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Claudia Rankine: "Citizen"
Unkonventionelle Gesellschafts- und Rassismuskritik

Fotografien und Kunstwerke, Aphorismen und Gedichte: Im Dialog mit anderen Künsten hat die farbige Lyrikerin Claudia Rankine ein Lese- und Bilderbuch und zum Thema Alltagsrassismus geschaffen. Sie legt versteckten Rassismus offen - forscht aber auch nach Verdrängung und Anpassung der Betroffenen.

Von Christel Wester | 27.07.2018
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    Diskriminierung als Alltagserfahrung: Claudia Rankines "Citizen" (Buchcover: Spector Books / Hintergrund: Imago / Westend61)
    "Hör mal, du, ich wollte die Langzeitstudie einer monumentalen ersten Person erschaffen, einer Klasseperson."
    "Wenn du das brauchst - und doch bist du hier und hier ist nirgends."
    Ein Dialogfetzen.
    "Es ist nicht zu begreifen."
    Gattungsübergreifendes Lese- und Bilderbuch
    Alltagssprüche, Aphorismen, Gedichte, Prosaminiaturen: Claudia Rankine sprengt alle Gattungsgrenzen, nicht nur literarische. Sie hat auch bildnerische Elemente in ihr Buch aufgenommen: Fotografien, Filmstills und pure Weißflächen.
    "Am farbigsten fühle ich mich, wenn ich auf einen extrem weißen Hintergrund geworfen bin."
    Dieses Zitat der Schriftstellerin und Ethnologin Zora Neale Hursten hat sich der Maler Glenn Ligon geborgt und es in Öl und Graphitkreide auf Leinwand übertragen. Das Gemälde ist neben vielen anderen Kunstwerken im Buch abgebildet. Die gattungsübergreifende Arbeit im Dialog mit anderen Künsten ist charakteristisch für Claudia Rankine. Denn sie ist Lyrikerin, Dramatikerin, Essayistin, Kulturtheoretikerin und Performancekünstlerin. Mit "Citizen" hat sie ein Lese- und Bilderbuch geschaffen, das durch seine Formenvielfalt immer wieder neue Perspektiven aufwirft. Man kann dieses Buch als ausufernden Essay begreifen, in dem die Autorin alle möglichen Erscheinungen von Alltagsrassismus auslotet.
    Erinnerungen aus der Kindheit
    Es beginnt mit fragmentarischen Kindheitserinnerungen.
    "Du riechst gut. Du bist zwölf, du besuchst die Saints Philip and James School an der White Plains Road, und das Mädchen hinter dir bittet dich, dich bei Klassenarbeiten nach rechts zu neigen, damit sie von dir abschreiben kann."
    Normalerweise sprechen die Mädchen nicht miteinander.
    "Nur das eine Mal, als sie ihre Bitte vorbringt, und später, als sie sagt, du riechst gut und hast beinahe weiße Gesichtszüge."
    In einer anderen Anekdote sucht die Ich-Erzählerin eine Psychotherapeutin auf. Den Termin hat sie telefonisch vereinbart. Jetzt klingelt sie.
    "Als die Tür endlich aufgeht, brüllt die Frau, die erscheint, lauthals: 'Verschwinden Sie! Was haben Sie vor meiner Tür zu suchen?' Es ist, als könnte ein verletzter Dobermannpinscher oder Deutscher Schäferhund mit einem Mal sprechen. Und obwohl du ein paar Schritte zurückweichst, gelingt es dir doch, ihr zu sagen, dass du einen Termin bei ihr hast. 'Sie haben einen Termin?', keift sie. Dann hält sie inne. Die Zeit bleibt stehen. 'Oh', sagt sie, und dann, 'Oh ja, richtig. Tut mir leid. Es tut mir so leid, so schrecklich leid.'"
    Verdeckter Rassismus einerseits - Verdrängung und Anpassung andererseits
    Besondere Aufmerksamkeit legt die 1963 in Jamaika geborene Claudia Rankine auf das vertraute Umfeld, den Nahbereich, wo man besonders verletzlich ist. Wie geht man um mit scheinbar banalen Bemerkungen, die ein Nachbar, ein Kollege, eine Freundin unbedacht äußern, ohne die Absicht zu verletzen? Im Mittelpunkt stehen hier nicht einfach nur Anklage, Entrüstung und Zorn, sondern auch die Selbstbefragung. Wie prägt Alltagsrassismus einen Menschen, der von Kind auf damit konfrontiert ist?
