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Gunter Hofmann: Abschiede Anfänge. Die Bundesrepublik - eine Anatomie.

Seit nunmehr einem Vierteljahrhundert ist Gunter Hofmann Korrespondent für die Wochenzeitung "Die Zeit", einst in Bonn, jetzt in Berlin als Leiter des dortigen "Zeit"-Büros. So einer wie er ist geradezu prädestiniert, um abseits des aktuell-politischen Tagesgeschäftes die Wandlungen der politischen Kultur in Deutschland im Laufe der Jahrzehnte zu beobachten und zu protokollieren. Diese Beobachtungen hat Hofmann nun auf 458 Seiten in Buchform zusammengefasst.

Rainer Burchardt | 24.06.2002
    Der Titel mag ja etwas hausbacken klingen, ja eher die Befürchtung nähren, hier könnte ein namhafter Publizist nochmals das Spannungsfeld Bonn-Berlin abfeiern. Zumal einer, der gut dreißig Jahre lang sein journalistisches Zentrum in der rheinischen Politmetropole von einst erlebt hat. Gunter Hofmann hat der Versuchung widerstanden, eine Neuauflage der Allerweltsformel "Berlin ist nicht Bonn" zu versuchen. Vielmehr hat der Autor auf bemerkenswert gut lesbare Art und Weise die vielfältigen Aspekte des Paradigmenwechsels, die sich natürlich auch mit der nicht nur geografischen Verlagerung des Schwerpunktes der deutschen Politik verbinden, aufzuzeigen, zu analysieren und zu bewerten. Es ist solchermaßen ein Buch entstanden, das so etwas wie eine Standardlektüre zur politischen und moralischen Befindlichkeit der Deutschen eingangs dieses Jahrhunderts werden kann.

    Schon in seinem Vorwort verrät der Autor, wie er die Zeitenwende im Deutschland des fin des siècle und danach auch, aber nicht nur, durch den Regierungswechsel beurteilt.

    Es findet keine plötzliche Neugründung statt, aber die Dimension dessen, wovon wir uns verabschieden und was neu anfängt, rückt ins Bewusstsein. Dafür stehen Wendemarken wie 1968, 1989 oder 1998. Dabei zeigt sich dann schlaglichtartig, was allmählich konstitutiv geworden ist, wohinter also kein Weg mehr zurückführt. Zum Glück. Die Bundesrepublik ist ein liberales Land des Westens geworden, angebunden an dessen Maßstäbe, sie vertraut den einzelnen Bürgern, die wiederum nicht mehr nur auf den Staat irgendwo oben warten, sie wird getragen von westlichen zivilisatorischen Prinzipien, einschließlich des Parlamentarismus. Der allerdings braucht, das muss man hinzufügen, auch selbstbewusste Abgeordnete und neuen Selbstbehauptungswillen in einer vielfach zerstreuten Öffentlichkeit und in der zerfasernden zivilen Gesellschaft.

    Gewissermaßen induktiv führt Hofmann aus inzwischen allgemein gültigen Ereignissen und Erkenntnissen zum Besonderen des aktuellen Paradigmenwechsels. Offenbar unter dem nicht unwillkommenen Zwang der aktuellen Beweisführung nimmt sich Hofmann viel Raum und Zeit für die in der Tat äußerst ambivalente Diskussion in der deutschen Öffentlichkeit über den 11. September. Ganz anders und auf gewiss höherem intellektuellen Niveau als der Spiegel-Autor Henryk M. Broder rezipiert Hofmann die globale Diskussion der geistigen Eliten, vor allem Amerikas und Europas zum Terroranschlag, seit dem angeblich nichts mehr sein soll, was bislang war.

    Dabei seziert der Autor, auch herleitend aus der mehr als 50jährigen Geschichte des deutsch-amerikanischen Nachkriegsverhältnisses die transatlantischen Irrungen und Wirrungen im öffentlichen Diskurs über den von der Bush-Regierung initiierten Kampf gegen den internationalen Terrorismus. Dass hierbei die Rolle Deutschlands im Mittelpunkt steht, das den Amerikanern im doppelten Wortsinn ja so viel zu verdanken hat, versteht sich von allein. Nach den parteipolitischen Verwerfungen schon um den Kosovo-Einsatz deutscher Soldaten, verbunden mit Identitätsproblemen vor allem bei den Grünen und dem alten Antagonismus von Bellizisten und Pazifisten ist die Solidarfrage bei Hofmann eine gefährliche Formel. Tatsächlich ist nun endgültig die deutsche Rolle in internationalen Krisen zur Disposition geraten, jedenfalls vor dem Hintergrund ihrer bisherigen Definition.

