El Salvadors offene Wunden

Wo sind die Verschwundenen?

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Andre Mejilla, genannt Andresito, verlor zwei Kinder im Bürgerkrieg. Sie wurden vom Militär verschleppt und zur Adoption freigegeben. Eines hat er mit Hilfe des Vereins Pro-Búsqueda wiedergefunden.
Die Söhne von Andre Mejilla wurden nach Italien verkauft © ADVENIAT
Von Ellen Häring · 14.11.2018
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Während des Bürgerkrieges in den achtziger Jahren sind rund 10.000 Menschen in El Salvador verschwunden - bis heute ist ihr Schicksal nicht aufgeklärt. Kinder suchen nach ihren Eltern, Eltern nach ihren Kindern. Und manchmal gibt es ein Wiedersehen.
"Wenn ich mit 15 Tagen ins SOS Kinderdorf gekommen bin und aus den Papieren des Roten Kreuzes hervorgeht, dass es sieben Tage gedauert hat, bis eine Bleibe für mich gefunden wurde, dann kann ich nicht älter als vier bis sechs Tage gewesen sein, als ich aus den Armen meiner Mutter gerissen wurde."
Magdalena Emperatriz ist heute 36 Jahre alt, eine sanfte, aber traurige Frau. In El Salvador tobte in den achtziger Jahren, als sie geboren wurde, ein blutiger Bürgerkrieg. Die Militärjunta kämpfte zusammen mit ultrarechten Paramilitärs gegen die linke Guerilla. Viele Kinder von vermeintlichen Kommunisten wurden getötet, verschleppt, entführt, ins Ausland verkauft.
Magdalena Emperatriz Meleíndez wurde als Kind von den Militärs verschleppt und wuchs in einem Kinderheim auf. Mit Hilfe des Vereins Pro-Búsqueda fand sie ihre wahre Familiengeschichte heraus.
Magdalena Emperatriz wurde als Säugling verschleppt und sucht ihre Mutter © ADVENIAT
So auch Magdalena, die als Säugling ins SOS-Kinderdorf kam und dort aufgewachsen ist. Es herrschte ein strenges Regime. Nicht ein einziges Mal hat sie dort jemand besucht. Sie war immer allein. Mit 15 Jahren wurde sie entlassen.
"Ich habe niemanden gekannt, ich habe niemandem vertraut. Ich habe sechs Monate lang mit niemanden gesprochen. Sechs Monate! Ich bin dann zu meiner Heimmutter zurückgegangen und habe gefragt: Warum haben Sie das zugelassen? Warum haben Sie mich so behandelt?"
Magdalena hat es irgendwie geschafft. Sie ist nun verheiratet und hat selbst zwei Kinder. Aber die Liebe ihrer Mutter vermisst sie bis heute.
"Wir spüren das, als wäre es gestern gewesen. So geht es uns allen. Und je bewusster wir dem begegnen, desto größer ist der Schmerz".

Pro Búsqueda hilft bei der Suche

Mit anderen Betroffenen und mit Hilfe der Organisation Pro Búsqueda sucht sie nach Spuren ihrer Mutter. Die Hoffnung, sie lebend wiederzusehen, hat sie aufgeben. Aber sie will von den Verantwortlichen wissen, was damals passiert ist.
"Das Militär hat sie mitgenommen, also wissen die genau, was sie mit ihr gemacht haben. Wir wollen den Kreis dieses Schmerzes schließen. Manche sagen, was willst du, du bist doch inzwischen erwachsen. Aber das hilft nicht. Ich sitze manchmal da und weine bitterlich. Meine Kinder fragen mich, was ich habe, und ich kann nur sagen: Ich wünsche mir so sehr, dass mich meine Mutter in den Arm nimmt."
Magdalena konnte inzwischen ihren Vater wiederfinden, der noch im gleichen Dorf wie damals wohnt und dem sie so ähnlich sieht, dass ein DNA-Test, wie ihn Pro Búsqueda anbietet, überflüssig war. Die Begegnung war ernüchternd: der Vater wurde sieben Tage lang schwer gefoltert und leidet seither unter massiven Angststörungen. An die Mutter und die Ereignisse rund um ihr Verschwinden kann er sich nicht mehr erinnern.
Magdalena findet Hilfe und Zuwendung bei Pro Búsqueda in der Gruppe derer, die ebenfalls seit Jahrzehnten auf der Suche nach ihren Familienangehörigen sind.
Suyapa und José Fernando Serrano Cruz, Reina del Carmen Guerra und Magdalena Emperatriz Meleíndez engagieren sich für den Verein Pro-Búsqueda.
Gruppentreffen bei der Organisation Pro Búsqueda© ADVENIAT
Einer davon ist Andre Mejilla. Der alte Mann mit grauem Igelhaarschnitt ist einer der Gründer der Organisation. Er kämpfte in der Guerilla, als seine zwei Söhne, damals drei und fünf Jahre alt, verschleppt wurden.
"Ich hatte die Kinder zu meiner Mutter gegeben, sie waren in einer Gegend, in der nicht viel gekämpft wurde. Da kam eine Nonne zu ihr und hat ihr vorgeschlagen, dass sie die Kinder mitnimmt in die Ordensschule, damit sie dort lernen können. Und das war Betrug."
Die Nonne wurde reich während des Bürgerkrieges. Mehr als 100 Kinder hat sie verkauft, wie sich später herausgestellt hat. Zwischen 10.000 und 20.000 Dollar soll sie pro Kind kassiert haben.
"Die Anmeldung in der Schule machte den Weg frei für eine Adoption nach Italien."

