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Grotesk! 130 Jahre Kunst der Frechheit

"Das Groteske ist die überkurbelte Realität" erklärt Otto Flake in den zwanziger Jahren die groteske Sicht auf die Gebrechen dieser Welt. Dreht man die Kurbel aber nur ein wenig langsamer, so enthüllt die skurrile Fratze das ungeschminkte Gesicht der Realität. Der Katalog "Grotesk! 130 Jahre Kunst der Frechheit" von Pamela Kort erscheint im schreiend gemusterten Kleid zur Vorstellung: das Titelbild ziert eine Filmszene von Ulrike Ottinger. Sie zeigt vor einer Mauer den martialisch bemalten "Boten der Inquisition". In grelles Licht getaucht schwenkt eine männliche Figur, die einen Dogge führt, eine Fahne. Diese ist ebenso wie ihr eigener, gedrungener Körper mit dem auffälligen Muster des Hundefells schwarz-weiß bemalt.

Andrea Gnam | 01.09.2003
    Das Titelbild nimmt in provozierender Hässlichkeit vorweg, wovon in den zwölf Aufsätzen die Rede sein wird. Das Buch handelt von der karnevalesken wie der diabolischen Seite des Grotesken. In seiner Janusköpfigkeit kann es Scherz sein, aber in seiner Derbheit auch erschrecken. Offensive Sexualität und die Konzentration auf tabuisierte Körpervorgänge sind Gegenstand des grotesken Bestiariums. Unbekümmert um Naturwahrheit und Plausibilität entsteigen monströse Phantasiegestalten einem ästhetischen Umfeld, das sich in den schönen Künsten den formvollendeten Menschen zum Maßstab gesetzt hatte.

    Der Begriff "Groteske" wird erstmals in der Renaissance zur Bezeichnung des ornamentalen Wandschmucks verwendet, der im ausgehenden fünfzehnten Jahrhundert bei Ausgrabungen einer römischen Villa zum Vorschein kommt. Lange Zeit ist die Groteske eine Unterart des Ornaments, das in der Hierarchie der klassischen Künste an untergeordneter Stelle steht. Bereits Vitruv verurteilt in seiner Abhandlung zur antiken Architektur die "unbillige Mode" seiner Zeit lieber Monstren als klare Abbilder der dinglichen Welt an die Wand zu malen: "Denn wie kann ein Stengel in Wirklichkeit ein Dach tragen oder ein Kandelaber den Schmuck eines Giebels, wie eine so zarte und schwache Ranke eine darauf sitzende Figur, und wie können aus Wurzeln und Ranken Wesen herauswachsen, die halb Blume halb Figur sind?" fragt Vitruv.

    Der Aufsatz von Frances S. Connelly, dem dieses Zitat entnommen ist, beschäftigt sich mit der Geschichte der Groteske bis 1800. Am Ende des Buches platziert, ist er doch zugleich der instruktivste Beitrag. Connelly verfolgt die Traditionslinie der phantastisch-grotesken Symbolik, die sich seit ihrer Wiederentdeckung in der Renaissance über Wandmalereien italienischer Künstler im Europa des 16. Jahrhunderts in den dekorativen Künsten etabliert. Mit der Aufklärung verschwindet dieser volkstümliche Zug in der Kunst, von dem sich auch die Figuren der Commedia dell'arte genährt hatten. Die Karikatur nimmt deren kritische Funktion in der Massenbelustigung ein. Sie ist dem rationalen Zeitalter weitaus zugänglicher und gründet, wenn auch unter Überbetonung eines hervorstechenden Details, in der Nachahmung der Natur. Die Groteske indes bleibt ein Kind der Einbildungskraft. Sie enthält aber eine moralische Dimension und fordert den Betrachter zur Stellungsnahme auf.

    Der Schwerpunkt des Katalogs, der reich und in hervorragender Qualität bebildert ist, liegt allerdings auf der Kunst des ausgehenden 19. und 20. Jahrhunderts. Die Beiträge überschneiden sich allzu oft in der Zitation ihrer Gewährsmänner und eilig dargebotenen historischen Herleitungen. Das explizit formulierte Anliegen der Herausgeberin ist es, groteske Darstellungsformen als einen anderen Weg in die Moderne zu verstehen und so einen wesentlichen Traditionsstrang der Gegenwartskunst aufzuzeigen. Die Kunst der Kombinatorik heterogener Elemente, die Entfernung von der Naturvorgabe, aber auch ihr moralischer Anspruch die realistische Darstellung einer entstellten Wirklichkeit zu sein, prädestiniert die Groteske dazu, als Vehikel für zeitgenössische gesellschaftskritische Themen zu dienen.

    So lässt sich der Bogen weit spannen: von Arnolds Böcklins trostloser Antike zu Alfred Kubins bedrängenden Szenarien und den dadaistisch-politischen Montagen Hannah Höchs. Paul Klees Serien von bedrohlich-traurigen Zwischenwesen in den "Interventionen", mit der er die 1. Ausstellung der Münchner Sezession bestückt hat, gesellen sich zur politisch verfolgten Kabarettbewegung der Weimarer Republik. Auch die Aktionskunst von Fluxus in den sechziger Jahren, Arnulf Rainers aggressive Porträts und Martin Kippenbergers schrilles Universum lassen sich so unter dem Begriff des "Grotesken" subsumieren. Welche Einsichten aber vermitteln sich dem Leser bei seiner Begegnung mit der derart vielgestaltigen Einwohnerschaft des hier präsentierten grotesken Kosmos? Was in der visuellen Präsentation einer Ausstellung durchaus überzeugen mag, bricht in den nur unzureichend koordinierten Aufsätzen unter der Last der Vielfalt zusammen: die Beiträge werfen kurze Schlaglichter, begnügen sich aber in der Regel mit einer Aneinanderreihung von Bildbeschreibungen und der Beschwörung der immergleichen Analysen aus dem nicht sehr umfangreichen Fundus der wissenschaftlichen Forschung zur Groteske.