    Vielleicht hing es damit zusammen, dass uneingeschränkte Solidarität zugesagt worden war und man dem ja angesichts der Bilder aus Amerika nicht widersprechen wollte? Die "vertrauten antiamerikanischen Reflexe", die angeblich überall zu beobachten waren, konnte man allenfalls am Rande aufblitzen sehen. Eine Erklärung für die relative Sprachlosigkeit scheint mir auch darin zu liegen, dass vielen bewusst wurde, wie sehr auch die Bundesrepublik selbst "amerikanisiert" und ein westliches Land geworden ist, wie Amerika diffundiert ist in unser aller Poren. Wo unterscheidet sich denn die "Moderne" der Vereinigten Staaten prinzipiell von unserer? Viel wird man da als Antwort nicht finden. Das lässt sich nicht auf den trivialen Satz verkürzen, wir seien alle Amerikaner. Sowohl die Bekundungen der Solidarität, die ernst gemeint waren, als auch die Kritik an der Reaktion der Vereinigten Staaten übertönten, was alle wissen, dass es dieses Verbindende längst gibt. Zum deutschen Selbstverständnis gehört, wie sich endgültig zeigte, dass es tatsächlich Teil des Westens geworden ist.

    Natürlich ist die Rolle der Bundeswehr vor dem Hintergrund der Diskussion der 50er Jahre um die Wiederbewaffnung der 60er Jahre mit den Notstandsgesetzen, der 70er Jahre während der Entspannungspolitik, der 80er Jahre im Lichte der Nato-Nachrüstung und der 90er Jahre schließlich mit der Auftragserweiterung ihres Einsatzareals ein nicht unwesentlicher Aspekt, der das deutsch-amerikanische Verhältnis prägt. Hofmann greift die Irritationen auch in der NATO über die geradezu autistisch anmutende Haltung der Amerikaner zu den Folgen des sogenannten Bündnisfalls auf. Zur Staffage degradiert scheinen vor allem Frankreich, England, Deutschland zu willfährigen Statisten auf der Weltbühne der internationalen Machtpolitik zu verkommen. Der amerikanische Unilateralismus, der rücksichtslos Urständ feiert, ist für Hofmann nur schwer vereinbar mit einer neuen Selbstbehauptung Europas, wie sie ja so oft gefordert wird. Dass auch heute wieder Kritik an Amerika sogleich mit Antiamerikanismus gleichgesetzt wird, bestätigt offenbar wie wenig aus sich selbst heraus diese jahrzehntelange politische Freundschaft sich begründen lässt. Gerade der Vietnam-Krieg war es ja wohl auch, der immer wieder zu Recht eine kritische Solidarität mit Amerika begründete, zu der auch und natürlich eine radikalere Ablehnungshaltung junger Menschen in Europa geführt hat.

    Hofmann nimmt die Vita des heutigen deutschen Außenministers als Inkarnation der schwierigen Identitätssuche in Deutschland der letzten Jahrzehnte. Ihm kommt dabei auch und gerade Willy Brandt in den Sinn.

    Die "Brüche" im Leben Joschka Fischers, der an die Revolution geglaubt haben mag und dafür auf die Straße gegangen ist, sind mit den Brüchen im Leben des Emigranten Brandt, der Hitler bekämpfte, nicht vergleichbar. Im Gegenteil vermittelt gerade dieser Blick auf Brandt den Eindruck, dass dreißig Jahre später einige junge Leute sich die Narben holen wollten, die das Leben ihnen nicht schlug. An Willy Brandts oder Herbert Wehners Leben gemessen, wirken noch die härtesten "Straßenkämpfe" der Studentenrevolte wie Revolutionstheater oder die Politik in der Postmoderne - wie ein bloßes Zitat des Vergangenen. Dass "1968" bitter notwendig war, ist eine Sache; dass die Mythisierung und Selbstmythisierung gleichwohl nicht stimmen konnte, das hätte man angesichts solcher Lebensläufe früher durchschauen können. Aber vermutlich hat die Protestgeneration so genau gar nicht hingesehen - Wehner wurde zum Inventar der Adenauer-Jahre gezählt, und Brandt schien mehr auf der Suche nach einem passenden Image zu sein als nach Politik. Bewunderung, manchmal distanzlose Nähe oder gar Identifikationen, die dem Außenminister (1966), vor allem aber dem Kanzler (1969) Brandt galten, fand man weniger in der Apo als in der Publizistik.

