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Grün-schwarze Annäherung
Wie aus Gegnern Partner werden

"Erstmals" ist das Wort der Stunde in Baden-Württemberg: Denn erstmals ist eine Frau, die aus der Türkei stammt, Präsidentin eines deutschen Landtags. Ebenfalls erstmals wird es eine grün-schwarze Landesregierung geben. Und erstmals muss die CDU unter Grün die Rolle des Juniorpartners einnehmen. Dass es einmal so kommen sollte, wäre vor wenigen Jahrzehnten wohl undenkbar gewesen.

Von Uschi Götz und Thomas Wagner | 11.05.2016
    Winfried Kretschmann und der baden-württembergische CDU-Vorsitzende Thomas Strobel (r.) unterschreiben am 09.05.2016 in Stuttgart den Koalitionsvertrag.
    Winfried Kretschmann und der baden-württembergische CDU-Vorsitzende Thomas Strobel (r.) unterschreiben am 09.05.2016 in Stuttgart den Koalitionsvertrag. (picture alliance / dpa - Franziska Kraufmann)
    Der Weg für das erste grün-schwarze Regierungsbündnis in Deutschland ist frei.
    "Der Ausgang der Wahl war eine Überraschung und natürlich eine Herausforderung."
    Erstmals wurden die Grünen bei einer Landtagswahl stärkste Kraft. Die Christdemokraten müssen sich in ihrem einstigen Stammland Baden-Württemberg mit der Rolle als Juniorpartner abfinden.
    "Wir haben uns nicht gesucht, doch wir haben uns gefunden: die Grünen und die Schwarzen."
    1. März, später Nachmittag: Vor der Stuttgarter Domkirche St. Eberhard fährt ein Polizeiauto vor. Frauen und Männer mit Aktenbündel unter Arm huschen durch den Haupteingang ins "Haus der kirchlichen Dienste" gleich nebenan. Was wie eine geheime Mission aussieht, sind Landespolitiker, die sich zu Gesprächen treffen.
    "Ich habe grundsätzlich die etwas unromantische Vorstellung, dass Koalitionen im Grunde genommen nie Liebesheiraten sind", erklärt CDU-Bundesvize Thomas Strobel, 56, auch Vorsitzender der CDU Baden-Württemberg. Strobls Auftrag: Für seine Partei retten, was zu retten ist. Sein Gegenüber: der grüne Ministerpräsident Winfried Kretschmann, derzeit der beliebteste Politiker in Deutschland.
    "Auch unser drittes Gespräch, das wir nun hatten, fand in einer angenehmen, verbindlichen Atmosphäre statt."
    Dabei schauen sich Kretschmann und Strobl lächelnd an, wie zwei gute Kumpels, die sich nach langer Zeit mal wieder getroffen haben.
    "Es haben sich natürlich auch Differenzen aufgetan, klar, wie bei der Windkraft. Das wird dann zu verhandeln sein. Das wird mit Sicherheit nicht leicht werden ... "
    ....aber eben auch nicht unmöglich.
    Soll die CDU das wagen, was bundesweit ohne Vorbild ist? Thomas Strobl wird sich in diesen Tagen entscheiden, sein Bundestagsmandat niederzulegen und als stellvertretender Ministerpräsident in die Landespolitik zu wechseln:
    Thomas Strobl
    Thomas Strobl (picture alliance / dpa)
    "Wir fusionieren nicht mit den Grünen. Wir machen eine Koalition. Das ist ein Arbeitsbündnis auf Zeit, bei Aufrechterhaltung der eigenständigen Positionen, der eigenständigen Überzeugungen, aber aus der Verantwortung heraus, möglicherwiese eine gemeinsame Regierung in diesem Land zu gestalten."
    Doch vielen Christdemokraten ist nicht wohl beim Gedanken an Grün-Schwarz. Josef Rief, ein bodenständiger Oberschwabe, er vertritt den Wahlkreis Biberach im Bundestag – spricht das aus, was viele CDU-Mitglieder nur hinter vorgehaltener Hand kundtun: Dass sie es nämlich als Schmach empfinden, als Juniorpartner unter einem grünen Ministerpräsidenten zu dienen.
