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Haiti: Hilfe kommt nicht bei den Ärmsten der Armen an

Hilfsmaßnahmen kommen hier überhaupt nicht an, sagt die deutsche Ärztin Barbara Höfler, die seit Ende der 90er-Jahre in Port-au-Prince in den Slums der Cité Soleil arbeitet. Eine übergreifende Koordination gebe es nicht. Je kleiner die Hilfsorganisation, umso effektiver ihre Hilfe, so ihr Eindruck.

Barbara Höfler im Gespräch mit Friedbert Meurer | 01.02.2010
    Friedbert Meurer: 180.000 Menschen, so viele sollen nach jüngsten Schätzungen nach dem Erdbeben auf Haiti gestorben sein. 180.000 und auch für die Überlebenden ist die humanitäre Lage immer noch ziemlich katastrophal. Die Krankenhäuser sind restlos überfüllt, wenn sie nicht sowieso völlig zerstört wurden. Lebensmittellager werden überfallen, die Lage ist auch für die Helfer nicht ungefährlich. Inzwischen wird immer deutlicher: bei einer besseren Vorsorge vor Erdbeben und weniger Korruption im Land hätte es weniger Tote gegeben.

    Eine Helferin dort ist die deutsche Ärztin Barbara Höfler, seit Ende der 90er-Jahre in Port-au-Prince hilft sie und behandelt Verletzte und Kranke in den Slums der Cite Soleil. Viele Mitarbeiter der Salesianer von Don Bosco, mit denen sie zusammenarbeitet, haben die Katastrophe nicht überlebt. Die 71jährige ist im Moment in Deutschland, wirbt dort um Spenden, und gestern Abend habe ich sie gefragt, wie sie zuletzt ihre Tage in Haiti erlebt hat.

    Barbara Höfler: Ich habe noch bis zur Abreise Notversorgungen gemacht. Viele Kliniken in Port-au-Prince sind zerstört und die bestehenden Kliniken können keine Patienten mehr aufnehmen. Ich habe also hauptsächlich in den Slums Notversorgungen gemacht, erste Hilfe, habe aber auch unsere Mitarbeiter, das heißt die Mitarbeiter der Salesianer, die zum Teil Knochenbrüche hatten, was ich einfach so bei der Untersuchung schon festgestellt habe, weiter versorgt, weil sie keine Krankenhäuser fanden.

    Meurer: Wenn Sie beispielsweise in der Cité Soleil unterwegs sind, dem Slumgebiet von Port-au-Prince, dann sind Sie mit einer Art Kastenwagen unterwegs. Sie klappen hinten auf und das Ganze ist eine minimale Ambulanz. Mit welchen Verletzungen kommen die Menschen zu Ihnen?

    Höfler: Einer hatte einen ganz, ganz schwer verletzten Fuß mit ganz vielen offenen Wunden, und man wolle heute seinen Fuß abschneiden, also amputieren. "Was soll ich nur machen?" Ich habe dann mit ihm gesprochen und habe gesagt, ich kann mir gar nicht vorstellen, warum man den amputieren muss.

    Meurer: Ist der Fuß schlussendlich amputiert worden?

    Höfler: Der brauchte nicht amputiert zu werden. – Man amputiert alles, was kompliziert zu versorgen ist.

    Meurer: Sie helfen ja seit Jahren den Slumbewohnern in der Cité Soleil, die in Hütten wohnten. Wenn dann das Erdbeben stattfand, haben sie quasi das Glück gehabt, so sarkastisch das klingt, vielleicht zu überleben, weil sie in Hütten lebten. Welche Verletzungen haben sie davongetragen, mit denen Sie dann zu tun hatten?

    Höfler: Ganz schlimme Verbrennungen durch offene Kohlenöfen, die umkippten, oder das kochende Essen auf die Menschen fiel. Viele Prellungen, viele auch Frakturen durch herunterfallende große Betonbrocken, Steine von Dächern, von Steinhäusern, von Mauern. Kinder, die halb verhungert waren, weil in dieser Gegend, in der ich arbeite, die Hilfsmaßnahmen überhaupt nicht eintrafen. Ich habe ein Baby gesehen und ich wusste: Das Baby stirbt. Das ist am nächsten Tag gestorben.

    Meurer: An was ist es gestorben?

    Höfler: An absolutem Wassermangel, Flüssigkeitsmangel. Die Mutter hatte eine beidseitige Brustentzündung und die Ärzte sind manchmal nicht so gut ausgebildet. Die haben der Frau verboten, das Kind zu stillen, haben ihr auch nicht gesagt, sie soll die Milch abpumpen, und die Milch floss permanent aus den Brustwarzen und den Nebenwarzen. Die war völlig nass vorne von Milch und das Kind verhungerte, weil es keine Milch und kein Wasser kriegte.

