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Gruppe ohne Damen

Pünktlich zum dreißigsten Jahrestag von Willy Brandts Rücktritt als erster sozialdemokratischen Kanzler seit der Weimarer Republik wurde in Berlin ein Stück aufgeführt, das die bewegenden Ereignisse der Jahre zwischen 1969 und 74 in einer Tragikomödie zusammenrafft. Schauplatz mehr oder weniger das imaginäre Büro des inneren Kreises der Macht, von Brandt, Wehner und Helmut Schmidt über den Chef des Verfassungsschutzes bis hin zu Brandts Leibwächter und Günter Guillaume, Referent im Kanzleramt und- Stasiagent. Es ist ein reines Männerstück, in dem aber nicht wenig über Frauen als Ehefrauen, Geliebte, Verehrerinnen und verführtes und verführerisches Publikum geredet wird.

Von Katharina Rutschky | 10.08.2004
    Ich habe die Aufführung von Michael Frayns Stück nicht gesehen, das kein Publikumserfolg war und auch bei den Theaterkritikern skeptisch aufgenommen wurde. Das ist kein Einwand gegen den vielschichtigen Text des englischen Autors, den ich nun gelesen habe und der mich fasziniert, gerührt und ja, auch öfter zum Lachen gebracht hat. Mich zog er in Bann und löste Emotionen aus, wie es der Aufführung offenbar nicht gelungen ist. Und warum nicht? Der Premiere in Berlin wohnte auch Horst Ehmke bei, kurze Zeit Chef des Kanzleramts unter Brandt. In der Pause soll er gutgelaunt seine Version einiger Ereignisse von damals zum Besten gegeben haben. Auch Helmut Schmidt, der 1974 dann Brandts Nachfolger wurde, hätte jetzt dabei sein können.

    Andere wichtige Protagonisten jener Jahre sind tot. Wehner, der Parteimann, der die SPD endlich wieder regierungs- und sozusagen salonfähig machen wollte, Brandt, der als Emigrant mit einer neuen Politik die lange Ära der westdeutschen Restauration abschließen konnte und nicht zuletzt Günter Guillaume, der als Stasiagent die Interessen des anderen deutschen Staates vertrat. Man erinnere sich: Mit der sozialliberalen Koalition wurden unter Brandts Parole "Mehr Demokratie wagen!" nicht nur zivilgesellschaftliche Reformen in der alten Bundesrepublik eingeleitet, mit den Ostverträgen und Brandts Kniefall vor dem Warschauer Denkmal, seinem Besuch in Erfurt wurden auch die Fronten des Kalten Kriegs der Systeme aufgeweicht. Dass diese Realpolitik langfristig nicht nur zur Anerkennung eines zweiten deutschen Staates führte, sondern gerade damit das Ende des real existierenden Sozialismus vorbereitete, konnte damals noch keiner ahnen.

    Unter ästhetischen, theatralischen Gesichtspunkten betrachtet, ist aber klar, weshalb die Bühne heute noch nicht der Ort sein kann, auf der Brandts Kanzlerschaft sichtbar gemacht werden kann. Frayns Text muss sich gegen die Zeitzeugen im Publikum behaupten und jeder Schauspieler muss gegen die Präsenz der Bilder antreten, die wir von allen Protagonisten, tot oder lebendig, immer noch vor Augen haben. Shakespeares Königsdramen überzeugten, weil keiner wusste, wie der König aussah. Weder Bilder noch Erinnerungen oder Informationen störten wie jetzt bei Frayn die Konzentration auf den Kern der Ereignisse und die Psychologie der Mächtigen. Frayns Stück, zwar fürs Theater geschrieben, ist nur ein spannender Lektürestoff. Für eine Aufführung käme allein das Hörspiel in Frage, bei dem das Wissen und die Bilder im Kopf des Rezipienten nicht stören, sondern vorausgesetzt werden, um den Raum der Imagination zu füllen.

    Wäre ich noch Lehrerin, würde ich nicht zögern, das Stück mit dem großen Titel "Demokratie" im Unterricht durchzunehmen. Für eine junge Generation von Nichtwählern und Politikverächtern wäre das Lernziel Nummer eins: Demokratie ist keine einfache, saubere und inzwischen selbstverständliche Sache, so unromantisch wie die Müllabfuhr oder die Stromzufuhr. Zweites Lernziel: Politik in der Demokratie ist auch intern, nicht nur extern immer wieder Politik, nämlich Konflikt, Interessengegensatz und Kompromissbildung. Parteien, ja sogar einzelne Personen sind ein Schlachtfeld konkurrierender Interessen und Optionen. Bei Frayn wird gegen Brandts sympathische Zögerlichkeiten, die zu nichts führen, Wehners Machtpolitik rehabilitiert. Aber Wehner und Brandts Kronprinz Helmut Schmidt wissen auch, dass ihre Macht an das Charisma und die unberechenbare Person geknüpft ist, die Willy Brandt heißt. Drittes Lernziel: Auch die Macht, wie legitimiert auch immer, liegt in den Händen von Menschen, nicht Politikrobotern und Bürokraten.

    Man weiß, dass Willy Brandt nicht nur seinen Rücktritt, sondern ebenso den so genannten Radikalenerlass von 1972 bedauert und bereut hat. Bei Frayn wird der Schmerz Brandts, der jungen Linken jener Jahre nicht gerecht geworden zu sein, obwohl er dazu historisch-biographisch prädestiniert gewesen ist , nur angedeutet im Blickkontakt auf der Wahlreise mit einem jungen Mann . Er spürt die Ablehnung und rechnet sie seinem Versagen zu. Bilanzkrise nennen die Psychologen das Phänomen, das zu abrupten Umorientierungen, krassen Fehlentscheidungen , aber auch zum Suizid führen kann.

    Interessant ist noch der Kunstgriff, mit dem Frayn nicht nur die schmutzige Romantik der Demokratie sondern auch die historisch gewordenen Ereignisse jener Jahre in Szene setzt, die sich heute , wo wir alles besser wissen, kaum noch verstehen lassen. Alle Personen des imaginären Büros der Kanzlerschaft Brandt sind jederzeit auf der Bühne anwesend und leben in der Aktualität der Ereignisse zwischen 1969 und 74. Sie werden mit all ihren Wünschen und Handlungen aber noch einmal, teils von sich selbst und auch von jenseits des Grabes aus der Jetztzeit reflektiert. Der vieldimensionale Raum, der sich hier auftut ist vermutlich erst in hundert Jahren bühnentauglich.

    Michael Frayn
    Demokratie. Stück in zwei Akten
    Wallstein Verlag, EUR 14,-