    "Das ist weder eine Verheiratung, noch eine Zeugung, noch sonst etwas. Sondern, es ist ganz einfach ein Vertrag, wo wir, wenn wir uns einig werden, das Land weiter voranbringen."
    "Ein historisches Momentum. Wir führen Gespräche miteinander"
    1. April: Erneut kommen Vertreter von Grünen und CDU im "Haus der kirchlichen Dienste" zusammen. Das erste grün-schwarze Koalitionsgespräch. Es beginnt mit Organisatorischem:
    "Jetzt geht's los. Und arbeitsreiche Tage und Wochen stehen uns allen bevor. Da wird das Thema Haushalt zu Beginn eine Rolle spielen. Da wollen wir uns mal anschauen, wie ist die Haushaltslage des Landes Baden-Württembergs?"
    Neun Arbeitsgruppen werden gebildet, die sich inhaltlich am Zuschnitt der Landesministerien ausrichten. Hinzu kommt eine große Koalitionsrunde. Es stehen lange Nächte bevor, weiß Strobl: teilt seine Arbeitsauffassung mit:
    "Also, ich kenne Koalitionsverhandlungen so, dass man sich im Grunde genommen immer in den frühen Morgenstunden trifft – und dann bis in die frühen Morgenstunden beieinander ist, weil das open end ist. Augen auf bei der Berufswahl!"
    Nicht Inhalte, sondern die Kleiderordnung bestimmen die Schlagzeile beim ersten Treffen der Koalitionsrunde am 6. April. Verhandlungsführer Kretschmann erscheint im schwarzen Anzug, sein CDU-Pendant im grünen Trachtenjanker und grünem Hemd. Zumindest farblich gibt es eine erste Annäherung:
    "Ein historisches Momentum. Wir führen Gespräche miteinander. Das kann, aber das muss nicht in einer Koalition münden."
    Die Ausgaben im Landeshaushalt sind enorm gewachsen. Das macht den Verhandlungsführern Sorgen:
    "Grün-Rot hat 2011 mit einem strukturellen Defizit von zweieinhalb Milliarden angefangen. Es ist dann zwischendrin gelungen, die Lücke ein gutes Stück zu schließen. Wir stehen jetzt aber durch die rasant gestiegenen Flüchtlingszahlen wieder mit einer Lücke von über zwei Milliarden da."
    Doch Zeit für Schuldzuweisungen bleibt nicht. Man ist sich einig, dass gespart werden muss. In neun Arbeitsgruppen wird tagelang verhandelt. Manchmal auch die Nacht durch.
    Der CDU-Landtagsabgeordnete Bernhard Lasotta aus Neckarsulm sitzt beim Thema Integration mit am Verhandlungstisch. Nach ungezählten Stunden bringt er seiner grün-schwarzen Gruppe eine vom Schwager gebackene Koalitionstorte mit. Die Begeisterung ist groß: Der Belag symbolisiert zwei sich reichende Hände, eine Hand ist aus grünem Marzipan, die andere aus schwarzem.
    "Ich fand es eine gute Idee dazu beizutragen, sich eben anzunähern. Ein Symbol mitzubringen, was beiden Seiten gut tut. Im Übrigen ist Zucker immer gut, wenn es um Verhandlungen geht, weil das Gehirn Glucose verarbeitet und nur so arbeiten kann."
    Lasotta ist Arzt und seit 15 Jahren Mitglied des Landtags. Er findet das grün-schwarze Bündnis spannend und hat Lust auf die gemeinsame Arbeit:
    "Es gibt mit den Grünen eine Möglichkeit, leichter ideologische Grenzen zu überwinden, also zumindest mit den realpolitisch denkenden Grünen, mit den Pragmatikern innerhalb der Koalition. Und den Spielraum haben wir genutzt, da eine gute und tragfähige Grundlage für eine Koalitionsarbeit zu finden."
