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Haitis Infrastruktur "in drei bis fünf Jahren" wieder nutzbar

Haitis Terrain erschwert die Nothilfe und den Wiederaufbau. Zudem besteht dauerhaft die Gefahr ähnlich starker Beben wie das vom 12. Januar. Jürgen Pohl erkennt eine Chance für einen Neuanfang - wenn die Bevölkerung des Inselstaates den will.

21.01.2010
    Jochen Spengler: Acht Tage nach der Erdbebenkatastrophe in Haiti ist gestern das Land von einem schweren Nachbeben der Stärke 6,1 erschüttert worden. Das Epizentrum lag südwestlich der Hauptstadt Port-au-Prince, etwa 60 Kilometer. Das neue Beben hat erneut Tote gefordert, große Ängste ausgelöst und es erschwert die Arbeit der vielen internationalen Rettungskräfte.
    Wie lange dauert es, bis ein Land nach einem Erdbeben wieder aufgebaut ist? In der Regel dauert das etwa zehn Jahre, sagt Professor Jürgen Pohl, Geowissenschaftler an der Universität Bonn, Experte für den Wiederaufbau nach einem Erdbeben. Mit ihm wollen wir nun sprechen über Haiti. Guten Morgen, Professor Pohl.

    Jürgen Pohl: Guten Morgen, Herr Spengler.

    Spengler: In der Regel zehn Jahre, sagen Sie. Aber haben wir es in Haiti, wo die Erde immer wieder bebt, noch mit einem Regelfall zu tun?

    Pohl: Das ist in der Tat die große Frage. Diese Formeln, zehn Jahre Wiederaufbauprozess aufs Ganze gerechnet, sind einfach Faustformeln, Erfahrungswerte, die man halt so im Laufe der Zeit bei der Beobachtung dieser verschiedenen Katastrophen, die ja immer wieder unregelmäßig, aber doch sehr häufig passieren, festgestellt hat, und es ist in der Tat wohl so, dass Haiti eben ein besonders schweres Beben ist und ein besonders katastrophales Ereignis und auch eine besondere Lage durch diese Insellage und durch diese solitäre Situation, und das macht es sehr schwierig, diese Formel anzuwenden.

    Spengler: Sie haben es schon ein bisschen angesprochen, lassen Sie es uns konkretisieren. Was vor allem ist anders in Haiti als bei einem Regelfall?

    Pohl: Jedenfalls ist das ein Erdbeben oder eine Katastrophe - wir können durchaus den Tsunami nehmen, der ja eine sehr große ähnliche Folgezahl von Toten hatte -, dass da ja nicht die ganze Infrastruktur, die ganze Logistik, das normale Leben sozusagen zerstört ist, sondern man kann immer aus den Randbereichen, die nicht so betroffen sind, die Hilfsmaßnahmen koordinieren und den Wiederaufbau planen. Man kann im Idealfall sogar die Zelte dort kaufen, die Helfer dort unterbringen und so weiter. All das ist in Haiti nicht möglich, weil eben quasi tabula rasa gemacht worden ist und es eben in dem Sinn auch keine Basis in der Nachbarschaft gibt.

    Spengler: Muss man sich da nicht die Frage stellen, ob es sich überhaupt lohnt, völlig zerstörte Städte, eine völlig zerstörte Region in einem ja nach wie vor von Erdbeben gefährdeten Gebiet wieder aufzubauen? Wäre die Suche nach einer neuen Heimat nicht sinnvoller?

    Pohl: Das ist natürlich schon eine sehr radikale Frage. Trotzdem wird die im Grunde immer wieder gestellt. Auch bei kleineren Beben fragt man sich, müssen wir nicht diese Chance nutzen, oder können wir nicht diese Chance auch nutzen, um neue Strukturen zu schaffen, in welcher Form auch immer. Aber da kommt natürlich etwas sehr Menschliches dazu, nämlich die Leute sind ja auch psychisch zerstört oder schwer erschüttert und das erste Bestreben ist sozusagen Rückkehr zur Normalität. Rückkehr zur Normalität heißt eben dann auch Wiederaufbau vor Ort, Wiedererschaffen des gewohnten Lebensraums. Das ist dann die Triebfeder, doch wieder an derselben Stelle zu bauen.

    Spengler: Die Menschen hängen einfach an ihrer Heimat, auch wenn sie noch so gefährlich ist?

    Pohl: So ist es, genau. Das hat dann auch für die Wiederaufbauplanung die Konsequenz, selbst wenn es sehr viel günstiger wäre, ein bisschen andere Strukturen zu schaffen, dass man dann trotzdem in der Regel sagt, wir bauen genauso wieder auf, wie es vorher war. Im Grunde will man das Erdbeben ungeschehen machen.

