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Gründliches Denken nimmt ab

Der Medienkritiker Nicholas Carr argumentiert in seinem neuen Buch, dass die Art und Weise, wie das Internet uns mit einer Flut an Daten, Zahlen, Ereignissen überschwemmt, unsere Kultur verändern wird - und das nicht zum Besseren.

Von Brigitte Baetz | 13.12.2010
    "Wie die meisten Leute habe ich das Internet über die Jahre immer mehr genutzt und natürlich fand ich es überaus sinnvoll für die Recherche und andere Dinge, aber so um 2007 herum fing ich auf einmal an zu bemerken, wie ich immer mehr meine Fähigkeit zur Konzentration verlor und zwar auch dann, wenn ich nicht online war. Wenn ich mit einem Buch oder einem langen Artikel da saß, wollte mein Kopf schon nach wenigen Seiten das tun, was er vom Internet kennt: E-Mails checken, auf Links klicken, mal ein bisschen googeln. Das brachte mich dazu, einmal die Hirnforschung danach zu befragen, was das Internet mit uns macht und wie wichtig es ist, aufmerksam zu sein."

    So begann sich der Literaturwissenschaftler und ehemalige Herausgeber der Harvard Business Review Nicholas Carr umfassend darüber zu informieren, wie sich Denkstrukturen durch die Nutzung des Internets verändern. Das bedrückende Ergebnis seiner Recherche: Unsere Fähigkeit zur intensiven Verarbeitung von Informationen, unsere Fähigkeit zum gründlichen Denken nimmt unweigerlich ab. Ausführlich zitiert er Untersuchungen, die zeigen, dass das Lesen am Bildschirm nicht gleichzusetzen ist mit dem Lesen von Gedrucktem. Der Vorteil des Netzes gegenüber herkömmlichen Medien - das bequeme Hin- und Her-Springen zwischen dem Ursprungstext und weiterführenden Links – bewirke, dass nicht mehr richtig gelesen werde. Schon dadurch, dass das Gehirn ständig entscheiden müsse, ob es einem Link folgen wolle oder nicht, werde die Konzentration des Lesers, wenn auch unbewusst, ständig gestört. Wie Carr meint, mutiert das Gehirn des Internetnutzers zu einer "simplen, Signale verarbeitenden Einheit", die Informationen möglichst rasch durch das Bewusstsein schleust. Permanent eintreffende E-Mails oder Twitter-Meldungen lenken die Aufmerksamkeit zusätzlich ab. So zeigten Blickbewegungsanalysen, dass die Verweildauer auf einer Internetseite im Höchstfall 27 Sekunden betrage, auch wenn Carr hier unterschlägt, dass viele Artikel erst zum Lesen ausgedruckt werden:

    Unsere Konzentration auf den einzelnen Text nimmt einen flüchtigen, provisorischen Charakter an. Darüber hinaus führt die Online-Suche zur Zerstückelung von im Internet veröffentlichten Werken. Häufig lenkt eine Suchmaschine unser Augenmerk auf einen bestimmten Textausschnitt, ein paar Worte oder Sätze, die für das im Augenblick gesuchte besonders relevant sind. Der Anreiz, das jeweilige Werk ganz zu lesen, bleibt indes relativ gering. Wenn wir das Netz durchforsten, sehen wir den Wald nicht. Wir sehen noch nicht einmal die Bäume. Wir sehen Zweige und Blätter.
    Doch nicht nur die Aufmerksamkeit des einzelnen Internetnutzers werde gestört, schreibt Carr. Die Recherche im Internet gefährde, trotz oder gerade wegen der schnell zugänglichen riesigen Datenmengen, die Vielfalt von Meinungen statt sie zu befördern. Zum Beweis führt Carr Studien an, die zeigen, dass inzwischen in wissenschaftlichen Arbeiten weniger Artikel zitiert werden als früher üblich. Der Grund: Der Algorithmus, nach dem die führende Suchmaschine Google ihre Suchergebnisse auflistet, sortiert die Artikel mit den meisten Querverweisen automatisch nach oben. Damit wird die herrschende wissenschaftliche Meinung unvermeidlich bevorzugt. Und von den Tausenden an generierten Links werden von den Nutzern meist nur die berücksichtigt, die ganz oben in der Liste stehen. Während das Stöbern in Büchern den Suchenden auf möglicherweise kreative Umwege zwinge, führe die leichtere Internetsuche zu schnelleren, aber nicht unbedingt originelleren Ergebnissen, schlussfolgert Carr und zitiert den amerikanischen Wirtschaftswissenschaftler Tyler Cowen:

    Wenn Informationen leicht zugänglich sind, bevorzugen wir meistens die kurzen, die netten und die mundgerechten.
    In der Tradition der Medientheoretiker Marshall McLuhan und Neil Postman glaubt Nicholas Carr an die Veränderung der menschlichen Fähigkeiten durch neue Technologien. Die Rationalisierung der Produktionsbedingungen und die Einführung des Fließbandes führten zur Verkümmerung des Handwerks und zur Entfremdung des Menschen von seiner Arbeit. Wohin, so fragt Carr, wird die Automatisierung des Denkens führen?

    "Ich bin eine Art Fatalist, was Technologie angeht. Ich bin nicht sicher, ob wir die Uhr zurückdrehen können. Aber es geht hier ja nicht nur um technischen Fortschritt, sondern um menschlichen Rückschritt. Als wir noch Höhlenmenschen waren, mussten wir immer aufpassen, ob jemand um uns herum aus dem Nichts auftaucht, unsere Aufmerksamkeit wurde also ständig abgelenkt. Das Buch hat uns innerhalb der letzten 500 Jahre konzentrierter gemacht. Die neuen Medien, der Computer und das Internet, die ganze Entwicklung in den Medien der letzten hundert Jahre bringt uns wieder in den natürlichen Zustand des ständigen Abgelenkt-Seins zurück. Vielleicht war diese unsere Fähigkeit, tiefgründige und einsame Denker zu sein, eine Art Abweichung in unserer geistigen Geschichte, die wir gerade wieder verlieren, ohne uns darüber wirklich bewusst zu sein."

    Nicholas Carrs Buch erfüllt den besten Zweck, den ein Buch erfüllen kann: Es macht nachdenklich. Kultur nämlich ist mehr als die Summe dessen, was Google als "das Wissen der Welt" bezeichnet. Es ist, wie Carr nachweist, die Summe unserer individuellen Erfahrungen und das, was jeder Einzelne von uns in seinem Gedächtnis aufbewahrt. Erst das macht uns zu Persönlichkeiten und zu Menschen, die die komplexen Herausforderungen des Lebens meistern können. Wer das Denken an Maschinen auslagert, gefährdet unsere Kultur. Wie weit das gehen könnte und was man dagegen tun könnte – nicht nur Carr bleibt in diesen Fragen ratlos.

    Brigitte Baetz über Nicholas Carr: Wer bin ich, wenn ich online bin ... - und was macht mein Gehirn solange? Wie das Internet unser Denken verändert. Veröffentlicht im Blessing Verlag, das Buch umfasst 384 Seiten und kostet 19 Euro und 95 Cent, ISBN 978-3-896-67428-9.