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Günter Verheugen: Die Europäische Union braucht "volle Parlamentarisierung"

Der ehemalige EU-Kommissar für Erweiterungsfragen und Industrie, Günter Verheugen, sieht eines der Grundprobleme der europäischen Einigung darin, dass "wir nicht so viel Demokratie auf der Brüsseler Ebene verwirklicht haben, wie sie in Wahrheit längst möglich wäre".

Günter Verheugen im Gespräch mit Tobias Armbrüster | 25.10.2011
    Tobias Armbrüster: Die Europäische Union befindet sich an diesem Dienstag in einer Art Schwebezustand. Der letzte Gipfel am Sonntag hat keine konkreten Ergebnisse gebracht, die werden erst wieder morgen, beim nächsten Gipfel erwartet. Zum entspannten Abwarten in dieser Zwischenzeit bleibt aber auch keine Gelegenheit, denn der Bundestag muss bis morgen entscheiden, mit welchem Mandat Angela Merkel nach Brüssel fahren kann, und es melden sich jetzt schon wieder die Kritiker zu Wort.
    Wohin steuert also die EU und wie gut sind die deutschen Krisenmanager? Darüber können wir jetzt mit Günter Verheugen sprechen. Er war zehn Jahre lang EU-Kommissar und ist heute Honorarprofessor an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder. Schönen guten Morgen, Herr Verheugen.

    Günter Verheugen: Guten Morgen!

    Armbrüster: Herr Verheugen, erkennen Sie die EU, Ihren alten Arbeitsplatz, in diesen Tagen wieder?

    Verheugen: Nein! Das sieht ja eher aus wie ein Chaosclub. Aber auf der anderen Seite hatten wir natürlich eine solche Krise noch nie. Und die Europäische Union, die nun einmal kein Staat ist, kann nicht so entschlossen, schnell und transparent handeln, wie ein Staat mit einer einheitlichen Regierung und klaren Strukturen das kann. Insofern muss man ein gewisses Verständnis haben. Aber das Krisenmanagement ist schlicht und einfach schlecht.

    Armbrüster: Wer ist für das Chaos verantwortlich?

    Verheugen: Nun, die Verantwortung liegt bei allen, aber natürlich tragen die größeren immer mehr Verantwortung als die kleineren, und da wir uns hier über deutsche Politik auch unterhalten, muss man schon sagen, dass die schwersten Fehler ganz am Anfang und zwar in Deutschland gemacht worden sind, als man das griechische Problem vollkommen unterschätzt hat und dem Markt vollkommen falsche Signale gegeben hat.

    Armbrüster: Aber ist das nicht verständlich? Es war, wie Sie sagen, eine Krise, die so vorher noch niemand gesehen hat. Da muss man sich doch mit Bedacht und langsam nähern.

    Verheugen: Das ist vollkommen richtig, und genau das hat man nicht getan. Man hat ein hektisches Krisenmanagement betrieben, man hat ein Krisenmanagement betrieben, das vollkommen widersprüchlich war, man hat ein Krisenmanagement betrieben, das die Märkte, die Finanzanleger, diejenigen, an die sich diese ganze Politik ja richtet, eher noch mehr verwirrt hat, als man ihnen Klarheit gegeben hat. Jetzt sind wir in einem Stadium, in dem es eigentlich keine wirklich überzeugenden Alternativen mehr gibt. Wir haben eigentlich nur noch die Wahl zwischen einer ganzen Reihe von Übeln.

    Armbrüster: Wir haben jetzt erlebt in den vergangenen Tagen, dass es einen mühsamen neuen Prozess gibt, dass Angela Merkel zunächst nach Brüssel fährt, dort mit ihren Kollegen spricht, dann wieder nach Deutschland zurückkommen muss, um sich ein Mandat des Bundestages abzuholen, und dann erneut drei Tage später nach Brüssel fahren kann. Sind die Deutschen jetzt die Bremser in der EU?

