sowjetunion und sagte ihr, fern vom Enthusiasmus künftiger "fellow travellers" des Kommunismus, eine bürokratische Zukunft voraus. Er traf Gandhi in Indien und Sträflinge in Französisch-Guyana. Er recherchierte über Mädchenhandel in Südamerika und über unmenschliche Zustände in Strafbataillonen und Irrenhäusern. Er schrieb aber auch über Doping bei der Tour de France. Eine Reportage über die organisierte internationale Kriminalität konnte er nicht mehr zu Papier bringen: Das Schiff, auf dem er von Shanghai zurück nach Frankreich fuhr, ging im Roten Meer in Flammen auf, unter den Toten war auch Albert Londres.
    "Er war ein Reporter und nichts als das", hatte Kurt Tucholsky über ihn geschrieben und gemeint: ohne Sendungsbewusstsein und ohne ideologische Voreingenommenheit. Tucholskys Satz ist zum Titel dieses Bandes geworden. Londres selbst hatte sein journalistisches Credo folgendermaßen formuliert: "Il faut porter la plume dans la plaie", man muss die Feder in die Wunde legen. Eine poetische Wendung, wie überhaupt die Lektüre der Reportagen oft vermuten lässt, hier habe ein verhinderter Schriftsteller die Feder geführt. Aber der französische Journalismus hatte immer und hat heute noch eine starken literarischen Ehrgeiz, der nicht immer zu höherer sprachlicher Qualität führt. Auch bei Londres muss man sich an den forcierten Einsatz rhetorischer Mittel, etwa den oft abrupten Wechsel im Satzrhythmus gewöhnen; an manches gewöhnt man sich auch nicht.
    Londres selbst gewöhnte sich niemals an Unrecht und Elend auf der Welt; der Zynismus, dem viele Kollegen anheim fallen, die an Unrecht und Elend nichts ändern können, aber gut daran verdienen, gewann nie Herrschaft über ihn. Alternativ entwickelte er eine gewisse Nonchalance, die ihm half, auch die schrecklichsten oder absonderlichsten Situationen zu bewältigen. Etwa das komplette Chaos in China mit seinen rivalisierenden Warlords und ihren Banden, in dem wie bei Schiller "alles rennet, rettet, flüchtet", das aber auch ohne zentrale Herrschaft irgendwie funktioniert. "Das Geschäft braucht Kunden und keine Regierung", wie es ein Händler ausdrückt. Auch beim Interview mit dem gefürchteten und grausamen Zhang Zuolin zuckt Londres nicht mit der Wimper, obwohl jede Frage auch die letzte sein könnte.
    Londres weitere Reportagen
    Herzzerreißend lesen sich die beiden anderen Reportagen, beides lange Stücke von über 100 Seiten. In der einen sucht er die osteuropäischen Juden in ihren Dörfern und Ghettos auf, wo sie erbärmlich hungern, diskriminiert und drangsaliert werden. Die einen träumen von Palästina, die anderen vom Messias; was kommen wird, ist der Holocaust. Im letzten Stück schildert Londres das traurige Los der Perlenfischer im Persischen Golf: Sie ruinieren ihre Gesundheit in mühsamen, gefährlichen Tauchgängen, für die Aussicht auf ein paar Rupien. Mit 30 sind sie vielfach taub, blind, verstümmelt, am Ende. "Gedenken Sie ihrer, meine Damen", kommentiert Albert Londres, "wenn Sie Ihre Halsketten anlegen."
    Albert Londres: "Ein Reporter und nichts als das."
    Aus dem Französischen von Petra Bail und Dirk Hemjeoltmanns, "Die Andere Bibliothek", Berlin 2013, 458 Seiten, 38,00 Euro