    Der Kuchen ist längst gegessen. Und – auch das ist wirklich Thema – eine gemeinsame Sprache ist gefunden: Das Wort "Gender" wird nach dem Willen der CDU aus dem Wortschatz der künftigen Koalitionäre gestrichen. Auch will die CDU von Kernkraft und nicht von Atomkraft sprechen. Zwei politisch gegensätzliche Kulturen treffen aufeinander.
    Die Grünen tragen es mit Fassung. Boris Palmer, grüner Oberbürgermeister in Tübingen, verhandelt in der Gruppe "Energiepolitik" mit Paul Nemeth. Nemeth sitzt seit 2006 für die CDU im Landtag und war bis zum Wahlabend noch der festen Überzeugung, seine Partei werde diese Wahl gewinnen. Nun sitzen sich beide stundenlang gegenüber und müssen einen Kompromiss beim Thema Windkraft finden. Über diesen Kompromiss finden sie auch zueinander:
    "Man kennt die CDU, man weiß, wo die Differenzen sind. Ein Kulturschock war nicht zu erwarten. Der Schock war eher, wie sehr sich die CDU in den zehn Jahren, seit ich den Landtag verlassen habe, verändert hat. Was die heute alles unterschreiben, was ich damals noch sinnlos in jeder Debatte ohne jeden Erfolg vorgetragen habe, das hat mich wirklich verblüfft."
    "Die fünf Jahre waren die Grünen unserer Hauptgegner, auf der anderen Seite kenne ich aus der Kommunalpolitik und von meinen Geschwistern, dass man mit den Grünen, dass man mit den Grünen auch zusammenarbeiten muss und kann."
    "Ja, man hat sozusagen zum ersten Mal 15 bis 20 Stunden am Stück ernsthaft in der Sache diskutiert und sich nicht nur Parolen um die Ohren gehauen. Und dass das in der Politik so selten stattfindet zwischen Regierung, ist schon schade."
    "Insofern wird jetzt aus Gegnern Partner. Aber in Amerika gibt es so etwas, das heißt Coopetition, also Cooperation and Competition. Und das glaube ich, wird es auch ein bisschen bleiben, also wir sind sowohl Konkurrenten als auch Partner."
    Alle Arbeitsgruppen schließen Mitte April ihre Arbeit ab und legen bis auf das Verkehrsressort " schriftliche Berichte vor. Auch beim Thema Windkraft gibt es ein Ergebnis und ein Palmer-Fazit:
    "Auch menschlich war es wirklich nett. Der Paul Nemeth hat am Ende ein Herz von uns bekommen, ein Lebkuchenherz, auf dem drauf steht: "Die Energiewende braucht Dich" und er hat gelacht."
    1. April. "Der heutige Tag verkörpert im Marathon der grün-schwarzen Koalitionsverhandlungen eine wichtige Wegmarke", schreiben die Agenturen. Heute tragen die Arbeitsgruppen ihre Ergebnisse vor. Doch dieser Tag will kein Ende nehmen. Mittlerweile finden die Verhandlungen in den Räumlichkeiten einer großen Stuttgarter Bank statt; in den oberen Etagen, so dass die Bankkunden dem landespolitischen Politzirkus nicht in die Quere kommen.
    Vor den Türen warten Dutzende Journalisten. Unruhe bricht aus, Personenschützer stellen sich auf, flüstern in versteckte Mikrofone: Der Ministerpräsident sei im Anmarsch. Kretschmann und Thomas Strobl kommen um die Ecke.
    "Vielen Dank auch für Ihre Geduld und ich übergebe gleich für die Statements und es beginnt Ministerpräsident Kretschmann."
    "Ja, schönen guten Abend, meine Damen und Herren."
    Der Regierungschef hat sich verschluckt, sein künftiger Stellvertreter fragt sichtlich besorgt:
    "Soll ich mal hinten drauf hauen? Lieber doch nicht ... "
    Kretschmann bekommt wieder Luft, verkündet aber keinen Durchbruch:
    "Es haben neun Arbeitsgruppen berichtet und es war erst einmal sehr ermutigend."