    Spengler: Sie sprechen ja nach Ihren Studien von vier Wiederaufbauphasen nach einem Erdbeben: erst die unmittelbare Nothilfe, Bergung der Toten, Wasser, Essen und Zelte für die Überlebenden, dann, zweite Phase, Beseitigung der gröbsten Schäden, Schaffung provisorischer Lebensverhältnisse, dann die erste Wiederaufbauphase und schließlich die vierte Phase, die Entwicklungsphase, in der die Region schöner werden kann als zuvor. Jetzt stecken wir über eine Woche nach dem Beben offenbar noch immer in Phase Eins der unmittelbaren Nothilfe. Was bedeutet das, dass diese erste Phase so lange dauert?

    Pohl: Wenn wir diese Faustformel anwenden, jede Phase dauert ungefähr zehnmal so lang wie die vorhergehende, dann ist das eine sehr schlechte Prognose für Haiti, weil dann würde einfach auch die eigentliche Wiederaufbauphase sehr spät einsetzen. Dann kann es wahrscheinlich oder möglicherweise sogar tatsächlich zu großen Abwanderungen kommen. Auf der anderen Seite muss man vielleicht sagen, gerade diese Intensität des Ereignisses und die Betroffenheit könnte auch dazu führen, dass man vielleicht wirklich gleich mit einem strukturierten Neuaufbau anfängt und dass man vielleicht auch sagt, es ist wirklich so viel passiert, es ist so viel zerstört, wir wagen gleich einen radikalen Neuanfang. Also es könnte auch eine Chance sein, aber es ist natürlich sehr schwer, abzuschätzen.

    Spengler: Haben Sie mal ausgerechnet, wenn alles gut läuft, wie lange wird es dann mindestens dauern, bis Haiti wieder ein entwickelter Staat ist?

    Pohl: Diese Frage ist natürlich Kaffeesatzleserei in einem gewissen Sinn, aber andererseits ist die Antwort auch drinnen, weil Sie sagten, "ein entwickelter Staat". Die Voraussetzungen in Haiti sind natürlich auch schwer. Haiti hat ein schweres historisches koloniales, postkoloniales Erbe. Es ist dort eine sehr spezifische Situation. Haiti, glaube ich, kann auch dieses Ereignis als Chance für einen Neuanfang sehen, politisch und gesellschaftlich.

    Spengler: Deswegen frage ich ja nach. Sie haben ja dieses Modell mit den vier Phasen entwickelt und Sie sagen, jede folgende Phase ist zehnmal so lang. Da müssten Sie doch eigentlich ausgerechnet haben, wie lange brauchen wir mindestens, bis wir Phase Vier haben.

    Pohl: Man könnte sozusagen Phase Drei überspringen, indem man sagt, es ist so ein großes Maß an Zerstörung und wir schaffen einfach neue Strukturen und die Europäische Gemeinschaft oder die USA geben eben auch so massiv Mittel rein, dass man wirklich eine sozusagen neue Nation schaffen kann. Aber das in Jahren auszudrücken, das, glaube ich, ist sehr schwierig. Ich würde mal sagen, wenn es wirklich akzeptiert wird von der einheimischen Bevölkerung und wenn wirklich massiv Geld reinfließt, dann kann man auch in drei bis fünf Jahren eine angemessene Infrastruktur schaffen, die Gebäudesubstanz schaffen, aber das setzt eben wirklich nicht nur materielle Hilfe, sondern auch massive Eingriffe, Steuerung von außen voraus.

    Spengler: Noch sind wir in der Phase Eins. Wann kann denn die Phase Zwei, die Beseitigung der gröbsten Schäden beginnen?

    Pohl: Das besondere Problem an Haiti ist eben diese schwere logistische Unzugänglichkeit und insofern müssen eigentlich alle Ressourcen, die Zelte, die Rohrleitungen, Wasseraufbereitungsmöglichkeiten, alle erst herangeschafft werden. Ich meine, da sind die ganzen Hilfsorganisationen dabei, im Grunde läuft das natürlich auch schon, aber insgesamt gesehen sind wir noch in dieser ersten Phase. Ja, das ist die Tragödie.

    Spengler: Professor Jürgen Pohl, Geowissenschaftler an der Universität Bonn, Experte für den Wiederaufbau nach einem Erdbeben. Herzlichen Dank für das Gespräch.

    Pohl: Danke schön.