Freitag, 29. März 2024

Archiv

Haiti nach dem Sturm
Die Eskalation der Armut

Vor zwei Wochen fegte Hurrikan Matthew über Haiti und hinterließ Tod und Zerstörung. Nach der Katastrophe kämpft das ärmste Land der westlichen Hemisphäre mit Hunger und Cholera. Im Küstenort Port-à-Piment haben die Einwohner fast alles verloren. Während sie die Trümmer aufräumen, singen ihre Kinder - gegen den Schrecken.

Von Anne-Katrin Mellmann | 15.10.2016
    Leider liegt für dieses Bild keine Bildbeschreibung vor
    Haiti nach dem Sturm Mathew: Wo früher Häuser waren, sind heute nur noch Trümmer. (ARD/ Anne-Katrin Mellmann)
    Türkis leuchtet das karibische Meer unter blauem Himmel. Schwer erträglich ist der Kontrast: Im Küstenstädtchen Port-a-Piment mischen sich die Grau- und Braun-Töne der Zerstörung. Überall liegen umgestürzte Palmen, ihr Grün ist längst vertrocknet, dazwischen die zertrümmerten Reste der Fischerhütten und Boote. Jean Paul Millier sitzt auf einem Baumstamm und starrt hinaus auf das Meer.
    "Ich bin Fischer, das ist alles, was ich kann. Aber ich habe mein Boot und meine Netze verloren. Jetzt weiß ich nicht, wie es weitergehen soll. Ich habe kein Geld um mein Haus wieder aufzubauen und nichts um Essen für meine Kinder zu kaufen. Viele haben ihre Kinder schon weggeschickt – zu Verwandten in die Hauptstadt Port-au-Prince. Aber dort gibt es auch nicht genug für alle. Ich bleibe lieber hier."
    "Tout pédi" sagt Millier immer wieder auf Kreolisch: alles verloren. Hätte er wenigstens wieder ein Boot, könnte er Geld verdienen, das er für den Wiederaufbau seiner Existenz braucht.
    Jean Paul Millier, Einwohner von Port-a-Piment in Haiti, vor den Trümmern seines Hauses.
    Jean Paul Millier ist Fischer und Einwohner von Port-a-Piment . Er hat nach dem Sturm Mathew alles verloren. (ARD/ Anne-Katrin Mellmann)
    Singen gegen den Schrecken
    Noch ein Kontrast, der schwer zu begreifen ist: Während die Einwohner von Port-a-Piment apathisch in den Ruinen ihrer Stadt stehen, schreien sich ihre Kinder den Schreck von der Seele. 60 singen und kreischen vor Vergnügen in dem einzigen Raum der Schule, der nach Hurrikan Matthew noch ein Dach hat. Während die Kinder lachen, räumen ihre Eltern die Trümmer ihrer Hütten beiseite und versuchen aus den Resten wieder etwas Bewohnbares zu machen. Das Häuschen, in dem die 8-jährige Saphora mit ihrer Familie lebt, ist eines der wenigen, das Wind und Wasser getrotzt hat.
    "Ich hatte große Angst und habe gezittert als der Hurrikan da war. Er war sehr laut und hat das Haus gerüttelt. Das Meer war ganz hoch und ist bis tief in die Stadt geflossen, bis zum Haus von Madame Jeanjean."
    Saphora lebt mit ihren Eltern in dem zerstörten Dorf Port-a-Piment in Haiti.
    Saphora lebt mit ihren Eltern in dem zerstörten Dorf Port-a-Piment in Haiti. (ARD/ Anne-Katrin Mellmann)
    Alle Wellblechdächer seien weggeflogen, auch das der Schule. Schutz vor Sonne und Regen bietet sie den Kindern nicht und Unterricht findet auch noch nicht statt, aber immerhin ist sie jetzt ein Ort zum Vergessen. "Child Friendly Space" nennt das die deutsche Kindernothilfe, die sich in diesem abgelegenen Küstenort im Südwesten Haitis engagiert. Mit den kinderfreundlichen Räumen habe die Hilfsorganisation schon nach dem Tsunami in Asien gute Erfahrungen gemacht, erklärt der Referatsleiter für die Karibik und Lateinamerika, Jürgen Schübelin:
    "Weil Kinder sofort eine Struktur brauchen. Zu Hause in den Familien sorgt das sofort für Entlastung. Es tut den Kindern und den Eltern gut. Die Kinder sind natürlich extrem traumatisiert. Die Stunden, in denen der Hurrikan hier über diese kleine Stadt gezogen ist, die waren furchtbar. Es waren die Kinder, die am meisten gelitten haben. In dem Moment, wo die Erwachsenen ihren Stress an die Kinder weitergeben, findet eine permanente Retraumatisierung statt. Dagegen sind diese Kinderschutzzentren eine tolle Strategie."
    Der Sturm ist vorbei - der Kampf gegen Cholera beginnt
    Einige hundert Meter entfernt winden sich Kranke vor Schmerzen auf nackten Pritschen unter Zeltdächern. Im Hof der einzigen Klinik des Ortes leuchten orangefarbene Absperrbänder. Haiti kämpft gegen die Cholera. Schon seit dem verheerenden Erdbeben von 2010 ist die Krankheit im Land. Eingeschleppt haben sie UN-Blauhelm-Soldaten. Gestorben sind seitdem mehr als 9.000 Menschen - exakt weiß das in dem chaotischen Haiti niemand. Durchfallerkrankungen sind in der extremen Armut weit verbreitet, die häufigste Todesursache bei Kindern unter 5 Jahren. Seit Hurrikan Matthew Latrinen und Wasserleitungen zerstört hat, breitet sich die Cholera aus. Allein in diesem kleinen Städtchen haben die "Ärzte ohne Grenzen" schon 62 Fälle registriert. Evans Pierre, der Chef der Klinik, ist froh, dass es das internationale Team bis hierher geschafft hat.
    "Unsere Ausstattung ist sehr schlecht. Nach dem Hurrikan kamen viele Menschen mit Cholera zu uns. In den ersten Tagen sind einige gestorben, aber seit sich die Ärzte ohne Grenzen um die Infizierten kümmern zum Glück niemand mehr. Die Ärzte haben die Verantwortung für die Cholera-Patienten übernommen. Wir haben auch einige Typhus-Verdachtsfälle und viele Verletzte durch den Sturm. Uns fehlen viele Medikamente."
    Mehr Hilfe als die für Cholera-Kranke oder Kinder ist in dem Küstenort noch nicht angekommen. Von den Milliarden, die nach dem verheerenden Erdbeben von 2010 in den bettelarmen Karibikstaat flossen, ist nicht viel zu sehen. Einer der größten Kritiker der internationalen Hilfe von damals ist der Film-Regisseur Raoul Peck. Er hat Familie in dem zerstörten verwüsteten Küstenstädtchen Port-a-Piment.