    Meurer: Wir hören und lesen, dass die internationale Hilfe in Haiti, in Port-au-Prince jetzt etwas besser bei den Menschen ankommt. Ist das so?

    Höfler: Bei manchen Bevölkerungsgruppen, aber nicht bei den Ärmsten der Armen.

    Meurer: Warum nicht?

    Höfler: Die wohnen zum Teil in Gegenden, die als sehr gefährlich gelten, die freiwillig von niemandem angefahren werden, und die wohnen so weit weg und ohne öffentliche Verkehrsmittel verbunden von Stellen, wo eben Essen und Wasser verteilt wird, dass sie das nicht erreichen können.

    Meurer: Regiert die nackte Anarchie jetzt in der Cité Soleil?

    Höfler: Nicht jetzt. Die regiert schon sehr, sehr lange.

    Meurer: Wie können Sie da helfen?

    Höfler: Ich kann nur punktuell helfen. Ich werde ganz viel Geld mitnehmen und werde den Menschen Geld in die Hand geben, denn es gibt überall die Möglichkeit, dass sie etwas kaufen können: auf Straßenmärkten, in kleinen Geschäften, die wieder geöffnet sind. Aber die Menschen haben noch nicht mal fünf Cent, um mit dem Tabtab fahren zu können.

    Meurer: Tabtab, das ist was?

    Höfler: Das sind Pickups, die ganz bunt angestrichen sind. Das sind die öffentlichen Verkehrsmittel. Da sind hinten zwei Bänke drin und da zahlt man fünf Gurd für eine Fahrt. Dieses Geld fehlt den Menschen, die können sich nicht mal den Transport mit diesem Billigmittel leisten, um irgendwo hinzukommen.

    Meurer: Wer koordiniert im Moment die Hilfe, ich sage jetzt mal, außerhalb der Slums? Die Amerikaner, die UNO, die haitianische Regierung?

    Höfler: Das weiß der Himmel.

    Meurer: Sie haben den Eindruck, es läuft völlig planlos?

    Höfler: Ja. Ich habe den Eindruck, dass jede Hilfsorganisation ihr Ding macht. Je kleiner die Hilfsorganisation, desto effektiver. Eine großflächige oder übergreifende Koordination findet nicht statt, fand nicht statt und, ich sage, wird nicht stattfinden.

    Meurer: Wäre das die Aufgabe der haitianischen Regierung, oder ist die ...

    Höfler: Das wäre normalerweise die Aufgabe der haitianischen Regierung. Die ist völlig untergetaucht, unsichtbar seit dem Erdbeben, außer dem Premierminister, der auf einer irgendwelchen Geberkonferenz in Kanada letztlich war und große Reden schwang, aber in Haiti selber sieht man nichts von der Regierung.

    Meurer: Wie erleben Sie die Hilfe der US-Amerikaner? Es ist viel darüber diskutiert worden, es ist eine freundliche Besatzung sozusagen, eine gewünschte Besatzung. Wie sehen Sie das?

    Höfler: Das breite Volk wünscht diese Besatzung nicht, empfindet das als die dritte Okkupation der Amerikaner, denn wenn die Amerikaner einmal irgendwo einmarschieren, dann übernehmen sie auch das Kommando und es ist nichts besser geworden, seitdem die Amerikaner zum Beispiel den Flughafen übernommen haben. Auf dem Flughafen haben sich Hilfsgüter gestaut, sodass man keine neuen mehr reinlassen konnte, weil die nicht verteilt wurden, aber da hat sich nicht viel geändert, seitdem die Amerikaner das übernommen haben.

    Meurer: Sie sind jetzt – persönliche Frage – über 70 Jahre alt, schon seit, ich glaube, 13, 14 Jahren in Haiti aktiv.

    Höfler: 12 Jahre.

    Meurer: Woher nehmen Sie die Kraft, in diesem Alter täglich in den Slums mit Ihrer Ambulanz zu fahren und den Menschen zu helfen?

    Höfler: Man wächst mit seinen Aufgaben, denke ich mal. Ich frage mich nicht selber, woher nehme ich die Kraft. Ich tu's einfach.

    Meurer: Barbara Höfler, Ärztin und sie hilft in Haiti, in Port-au-Prince den Menschen schon vor dem Erdbeben, aber jetzt auch nach dem Erdbeben. Danke schön für Ihren Besuch und auf Wiedersehen.

    Höfler: Auf Wiedersehen.

    Meurer: Wenn sie spenden wollen, oder weitere Informationen zum Engagement von Barbara Höfler, auf ihrer Homepage Strassenkinderhilfe-haiti.de, oder auf unserer Homepage dradio.de, dort eine
    <li_1105425 spendenkontenübersicht="" <="" li_1105425=""> über alle Organisationen, die in Haiti aktiv sind.</li_1105425>