Andres Sohn will seinen Vater nicht mehr sehen

Andres Söhne wurden in Italien getrennt, sie wuchsen in unterschiedlichen Familien auf. Einer bekam einen neuen Namen. Das machte die Suche für Andre schwierig. Aber er gab nicht auf. Dank der vorhandenen Puzzleteile und der genetischen Datenbank, die Pro Búsqueda pflegt, hatte er schließlich Erfolg.
"2007 bin ich nach Italien gereist. Jaime, mein Ältester, wollte, dass ich komme. Das war für mich so eine große Freude! Ich war bei meinem Sohn, ich habe seine Adoptiveltern kennengelernt, es sind sehr, sehr gute Menschen. Mein anderer Sohn wollte mich nicht sehen."
Bis heute nicht. Aber Andre gibt die Hoffnung nicht auf. Oft verhindern die Adoptiveltern eine solche Begegnung, denn auch sie tragen schwere Schuld. Sie wollten ein Adoptivkind und kümmerten sich nicht darum, auf welchen Wegen es nach Europa kam. Immerhin: die beiden Brüder kennen sich jetzt und sind in Kontakt.
José Lazo ist MItarbeiter des Vereins Pro-Búsqueda in San Salvador. Der Verein wurde 1994 von den Angehören von im Bürgerkrieg verschleppten Kinder gegründet. Bis heute führt der Verein Familien zusammen.
José Lazo ist Mitarbeiter bei Pro Búsqueda. Der Verein führt Familien zusammen.© ADVENIAT
Die Organisation Pro Búsqueda hat viel erreicht – nicht nur für Andre und Magdalena. Rund 3000 Menschen sind in dem Verein organisiert, alle sind auf der Suche nach Familienangehörigen, alle fordern eine Wiedergutmachung für das Leid, das ihnen angetan wurde. Aber die Regierung El Salvadors will einen Schlussstrich ziehen. Ein Gesetz, das die Aufarbeitung des Bürgerkriegs, die Bestrafung der Schuldigen und Reparationen für die Opfer vorsieht, wird seit Jahren weder bearbeitet, noch verabschiedet. Das geschieht vorsätzlich, meint José Lazo von Pro Búsqueda:
"Hinter diesem Verschleppen steckt Absicht. Sie warten darauf, dass das Ganze vergessen wird, dass die Zeit vergeht und es keine Überlebenden mehr gibt, die Forderungen stellen können. Aber das Wichtigste sehen sie nicht: Gewalterfahrungen werden über Generationen weitergegeben. Was wir heute nicht verarbeiten, muss die nächste Generation lösen. Solange die Wunden nicht geschlossen und verheilt sind, wird es keine Ruhe geben."

"Das braucht Zeit, viel Zeit"

Auch Andre läuft die Zeit davon. Er ist inzwischen über 70 und hofft darauf, dass seine beiden Söhne irgendwann ihre Wurzeln suchen und ihn als Vater sehen – wenigstens als zweiten.
"Es ist ein langer Prozess, das braucht Zeit, viel Zeit. Man bräuchte eigentlich eine psychologische Hilfe. Ich möchte so gerne nochmal nach Italien fahren. Dann will ich die beiden davon überzeugen, dass sie nach El Salvador kommen, um ihre biologische Familie kennenzulernen."

Die Recherche für diesen Beitrag fand im Rahmen einer Pressereise von Adveniat statt. Adveniat ist das Lateinamerika-Hilfswerk der katholischen Kirche und unterstützt die Organisation Pro Búsqueda.