    "Und man hat bei den mündlichen Berichten gespürt, dass diese Verhandlungen in einer sehr guten Atmosphäre stattgefunden haben."
    Das passt zur Stimmung an diesem Freitagabend, die 18-köpfige Verhandlungsgruppe ist gelassen wie noch nie in diesen Tagen.
    "Einen guten Abend für Sie alle. Auf Wiedersehen."
    Der Konservative tritt meist in Jeans auf, der Grüne trägt fast ausschließlich Anzug und Krawatte
    Zum ersten Mal gehen die künftigen Koalitionäre an diesem Freitagabend im April gemeinsam essen; Halbhöhenlage Stuttgart, Nähe Fernsehturm. Journalisten sind nicht erwünscht, man möchte ungestört zusammenfinden. Vegetarisch, gar vegan, bei der CDU ist man auf alles gefasst. Von wegen, es habe Fleisch gegeben, erzählt einen Tag später CDU-Fraktionschef Guido Wolf. Ein paar Stunden nach diesem Abendessen findet eine Basiskonferenz der CDU Nordwürttemberg statt.
    Mehrere Hundert CDU-Mitglieder sind an diesem Samstag nach Schorndorf gekommen, um mit Parteichef und Fraktionschef die verlorene Wahl und erste bekannte Kompromisse des Koalitionsvertrags zu diskutieren.
    Über drei Stunden haben sich Strobl und Wolf den Fragen und der Kritik ihrer Basis gestellt. Aus vielen Kreisverbänden ist zu hören, einige Mitglieder an der Basis würden im Falle von Grün-Schwarz mit Austritt drohen. Strobl bestätigt den Unmut bei vielen seiner Parteifreunde:
    "Es hat ein langjähriges Mitglied beispielsweise sehr nachvollziehbar gesagt, bis vor kurzem war noch Wahlkampf, bis vor kurzem haben wir diese Grünen noch als etwas ganz Schlimmes bekämpft und jetzt sollen wir womöglich mit denen eine Koalition machen."
    In der letzten April-Woche treffen sich die Verhandlungsführer wieder, Strobl scherzt mit den Journalisten:
    "Ja, meine Damen und Herren, wir haben uns jetzt ja ein paar Tage nicht gesehen und ich habe sie schon sehnlichst vermisst. Schön, dass sie da sind", sagt der Heilbronner im besten Honoratiorenschwäbisch, das selbst im Sprechrhythmus an seinen Schwiegervater Wolfgang Schäuble erinnert. Neben ihm steht der über zehn Jahre ältere, weißhaarige Landesvater und Kultpolitiker Winfried Kretschmann. Auch er ist des Hochdeutschen bekanntlich nicht mächtig:
    "Ja, meine Damen und Herren, wir sind ein gutes Stück vorangekommen. Aber, wir sind noch mitten im Prozess."
    Lange Zeit hat dieses Paar, das nie eins werden wollte, lediglich derselbe Dialekt geeint. Jurist Strobl, mit Schmiss im Gesicht, auf der einen, der frühere Gymnasiallehrer Kretschmann, einst kommunistischer Aktivist auf der anderen Seite. Sie gehen höflich miteinander um. Beim Du aber sind sie trotz wochenlanger Verhandlungen noch nicht gelandet. Dafür erstaunt die Kleiderwahl: der Konservative tritt meist in Jeans auf, der Grüne trägt fast ausschließlich Anzug und Krawatte.
    "Einen guten Abend für Sie alle."
    Anfang Mai steht der Koalitionsvertrag, Einzelne Details sickern an die Öffentlichkeit. Doch die letzte Verhandlungsrunde zieht sich auffällig in die Länge. Über sechs Wochen sind seit der Landtagswahl vergangen, es macht sich Müdigkeit breit. Irgendwo gehen Türen auf, Personenschützer stellen sich auf, Kretschmann und Strobl kommen eine Treppe herunter.
    "So, zwei kurze Fragen bitte."
    Gibt es eine Einigung bei der Verteilung der Ministerien, wird Kretschmann gefragt. Der gibt sich einsilbig:
    "Ja."
