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Grotesker Alltag in Italiens Provinz

Der "Erzähler aus der Ebene", der italienische Autor Gianni Celati, beschreibt in seinem Roman "Was für ein Leben" den Alltag der Italiener - mit all seinen Eigenarten, Verrücktheiten und Sonderbarkeiten. Groteske Helden und Träumer treffen auf vollbusige Geschäftsfrauen, Sonderlinge und Spinner: ein Reigen von Kleinstädtern, die versuchen, sich aus der Misere des Alltags zu befreien.

Von Wolfram Schütte | 03.04.2009
    Beiläufigkeit und Verwilderung eines absonderlichen Erzählens zeichnet die Prosa Gianni Celatis aus. Der 1937 in Sondrio, im lombardischen Veltlin, geborene Schriftsteller ist bei uns als "Erzähler der Ebenen" bekannt geworden. In dem 1986 bei Wagenbach erschienen gleichnamigen Band von lakonisch-surrealen Erzählungen aus der Po-Ebene, hat er einen flirrenden Ton angeschlagen, der in der Vielstimmigkeit der zeitgenössischen italienischen Literatur einen eigenen Klang besaß und ihn auch behielt, als Celati den scheinbaren Regionalismus seiner erzählerischen Stoffe in einer weiteren Sammlung 2001 mit dem Titel "Cinema naturale" transzendierte.

    Eben sind sieben neue Erzählungen erschienen, die unter dem seufzenden Rubrum "Was für ein Leben!" nun "Episoden aus dem Alltag der Italiener" vor uns ausbreiten, wie der Untertitel der Sammlung ironisch annonciert.

    Wenn man sie mit Vergnügen und mancher amüsanten Irritation gelesen hat, wird man den Eindruck nicht los, dass der knapp siebzigjährige Autor sich den literarischen Spaß erlaubt hat, sich als Autobiograf zu inszenieren. Er lässt einen nach Lust und Laune und gewissermaßen über Stock und Stein an der erinnernden Ausgrabung und der sehenden Auges vorgenommenen literarischen Zurichtung seiner schulischen, familiären, städtischen Vergangenheit in den Fünfziger Jahren siebenfach teilnehmen.

    Das geschieht nicht selten in einem Stil, der die Anekdoten und Episoden aus dem Leben seiner grotesken, tragikomischen Helden und Heldinnen auf dem Weg ihrer Lebensbewältigung aufgezeichnet hat, wie sie Celatis mündlichem Memorieren entsprächen. Es ist ein lückenhaftes und sprunghaftes Erinnern.

    Was wie lässiges Improvisieren erscheint, folgt aber literarischem Kalkül und Spieltrieb. Beides bietet dem über Joyce einst promovierten, zeitweiligen Englisch-Professor Gianni Celati eine Vielzahl von literarischen Möglichkeiten, seine Erinnerungen mit seinen Fiktionen derart zu verzwirbeln, dass sowohl eine kleine menschliche Komödie als auch eine Commedia dell'arte mit immer wieder aufgerufenen Figuren und Charakteren entsteht, die aus verschiedenen Perspektiven, in wechselnden Konstellationen und Altersstufen dem Leser vor die Augen kommen: eine fellineske Geisterbeschwörung, Gianni Celatis "Amarcord".

    Es ist ein Reigen von Kleinstädtern, die Gianni Celati in der Enge der Provinz, die sie zu Sonderlingen, Träumern und Spinnern verbiegt, bei ihren Versuchen verfolgt, sich aus ihrer Misere zu befreien: sei's männlich durch Geistesanstrengung, sei's weiblich durch tiefe Dekolletés und die Körperformen betonenden engen Kleider.

    Nur der von Kind auf debile Anselmo Pucci fällt, für beides unempfindlich, aus der Reihe, wenn die pubertierenden Jungen "auf der Suche nach Futterplätzen" für ihr Verlangen "auf der Weide" der Plätze und Gassen sind. Aber der autistische Anselmo wird am Ende zufrieden und glücklich den Abflussgeräuschen des Klos in der Irrenanstalt lauschen, während seine Mutter, die schon seinem - in die Frauenbrüste erfolglos vernarrten - Klassenkameraden Bordignoni aufgefallen war, mit ihrem erotischen Kapital im Erzbischöflichen Palais sowohl für Anselmo als auch für seinen geschäftlich glücklosen Vater ein angenehmes Aus- und Unterkommen erwirtschaftet.

    Der Bankangestellte Bacchini, der sich in seinem Leben "eingezwängt fühlt" und sich durch seine in der Lokalpresse publizierte realitätsnahe Hobbyschriftstellerei ein erzählerisches Ventil schaffte, bezahlt seine Ambition mit Ehescheidung und einer Zwangsversetzung nach Kalabrien. Dafür reüssiert seine geschäftstüchtige Ex-Gattin Juno als einheimische Baulöwin.

    Der Klassenkamerad Zoffi, der "so lange über etwas nachdachte, bis er fand, dass etwas faul daran war" - und folglich ins Bodenloses dachte -, erscheint Celati deshalb als "ein moderner Held", dem er nur mangels eigener Inspiration keinen Roman geschrieben hat, aber ihm und allen anderen seiner Figuren diesen Nachruf: "Ich möchte wirklich wissen, wo sie alle hingekommen sind, und ob es uns wirklich gegeben hat und ob das tatsächlich das Leben ist. Oder alles nur ein Irrtum, nur Blitze, Schauder oder wer weiß was."

    Der Leser aber weiß, was für ein literarisch gelungenes Leben Gianni Celati seinen Klassenkameraden erschrieben hat.

    Gianni Celati: Was für ein Leben!
    Episoden aus dem Alltag der Italiener

    Deutsch von Marianne Schneider
    Wagenbach Verlag, Berlin 2008, 172 Seiten, 19,90 Euro