Dienstag, 19. März 2024

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Grundschule in Niedersachsen
"Werte und Normen" als Unterrichtsfach

Niedersachsen will von 2025 an "Werte und Normen" als Unterrichtsfach anbieten - als gleichwertige Alternative zum Religionsunterricht. In dem Fach sollen Fragen nach Sinn, Orientierung und Wahrheit diskutiert werden. An 40 ausgewählten Grundschulen wird das bereits erprobt.

Von Alexander Budde | 18.11.2019
Grundschüler in einer Klasse mit Schildern, auf denen Fragezeichen gemalt sind.
Was ist gerecht und für welche Überzeugungen lohnt es sich, sich zu engagieren, sind Fragen, die in "Werte und Normen" behandelt werden (imago / Westeind61)
"Auf dem Heimweg fand der Bär drei Pilze. Zuhause freute sich das Wiesel sehr. Es putzte die Pilze, briet sie scharf an, würzte kräftig mit Salz und Pfeffer und ließ sie mit etwas Petersilie in der schweren Pfanne schmoren."
Im Bilderbruch von Jörg Mühle ist es mit der Harmonie bald vorbei: Die beiden Freunde haben nämlich ein Problem damit, ihre Pilze aufzuteilen. Sie bringen ein Argument nach dem anderen, warum der eine mehr als der andere bekommen müsse.
Philosophieren über Werte, Orientierung, Wahrheit
"Wie würdet Ihr denn die drei Pilze verteilen?"
Corinna Behnert klappt das Buch zu – und die Zweitklässler Janosch, Serin und Ibrahim diskutieren sofort los:
"Jeder würde einen kriegen und einer auf Reserve. Weil dann hat jeder einen. Das ist gerecht."
"Hat der Bär mehr Anspruch, weil er die Pilze gefunden hat?"
"Ne, er hat nur Essen geholt. Das war´s, nix anderes."
"Das sind doch drei! Die können noch mit einem anderen Freund teilen."
Die Grundschule Fuhsestraße in Hannover-Leinhausen ist eine von 40 Pilotschulen, an der das Fach Werte und Normen bereits probeweise unterrichtet wird. Grundschullehrerin Behnert ließ sich von erfahrenen Lehrkräften fortbilden. Im Netzwerk tauschen sich die Pilotschulen auch über geeignete Unterrichtsmaterialien aus. Patentlösungen für die Siebenjährigen hat Behnert nicht im Angebot – sie will auf etwas anders hinaus:
"Es geht darum, Fragen ans Leben zu stellen und darüber zu philosophieren. Es geht darum, verschiedene Meinungen auch zu akzeptieren und kennenzulernen. Es geht auch einmal um das eigene Ich: Welche Fähigkeiten habe ich? Was macht mich als Menschen aus, meine Familie, mein Umfeld?"
Immer weniger Kinder im Religionsunterricht
Frank Post leitet die Grundschule Fuhsestraße mit ihren augenblicklich 260 Schülerinnen und Schülern. Überdurchschnittlich viele prekär Beschäftigte leben in diesem Stadtteil im Westen der Landeshauptstadt, viele Kinder wachsen zweisprachig auf.
"Wir sind eine Schule, in der alle Religionsgemeinschaften vertreten sind."
Die Zahl der Kinder, die den regulären Religionsunterricht besuchen, geht allerdings seit Jahren zurück, beobachtet Schulleiter Post. Viele Eltern melden ihre Kinder aus dem Fach Religion ab. Die Schule war schon vor ihrem Einstieg in das Modellprojekt bemüht, Unterrichtsformate für den Ganztag zu entwickeln, wo sich die Kinder über ethische Fragen austauschen können, und die über eine bloße Betreuung in Randstunden hinausgehen.
"Ich glaube, das ist angekommen – und das ist jetzt die notwendige Reaktion des Ministeriums darauf, dass nicht mehr alle Menschen in unserem Land, einen konfessionell gebundenen Unterricht wünschen. Es gibt ja viele Atheisten auch, oder Elternhäuser, die sich an anderen Werten orientieren, aber genau für die brauchen wir auch Angebote in Schule – und zwar gehaltvolle Angebote, die auch nach einem Curriculum unterrichtet werden."
Zusätzliche Unterrichtsstunden - zusätzliche Stellen
An den weiterführenden Schulen gibt es das Unterrichtsfach Werte und Normen bereits – nun fühlen sich Grundschulleiter wie Post mehr gleichgestellt als bisher.
"Es ist eine gute Chance, den Beruf der Lehrkraft im Primarbereich noch weiter zu stärken und zu verbessern. Der wird umso attraktiver, wenn wir noch ein weiteres Fach haben."
Zwei Unterrichtsstunden Werte und Normen in der Woche – das hat Einfluss auf die Stundentafel. Auf längere Sicht will das Kultusministerium eine überschaubare Zahl zusätzlicher Stellen schaffen. Überhastet oder gar überfordert wird dabei nicht, betont Kultusminister Grant Hendrik Tonne (SPD): Nach Auswertung der Projektphase ist auch die Einrichtung eines Studiengangs "Werte und Normen für die Grundschule" geplant. Ab dem Schuljahr 2025/2026 will Niedersachsen dann an allen Grundschulen das Unterrichtsfach als Ergänzung zum Religionsunterricht einführen. Dazu muss allerdings erst noch das Schulgesetz geändert werden.
Landeselternrat und Kirchenvertreter gaben dem Vorhaben bereits ihren Segen – zumal Minister Tonne betont, dass mit Werte und Normen keinerlei Zweifel am Stellenwert des Religionsunterrichts oder gar Kürzungspläne einhergehen.
"Nicht nur weil er verfassungsrechtlich garantiert ist, sondern weil ich inhaltlich der Überzeugung bin, dass dort ein sehr wertvoller Beitrag von ethisch-religiöser Bildung geleistet wird."
"So wie wir sagen, es gibt ein Recht jedes Kindes auf religiöse Bildung, so kann man genauso gut argumentieren, dass Eltern ein Recht haben, dass ihre Kinder nicht religiös erzogen werden."
Zusammenarbeit mit Religionsunterricht
Sagt Oberlandeskirchenrätin Kerstin Gäfgen-Track von der Konföderation Evangelischer Kirchen in Niedersachsen.
"Und dafür ist dann Werte und Normen das angemessene Fach, weil es muss in der Bildung jedes Kindes eine Auseinandersetzung geben mit den Fragen nach Werten, Sinn, Orientierung und Wahrheit. Ich muss herausfinden, was mich in meinem Leben hält, trägt, was für Überzeugungen ich habe und woher ich auch meine Motivation nehme, mich einzusetzen und zu engagieren."
Kein Wunder, meint Gäfgen-Track, dass sich der konfessionelle Religionsunterricht als wertvolle Orientierungshilfe weiterhin großer Beliebtheit erfreue. Konkurrenz belebt das Geschäft, schmunzelt sie – und hofft, dass sich mit der Einführung von Werte und Normen noch mehr Religionsmündige ausprobieren werden.
"Die Ansprüche, die an dieses Fach gestellt werden, sind hoch – das gilt genauso für den Religionsunterricht. Und das heißt, beide Fächer müssen qualitativ sehr gut aufgestellt werden, die Curricula müssen sehr differenziert sein – und unser Wunsch wäre, dass es zu einer Zusammenarbeit zwischen beiden Fächern auch an der Grundschule kommt."