    "Und wie im Groben?"
    "So wie sie es schon wissen."
    Um dann aber doch zu erklären, man habe sich auf eine Verkleinerung des Kabinetts geeignet, es gibt eine Fünf-zu-Fünf-Lösung.
    "Bei der grünen Seite liegt das Finanzministerium, das Umweltministerium, das Sozialministerium, Wissenschaftsministerium und das Verkehrsministerium. Jetzt müssen Sie noch sagen, welche Häuser Sie haben."
    Strobl zählt auf: Kultus, Wirtschaft, Inneres,
    "Jetzt haben wir drei, gell?"
    Justiz und Landwirtschaft fallen ihm dann auch noch ein. Eine Überraschung, denn die Grünen geben das Landwirtschaftsministerium auf, verantworten dafür aber die Finanzen. Am 2. Mai bei strahlendem Sonnenschein wird der Koalitionsvertrag dann offiziell vorgestellt. Für die Präsentation wurde der Start-up Campus in Stuttgart gewählt. Ein interessanter, jedoch für das große mediale Interesse ein viel zu kleiner Ort. Die Stimmung ist entsprechend gereizt:
    "Entweder geht die Kamera weg oder wir müssen es verschieben, es hilft jetzt alles nichts."
    Streitthema Gemeinschaftsschulen
    Dutzende Journalisten drängen sich in einem Raum, wo Tische mit Kiwis, grünen und schwarzen Trauben dekoriert sind. Nicht alle bekommen einen Platz, einige stehen im Gang. Kretschmann und Strobl werden von ihren Fraktionschefs Edith Sitzmann und Guido Wolf begleitet. Die grüne Pressesprecherin weißt Strobl noch darauf hin, dass die Grünen immer links von der CDU stehen
    "Gerne, so wie es sie wollen."
    Der Ministerpräsident stellt Inhalte aus dem gemeinsamen Koalitionsvertrag vor und betont, das Vertrauen sei von Sitzung zu Sitzung gewachsen. Allerdings habe man bei der Verteilung des Ressorts hart miteinander gerungen:
    "Wir sind uns dabei manchmal auch ziemlich auf die Nerven gegangen, das muss man schon zugeben. Aber wir sind nicht nervös geworden, ruhig geblieben und haben es dann durchverhandelt."
    "Manchmal waren sie schon laut."
    "Ja, also ... aber selten, das müssen Sie ja zugeben ... "
    Nur wenige Stunden später beginnt der Parteitag des CDU-Kreisverbandes Konstanz.
    "Der heutige Kreisparteitag ist ein historischer Kreisparteitag, ganz im Zeichen des Koalitionsvertrages"
    Doch die CDU-Basis hier ist unzufrieden:
    "Ich möchte mal die Verkehrspolitik ansprechen, die offensichtlich weiter in grüner Hand bleibt: Alles nur für Krötentunnel!"
    "Das Finanzministerium wird nicht von der CDU besetzt. Und das ist eine Schlüsselfunktion."
    Auch an der Kröte Gemeinschaftsschulen, manche sogar mit gymnasialer Oberstufe – haben viele CDU-Mitglieder schwer zu schlucken. Denn gegen diese Schulform haben sie im Wahlkampf gekämpft. Der Konstanzer Bundestagsabgeordnete Andreas Jung müht sich ab, die Verhandlungserfolge der CDU zu benennen.
    "Es wird 1.500 Polizeistellen geben. In diesem Bereich haben wir nicht nur klar unsere Handschrift erkennen lassen, sondern der ist mit schwarzer Tinte geschrieben."