    Die epochenhafte Zeitenwende kam in Deutschland mit lauten Schritten daher, im Inneren mit der Überwindung des Generationenkonflikts in den 60er und 70er Jahren und nach außen mit der neuen Definition der Rolle Deutschlands in der Weltpolitik. Dieser Prozess ist noch in vollem Gange, und wohin er führt, nicht unbedingt absehbar. Dass dies einhergeht mit dem politischen Metropolenwechsel in Deutschland, durchaus auch verbunden mit der Gefahr eines neuen zentralistischen Denkens, mit noch immer ungelösten Ost-West-Problemen und der ungeklärten Rolle eines sich stetig erweiternden Europa schafft für Hofmann die Gefährdung eines nationalen Identitätskonfliktes, der quer durch die Parteien geht. Also doch, Berlin ist nicht Bonn, sondern eher eine neue Wertmarke , ein neues Logo auf der internationalen Emblemtafel.

    Über Bonn oder Berlin als Hauptstadt und Regierungssitz konnte man trefflich streiten. Es leuchteten die Argumente dafür ein, es überzeugten aber auch die Einwände dagegen. Wirklich interessant, auch aus heutiger Perspektive, ist nur, weshalb von so vielen damals das Pathos eines "Neuanfangs" bemüht worden ist. Was stimmte also in dem Wort, Berlin sei für uns, für die neue, größere Republik, die Chance eines Neubeginns, während Bonn nur eine Bestätigung der Eingemeindung Ostdeutschlands sei? Dabei ging es nicht ernsthaft darum, Ostdeutschland als "Erfahrungsland" anzuerkennen, nein, es schimmerte die Hoffnung durch, in Berlin könne es eine "Stunde Null" und die Chance zu einer Neugründung geben. Da tauchte sie wieder auf, diese ewige Sehnsucht nach Klarheit, der Reinheit des ersten Moments, die aus dem Durcheinander der Gründerjahre offenbar geblieben war.

    Nein, Berlin ist kein prinzipieller Neuanfang, sondern eine Fortschreibung, ja eine Erweiterung politischer Kompetenz Deutschlands und der damit verbunden auch Komplikationen. Hofmann sieht dies durchaus auch vor dem Hintergrund eines nicht mehr sonderlich tauglichen Links-Rechts-Lagerdenkens.

    Der Linken ist die "Gesellschaft" aus den Augen geraten. Sie hat, mit anderen Worten, ihre Fähigkeit zur Selbstreflexion verloren, die Lust an der Kritik der herrschenden Verhältnisse, des Status quo, der Orthodoxien und der selbsternannten Autoritäten. Richtig ist, dass dieser einwand oft auch für die liberalen Medien gilt, also für uns Journalisten. Es tragen viele dafür Verantwortung, wenn öffentliche Angelegenheiten zu häufig nicht mehr als öffentlich gelten. Es geht hier nicht darum, den Traum von der Mitsprache "der" Intellektuellen noch einmal zu träumen. Heinrich Böll, der ein "linker" Katholik, war, hätte man nicht zum Politiker machen können, auch wenn es als gesicherte Erkenntnis gelten darf, dass ihn Anstand und Maßstäblichkeit nicht verlassen hätten. Alexander Mitscherlich hat das öffentliche Bewusstsein um psychosoziale Analysen der vaterlosen Nachkriegsgesellschaft bereichert, aber Mitscherlich als Abgeordneter oder Minister? Und Walter Jens? Günter Grass? Jürgen Habermas? Sie beneide ihn nicht darum, über den Einsatz deutscher Soldaten entscheiden zu müssen, hat Christa Wolf einmal in sympathischer Zurückhaltung dem Kanzler gesagt, eine Stellungnahme käme ihr daher auch anmaßend vor. Einige Wahrheiten hat sie übrigens dennoch ausgesprochen über die blinden Stellen der Politik und die Notwendigkeit, besser in "Vorkriegszeiten" zu handeln als dann, wenn es zu spät ist.

    Der neue weltpolitische Pragmatismus der Regierenden findet auch und gerade eine plakative Formel im Schlusskapitel, das da heißt: "Kanzler ist kein Lehrberuf". Bliebe anzumerken, dass Gerhard Schröder, als Lenker unseres Staatsschiffes bei schwerem Wetter allerdings schon viel Lehrgeld hat zahlen müssen.

    Rainer Burchardt über Gunter Hofmann: Abschiede Anfänge. Die Bundesrepuplik - eine Anatomie. Veröffentlicht im Verlag Antje Kunstmann München. 458 Seiten, 24 Euro 90 Cent.