    Verheugen: Ach nein, das würde ich nicht sagen. Dass der Bundestag bei diesen Entscheidungen eine Rolle spielen muss, halte ich für vollkommen richtig, jedenfalls solange wir nicht entsprechende demokratische Strukturen in Brüssel haben. Man kann ja doch nicht solche Entscheidungen, die für unsere Zukunft von gewaltiger Bedeutung sind, nicht ohne parlamentarische Mitwirkung treffen. Wo kommen wir denn hin, wenn wir einen demokratiefreien Raum in Europa haben würden? Also finde ich vollkommen normal, dass der Bundestag hier eingeschaltet wird. Ich finde es allerdings auch normal, dass die Abgeordneten darüber klagen, dass sie nicht genügend Zeit haben, sich gründlicher auf eine solche Entscheidung vorzubereiten.
    Damit das hier ganz klar ist: Das ist eine Entscheidung, die uns für die Zukunft Verantwortung, Risiken und Lasten auferlegt, die wir nicht genau abschätzen können. Das Einzige, was wir wirklich wissen, ist: Die Risiken für Deutschland, für die Bonität Deutschlands, aber auch für das Wachstum und für den Wohlstand in Deutschland werden größer, und es wird nicht abgehen ohne eine klare Belastung, eine zusätzliche Belastung auch für den deutschen Haushalt.

    Armbrüster: Ich will noch mal zurückkommen auf das Vorgehen mit der Abstimmung im Parlament. Könnten Sie sich vorstellen, dass man so etwas in allen 17 Euro-Staaten durchführt?

    Verheugen: Ja, ich kann mir das vorstellen und will auch gar nicht ausschließen, dass das eines Tages so kommt. Das ist einer der Hauptgründe, warum ich glaube, dass wir eines der Grundprobleme der europäischen Einigung wirklich anfassen müssen, nämlich die Tatsache, dass wir nicht so viel Demokratie auf der Brüsseler Ebene verwirklicht haben, wie sie in Wahrheit längst möglich wäre. Wo Entscheidungen fallen, braucht es eine demokratische Rechtfertigung dafür. Und wenn ich sie auf der nationalen Ebene nicht habe, dann muss ich sie auf der europäischen Ebene haben. Aber genauso geht es umgekehrt. Das ist ja wohl auch die entscheidende Aussage des Bundesverfassungsgerichts, die ich an dieser Stelle auch für richtig halte.

    Armbrüster: Brauchen wir dann noch weitere neue EU-Institutionen, zum Beispiel einen Euro-Finanzminister oder einen Schuldenkommissar?

    Verheugen: Man muss sich darüber klar sein, dass hinter diesen Begriffen ja nichts anderes steckt als die Übertragung von Kompetenzen von der nationalen Ebene auf die Brüsseler Ebene, ohne dass das bedeutet, dass einzelne Länder ganz oder teilweise unter Brüsseler Kuratel gestellt werden. Das geht nicht ohne eine sehr weit reichende Vertragsänderung, und mein Eindruck ist, dass jede weitere Übertragung von zentralen nationalen Kompetenzen auf die europäische Ebene nicht mehr möglich ist ohne diesen großen institutionellen Umbau, der dafür sorgen würde, dass das demokratische Defizit nicht noch größer wird.

    Armbrüster: Wie würden Sie sich diesen Umbau vorstellen?

    Verheugen: Nun, wir brauchen am Ende natürlich die volle Parlamentarisierung der gesamten Europäischen Union. Überall da, wo Gemeinschaftsentscheidungen fallen, muss das Parlament volle Mitwirkungs- und Gestaltungsmöglichkeiten haben.

    Armbrüster: Also das Europaparlament?

    Verheugen: Das Europaparlament, ganz klar! Und solange das Europaparlament das nicht hat, müssen das die nationalen Parlamente tun. Ich würde auch noch einen Schritt weitergehen. Ich finde auch, dass die europäische Exekutive, also die Kommission, insbesondere dann, wenn man daran denkt, sie noch stärker zu machen, als sie schon ist, dann auch wesentlich stärker eingebunden sein muss in dieses System, also aus Wahlen hervorgehen sollte.

    Armbrüster: Da klingt jetzt, Herr Verheugen, schon wieder so eine richtige Europa-Euphorie heraus aus Ihren Worten.

    Verheugen: Nein, nein.

    Armbrüster: Haben Sie denn den Eindruck, dass so etwas überhaupt zurzeit noch realistisch ist? Sind die Leute nicht eher auf dem Rückzug und betrachten Europa mit sehr viel mehr Skepsis als noch vor einigen Jahren?

