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Grubenunglück in der Türkei
Prozess gegen Bergwerksbetreiber beginnt

Vor fast einem Jahr starben bei einem Unglück im türkischen Soma 301 Bergarbeiter. Die Betreiber des Bergwerks stehen nun wegen fahrlässiger Tötung vor Gericht. Doch das reicht vielen Angehörigen nicht: Sie sehen die Regierung in der Verantwortung.

Von Gunnar Köhne | 13.04.2015
    Auf dem Friedhof von Soma liegen Dutzende in Beton eingefasste Gräber im Spalier, in jedem steckt eine kleine türkische Flagge. Dass die Opfer des Grubenunglücks nun "Sehit", also Märtyrer genannt werden, findet Ismail Colak eigentlich unpassend. Also ob sein Sohn Ugur im Krieg und nicht durch Schlampereien umgekommen wäre! Aber das Unglück machte Ugur tatsächlich ungewollt zum Helden. Er hatte sich zunächst aus dem brennenden Stollen retten können - war dann aber wieder zurückgegangen, um seine Kollegen zu retten. Traurig sitzt Colak am Grab seines geliebten Sohnes:
    "Als mein Sohn sagte, er wolle Bergmann werden, habe ich ihn darin auch noch bestärkt und mich für ihn eingesetzt beim Bergwerk! Nach ein paar Monaten schlief er nur noch, wenn er zuhause war. Er klagte, dass die Arbeitsbedingungen unter Tage sehr hart wären."
    Es war das schlimmste Grubenunglück in der türkischen Geschichte - nach einer Explosion am 13. Mai vergangenen Jahres starben 301 Bergarbeiter - sie waren unter Tage verbrannt oder erstickt. Heute beginnt gegen den Manager und 44 weitere Ingenieure und Mitarbeiter des Bergwerks der Prozess wegen fahrlässiger Tötung. Acht Beschuldigte befinden sich seit dem Unglück in Untersuchungshaft. Wegen des erwarteten großen Andrangs aus dem In- und Ausland hat das Gericht einen Theatersaal in der nächsten Kreisstadt angemietet - das Amtsgericht des Städtchens Soma wäre zu klein.
    Die Angeklagten sollen Warnhinweise missachtet und Sicherheitsstandards nicht eingehalten haben. Doch Gewerkschafter und Menschenrechtler bezweifeln, dass die Bergwerksbetreiber allein schuldig geworden sind. Damit wolle sich die Regierung aus der Verantwortung stehlen, kritisiert Emma Sinclair-Webb von Human Rights Watch:
    "Die Ministerien für Arbeit und Energie haben die Mine kontrollieren lassen und ihr immer wieder Unbedenklichkeitsbescheinigungen ausgestellt. Und nun blockiert die Regierung mithilfe ihres Vetorechts eine Untersuchung gegen die Verantwortlichen in den Behörden."
    Hat die Regierung etwas zu verbergen?
    Bergmann Ercan Cetinyilmaz war am Unglückstag krankgeschrieben - das hat ihm vermutlich das Leben gerettet. Er kann bestätigen, dass die Bergwerksleitung - wie es in der Anklage steht - von den Sicherheitsmängeln und den Vorboten der Katastrophe gewusst hätten:
    "In den Wochen vor dem Unglück war es dort unten so heiß, dass ich im Unterhemd zu schwitzen begann, bevor ich auch nur einen Handschlag getan hatte. Wir haben immer wieder darauf hingewiesen, aber niemanden hat das gekümmert."
    Nach Angaben einer Nichtregierungsorganisation starben in der Türkei allein im Monat März 139 Menschen bei Arbeitsunfällen. Das Risiko für einen Türken, an seinem Arbeitsplatz umzukommen ist fast zehn Mal höher als für einen Arbeitnehmer in der Europäischen Union - und das, obwohl die türkische Regierung nach dem Unglück von Soma schärfere Gesetze und Kontrollen versprochen hatte.
    Wasserwerfer werden gegen Demonstranten eingesetzt.
    Bei Protesten nach dem Unglück ging die Polizei mit Wasserwerfern, Tränengas und Gummigeschossen gegen Demonstranten vor. (BULENT KILIC / AFP)
    Die Unglücksmine ist seither geschlossen, könnte aber, so vermuten Kritiker, nach dem Gerichtsverfahren wieder unter neuer Leitung in Betrieb gehen. In Soma hoffen das sogar viele. Denn andere Arbeitsplätze gibt es kaum. Immer noch arbeitet jeder zehnte Einwohner von Soma in den umliegenden Bergwerken.
    Ismail Colak und die anderen Hinterbliebenen von Soma haben sich zusammen getan und treten bei dem Gerichtsprozess als Nebenkläger auf. Ein Solidaritätsverein hat ihnen Räume und Rechtsanwälte spendiert. Vom Staat fühlen sie sich allein gelassen - und sie haben auch nicht vergessen, wie sie in den Wochen nach dem Unglück bei Protesten von der Polizei mit Wasserwerfern und Tränengas auseinandergetrieben wurden. Die Regierung habe etwas zu verbergen, meint Ismail Colak:
    "Wir wollen, dass sich der Staat zu seiner Mitverantwortung am Tod unserer Kinder bekennt. Wir wissen genau, welche Behördenvertreter geschützt werden sollen."
    Ohne die Wahrheit gibt es für die Hinterbliebenen von Soma keine Gerechtigkeit. Sie sind es ihren toten Söhnen und Ehemännern schuldig.