    Auf diese Weise verfolgt Claudia Rankine in ihrer Gesellschafts- und Rassismuskritik eine spannende Doppelstrategie. Einerseits legt sie versteckten Rassismus offen. Andererseits forscht sie bei den Betroffenen nach Verdrängung und Anpassung an rassistische Stereotypen. Und sie erzählt von unterschwelligen Schuld- oder Minderwertigkeitsgefühlen, die sich oft in körperlichem Unbehagen niederschlagen.
    Manche Texte sind sperrig, verweigern sich dem schnellen Lesen und Verstehen: Was ist da passiert? Habe ich das richtig mitbekommen? Fragen, die sich auch die Ich-Erzählerin in "Citizen" selbst immer wieder stellt.
    "Moment, hast du das eben gehört, eben gesagt, eben gesehen, eben getan? Bis die Stimme in deinem Kopf dir stumm befiehlt, den Fuß von der eigenen Kehle zu nehmen, weil einfach miteinander auszukommen kein Anliegen sein kann."
    Beispiele für Alltagsrassismus aus Wissenschaft, Kunst und Sport
    Als Professorin einer Elite-Universität der USA ist Claudia Rankine eine der wenigen Schwarzen, die es geschafft haben, im Kultur- und Wissenschaftsbetrieb Karriere zu machen. Doch merkt sie immer noch, dass sie nicht selbstverständlich dazugehört.
    "Du sitzt im Dunkeln im Auto, siehst zu, wie Tempo die schwarz geteerte Straße verschlingt; er sagt, sein Dekan zwinge ihn, die Stelle mit einer Person of Color zu besetzen, wo es da draußen doch so viele begabte Schriftsteller gebe."
    Wissenschaft, Kunst und Sport: Auch das sind Bereiche, denen sich Claudia Rankine in "Citizen" ausführlich widmet. Wie verlaufen die Karrieren von Schwarzen? Wo liegen Hemmnisse? Wann fungieren sie nur als Quotenerfüller? Wie funktionieren schwarze Selbstvermarktungsstrategien? In einem langen Essay untersucht Rankine am Beispiel der Tennisspielerin Serena Williams Fehlentscheidungen von Linienrichtern im Tennis. Und am Beispiel des Videoperformers Hennessy Yougman alias Jayson Musson analysiert sie kritisch die Kommerzialisierung des "zornigen Niggers" in der Kunst.
    "Man kann ihn einsetzen und ausspielen wie die Rassenkarte, er ist verknüpft mit der Inszenierung von Blackness, nicht mit den Gefühlen konkreter Personen und konkreten Situationen."
    "Glaubt ihr denn, dass ich das wollte?"
    Auch ein Ereignis aus der Fußballgeschichte kommt vor:
    "Ja, glaubt ihr denn, dass ich das wollte - zwei Minuten vor Ende der Weltmeisterschaft, zwei Minuten vor Ende meiner Karriere?"
    Das sagte Zinédine Zidane in einem Interview nach der "Sommermärchen"-WM 2006, wo der französische Nationalspieler mit seinem Kopfstoß auf widerwärtige rassistische Beschimpfungen des italienischen Gegenspielers Marco Materazzi reagierte. Claudia Rankine erzählt jedoch nicht zum wiederholten Mal das Ereignis nach, sie hat eine ebenso witzige wie bissige Collage geschaffen: Sie konfrontiert die Beleidigungen Matarazzis, die offizielle Lippenleser der FIFA rekonstruierten, mit Zitaten berühmter Antirassisten, angefangen bei William Shakespeare bis hin zu James Baldwin oder Frantz Fanon.
    "Wenn dergleichen geschieht, muss er die Zähne zusammenbeißen, sich ein paar Schritte entfernen, dem Passanten ausweichen, der auf ihn aufmerksam macht, der in anderen Passanten den Wunsch weckt, es ihm entweder gleich zu tun oder ihm beizuspringen."
    Bewegende Lektüre
    Ständig auf der Hut sein, in Erwartung von Ausgrenzung, aber auch in permanenter Furcht vor Gewalt: Das gehört zum Alltag von Schwarzen, nicht nur in den USA. In Videoarbeiten, die sie gemeinsam mit ihrem Lebensgefährten, dem Künstler John Lucas, schuf, widmete sich Claudia Rankine den jüngsten Todesopfern rassistischer Gewalt. Ihre Skripte zu den Videos hat sie ebenfalls aufgenommen in ihr aufregendes Buch - dessen Lektüre gleichermaßen bewegt, provoziert, und intellektuelle Funken sprüht.
    Claudia Rankine: "Citizen".
    Aus dem amerikanischen Englisch von Udo Strätling
    Spector Books, Leipzig. 182 Seiten, 14 Euro.