    Verheugen: Ich finde ja ganz interessant in dieser Diskussion, dass wir auf der einen Seite zwar Unzufriedenheit und Skepsis haben über das Krisenmanagement, auf der anderen Seite aber sich Leute zu Wort melden, von denen man das nie erwartet hätte, die sagen, wir dürfen aber das nicht in Gefahr bringen, was wir mit der Politik der europäischen Einigung erreicht haben. Und wenn ich dem Bundestag hier einen Rat geben dürfte: Er darf bei seiner Entscheidung nie vergessen, was das zentrale deutsche Interesse ist. Das zentrale deutsche Interesse ist es, dafür zu sorgen, dass die wichtigsten Errungenschaften, die europäischen Errungenschaften, was die wirtschaftliche Seite angeht, nämlich der Binnenmarkt und die Währungsunion, intakt bleiben, denn Deutschland ist das Land in Europa, das am meisten davon abhängig ist, dass diese beiden großen Einrichtungen funktionieren. Er sollte übrigens aber auch bedenken, dass Europa nicht eine rein ökonomische Veranstaltung ist. Ich habe jetzt so ein bisschen den Eindruck, als reduziert sich diese ganze Vorstellung von dem gemeinsamen Zusammenleben der Europäer auf die Frage, wie wir gemeinsam unseren Wohlstand sichern oder mehren können. Europa ist ein bisschen mehr, sogar sehr viel mehr als eine rein ökonomische Veranstaltung.

    Armbrüster: Aber rückt das nicht immer weiter in den Hintergrund? Sie spielen da jetzt an auf die europäische Geschichte, Zweiter Weltkrieg, anschließend die europäische Einigung und damit auch verbunden der Wiederaufstieg Deutschlands. Ist das nicht ein Teil der Geschichte, der immer weiter in den Hintergrund rückt, ganz automatisch, weil jetzt andere Generationen das Sagen haben, Generationen, die von diesen Erlebnissen nicht so sehr berührt sind?

    Verheugen: Das ist vollkommen richtig. Das ist ein Risiko für den inneren Zusammenhalt, dass die Erlebnisgeneration abtritt oder schon abgetreten ist und für die jüngeren diese großen Errungenschaften eher selbstverständlich sind. Deshalb sehe ich es als eine Verantwortung meiner Politikergeneration an, dieses Wissen auf jeden Fall weiterzugeben. Man muss sich klar darüber sein, dass die Tatsache, dass wir nun schon so lange in Frieden leben in Europa, eben keine Selbstverständlichkeit ist, sondern das Ergebnis eines politischen Willens, eines politischen Prozesses.

    Armbrüster: Glauben Sie, Herr Verheugen, dass da die anderen EU-Mitgliedsländer und vor allen Dingen die Länder in der Eurozone mit einem ganz besonderen Blick auf uns Deutsche gucken?

    Verheugen: Zweifellos tun sie das. Deutschland ist die größte Volkswirtschaft, Deutschland ist das Land, das auch das größte Finanzpolster noch hat.

    Armbrüster: Ich meine, schwingt da die Historie auch immer noch mit?

    Verheugen: Ja, die schwingt immer mit, und das ist vor allen Dingen wichtig, wenn es um den Stil geht. Nehmen wir mal diese Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Frankreich, ohne die es ja in Wahrheit in Europa nicht geht. Deutschland und Frankreich müssen zusammenstehen und eine gemeinsame Position haben, das ist eine absolut notwendige, aber allein nicht ausreichende Bedingung. Aber wie das gemacht wird? Deutsche und Franzosen dürfen nie den Eindruck erwecken, dass sie ein Direktorium bilden wollen, und wenn sie sich getroffen haben, Frau Merkel und Herr Sarkozy, dann wird der Welt mitgeteilt, was man machen will, und die anderen haben zu kuschen. Das ist das, was die anderen stört, nicht so sehr die Tatsache, dass die Deutschen und Franzosen sich verständigen. Das möchten alle, denn wenn die Deutschen und Franzosen es nicht tun, dann werden sie dafür kritisiert, dass sie ihre Führungsverantwortung nicht wahrnehmen. Die Frage ist, wie sie es tun.

    Armbrüster: Und sie tun es zurzeit nicht besonders gut, meinen Sie?

    Verheugen: Nein. Es ist ganz offenkundig, dass beide, die Deutschen und die Franzosen, sehr, sehr, sehr fixiert sind, was ihre eigenen Probleme angeht, und dass sie bei ihren Handlungen wenig Rücksicht nehmen auf die Bedürfnisse der Partner in der Eurozone und in der gesamten Europäischen Union.

    Armbrüster: Der ehemalige EU-Kommissar Günter Verheugen war das hier heute Morgen live bei uns im Deutschlandfunk. Besten Dank, Herr Verheugen, für das Gespräch und einen schönen Tag noch.

    Verheugen: Danke schön.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.