    Vier Tage später, 6. Mai, Freitag vergangener Woche. Der Tenor, ein ähnlicher: Von wegen, manche CDU-Vorstellung ist auf der Strecke geblieben. Beim Landesparteitag der CDU klingt der noch in den Koalitionsverhandlungen mitunter devot erscheinende Strobl plötzlich so, als habe er im Namen seiner Partei Baden-Württemberg vor dem Untergang bewahrt. Der Landesvorsitzende nennt viele Beispiele, unter anderem den Kinderbildungspass:
    "Damit haben aber die Grünen nichts zu tun, das hat sie null Komma null interessiert. Wir haben das durchgesetzt, die CDU und niemand anders. Ein Wort, dass die Grünen gerne auf jede Seite dreimal geschrieben hätten, werden sie auf keiner einzigen Seite und in keinem einzigen Satz dieses Koalitionsvertrages finden: Das Wort "Gender"! Und das haben auch wir durchgesetzt."
    Krasser Gegensatz ein Tag später beim Landesparteitag der Grünen. Ohne Kampfrhetorik bedankt sich Kretschmann bei den Seinen und zollt der CDU noch einmal Respekt.
    "Wir haben intensiv miteinander gerungen. Wir haben uns gegenseitig nichts geschenkt. Aber wir haben es auch mit Respekt voreinander getan."
    Sie sehen Baden-Württembergs Ministerpräsident Kretschmann, er spricht in zwei grüne Mikrofone.
    Baden-Württembergs Ministerpräsident Kretschmann s (picture-alliance / dpa / Britta Pedersen)
    Beide Parteitage entscheiden sich mit jeweils deutlichen Mehrheiten für den Koalitionsvertrag. Um 12 Uhr mittags am Dienstag stellen Kretschmann und Strobl die Kabinettsliste vor. Mit dem Ministerpräsidenten werden künftig vier Frauen und sechs Männer Baden-Württemberg regieren. Thomas Strobl wird Innenminister.
    "Ich werde zum stellvertretenden Ministerpräsident und Minister des Inneren, Digitalisierung und Integration Thomas Strobl berufen."
    Guido Wolf, nach der Wahlschlappe umstrittener CDU-Fraktionschef, bekommt das Ressort Justiz. Bei den Grünen wird die bisherige Fraktionschefin Edith Sitzmann Finanzministerin. Nach der Bekanntgabe der Ministerliste kommt es in der CDU-Landtagsfraktion zum Eklat. Zunächst wird die eigentlich für Donnerstag geplante Wahl eines neuen Vorsitzenden vorgezogen. Der frühere Bundesrats- und Europaminister Wolfgang Reinhart – ein politisch Konservativer - führt künftig die Fraktion an – Strobl wollte einen anderen. Es folgt eine Probeabstimmung zur Wahl des Ministerpräsidenten. Acht Christdemokraten stimmen mit Nein, fünf enthalten sich, drei sind gar nicht da. Thomas Strobl verlässt empört den Sitzungssaal – nicht Kretschmann, sondern ihn – so hört man - wollten die Abtrünnigen treffen. Am Mittwochmittag tritt der neue, der 16. baden-württembergischen Landtag zur konstituierenden Sitzung zusammen. Und kürt mit Muhterem Aras eine Grüne mit Migrationshintergrund zur Präsidentin.
    Die beiden Politikerinnen umarmen sich im Plenum; Aras hält einen bunten Blumenstrauß in der Hand.
    Edith Sitzmann (l, Bündnis 90/Die Grünen), designierte Ministerin im baden-württembergischen Landtag, gratuliert am 11.05.2016 bei einer konstituierenden Sitzung im Landtag in Stuttgart (Baden-Württemberg) Muhterem Aras (r, Bündnis 90/Die Grünen) zur Wahl (Christoph Schmidt / dpa)
    "Frau Abgeordnete Aras hat also mehr die Hälfte der abgegebenen Stimmen und ist damit als Präsidentin des Landtages gewählt."
    Die Wahl von Winfried Kretschmann zum Ministerpräsidenten steht morgen an. Ob er bereits im ersten Wahlgang inthronisiert wird? Nach der Probeabstimmung in der CDU-Fraktion kann er sich wohl nicht ganz sicher sein – denn die Wahl ist geheim. 72 der 143 Stimmen benötigt er. CDU und Grüne stellen gemeinsam 89 Abgeordnete. Die grün-schwarze Annäherung wird also noch viele Hürden nehmen müssen.