    Gleich nach dem Hurrikan ist er gekommen, um beim Wiederaufbau zu helfen. Peck hat in Deutschland studiert und dreht heute weltweit erfolgreiche Spiel- und Dokumentarfilme. In T-Shirt und Schirmmütze eilt er durch den Ort. In der Klinik hört er sich an, was die Ärzte am dringendsten brauchen…
    "Es fängt gleichermaßen an wie beim letzten Mal. Es ist ein bisschen mehr organisiert. Es gibt zumindest eine Art schlechtes Gewissen und man bemüht sich, das besser zu machen. Aber, fünf sechs Tage und danach es ist immer noch nicht genug. Kommunikation und Koordination – das sind die Hauptfehler. Keiner weiß genau, wer was macht und wann und wo. Sie sehen, wie die Stadt ist. Das heißt, in einer Woche werden die Leute anfangen, überall in der Straße Häuser zu bauen, weil sie haben keinen anderen Ort. Wir werden sicherlich einen Slum haben. Jede Katastrophe hier in Haiti produziert einen Slum."
    Verhindern könne das gut koordinierte Hilfe zur Selbsthilfe.
    Film-Regisseur Raoul Peck ist nach dem Hurrikan gekommen, um beim Wiederaufbau zu helfen.
    Film-Regisseur Raoul Peck ist nach dem Hurrikan gekommen, um beim Wiederaufbau zu helfen (ARD/ Anne-Katrin Mellmann)
    Nach dem Sturm Mathew in Haiti - Reste eines Karibikstrandes.
    Nach dem Sturm Mathew in Haiti - Reste eines Karibikstrandes. (ARD/ Anne-Katrin Mellmann)
    Am Strand hat sich Fischer Millier aus Stofffetzen und Palmenblättern längst ein wackeliges Zelt gebaut. Seine Nachbarn nehmen sich ein Beispiel. Die ärmlichen Lehmhütten mit Wellblechdächern, die früher den Strand säumten, hat der Wirbelsturm fortgerissen.
    Armut kennt in Haiti immer noch eine Steigerung.