Freitag, 19. April 2024

Archiv


Halluzinatorischer Parcours

Juan Goytisolo, 1931 in Barcelona geboren, zählt zu den großen Schriftstellern der spanischen Sprache. "Reise zum Simurgh" ist sein wohl persönlichster und radikalster Roman. Er rückt Außenseiter, Dissidenten und Ketzer ins Blickfeld, die aus sexuellen, politischen oder religiösen Gründen ausgegrenzt und verfolgt werden.

Von Margrit Klingler-Clavijo | 19.09.2012
    "Der Roman 'Reise zum Vogel Simurgh' beginnt mit einem Vers von San Juan de la Cruz, auf den ein Vers von Ibn al Farid folgt: 'In des Geliebten innerem Keller trank ich einen Wein, der uns berauschte, noch ehe die Traube erschaffen."' Johannes vom Kreuz sprach kein arabisch, war nicht mit der Sufi-Dichtung vertraut. Allerdings gibt es eine enge, außergewöhnliche Verbindung zwischen der spanischen Mystik und der Mystik der Sufis."

    In diesen Worten evoziert Juan Goytisolo die poetische Komponente seines kaleidoskopischen Romans, in dem er sich gleichermaßen auf weltberühmte Sufis wie Rumi, Attar, Ibn Arabi beruft und spanische Mystiker wie Teresa von Ávila und Johannes vom Kreuz. Er zeigt so nicht nur die frappierende Ähnlichkeit zwischen christlicher und arabischer Mystik, sondern integriert in den Roman das, was in der spanischen Literatur mit der Inquisition amputiert wurde: die arabische Komponente der spanischen Kultur.

    "Ich interessierte mich für die poetische Erfahrung des mystischen Ausdrucks. Ich bin zwar Agnostiker, gleichwohl fasziniert mich die Lyrik des Johannes vom Kreuz, da er mit Schlichtheit und Schönheit eine besondere Erregung ausdrückt, die mich berührt. Ich bin äußerst empfänglich für die poetische Schönheit bestimmter Mystiker."
    Der "Cántico Espiritual", der "Geistliche Gesang" des Johannes vom Kreuz, ist einer der schönsten Gedichtzyklen der spanischen Literatur, auf den so unterschiedliche Dichter wie José Angel Valente, Juan Gelman oder Oscar Hahn Bezug nehmen. Auf die 1577 im Klostergefängnis von Toledo geschriebenen Gedichte des von der Inquisition als Ketzer gebrandmarkten Karmeliters, griff Juan Goytisolo Anfang der 80er-Jahre des letzten Jahrhunderts zurück, nachdem er auf einer Ägyptenreise erkrankt war. Die Krankheitssymptome waren fast die Gleichen wie bei Aids. Das Untersuchungsergebnis ließ auf sich warten; wie im Fieberwahn schrieb Juan Goytisolo über die diffuse Bedrohung, die von dieser Krankheit ausging, die seinen Bekannten- und Freundeskreis dezimierte.

    Entstanden ist ein singulärer Roman, der wie ein halluzinatorischer Parcours durch die Epochen daher kommt, sich über mehrere Kontinente erstreckt, Außenseiter, Dissidenten und Ketzer ins Blickfeld rückt, die aus sexuellen, politischen oder religiösen Gründen ausgegrenzt, geschmäht und verfolgt werden.

    Der Roman beginnt in einer Pariser Sauna für Homosexuelle, in der Schriftsteller vom Schlag eines Roland Barthes, Severo Sarduy oder der kubanische Filmemacher Néstor Almendros verkehrten. Die Angst vor Aids lähmt das Lebensgefühl der Saunabesucher: "Die Plage war über uns hereingebrochen wie ein Falke im grimmigen Sturzflug, das Leben war russisches Roulette."(S.22) schreibt Juan Goytisolo, der in der Nachbemerkung die wichtigsten Roman-Schauplätze aufführt: ein Erholungsheim für russische Schriftsteller im Kaukasus, eine Art Arbeits- und Umerziehungslager für Homosexuelle in Kuba, das Fußballstadion in Santiago de Chile, in das man nach dem Putsch vom 11. September 1973 etliche Regimegegner gesperrt hatte. Des Weiteren die Zelle des Johannes vom Kreuz im Klostergefängnis von Toledo. Über all diesen Orten lastet die mehr oder minder ausgeprägte Angst vor Kontamination.

    "Im Roman ist alles in der Schwebe, wie in den Gedichten des Johannes vom Kreuz oder des Ibn al Farid. Die Kontamination kann von einer Wolke herrühren, etwa der von Tschernobyl. Sie kann jedoch auch von verseuchtem Blut kommen, wie dem der Nachfahren der Juden und Mauren in Spanien, deren Blut nicht rein war. Die Verseuchung kann durch Aids oder Lektüren erfolgen. Kurzum die Kontamination ist ein wesentlicher Bestandteil des Werks."
    Goytisolos "Reise zum Vogel Simurgh" ist wie auch schon seine früheren Romane als Dialog mit "seinem Baum der Literatur" angelegt, das heißt mit Werken von Flaubert, Tolstoi, Cervantes und dem Archipreste de Hita, der sich in seinem Roman "Buch von der guten Liebe" auf arabische und spanische Erzähltraditionen bezieht und Juan Goytisolo zu dem Roman "Engel und Paria" inspirierte:

    "Ich bin stets davon ausgegangen, dass jedes Werk eine Welt ist, das von anderen Werken befruchtet wird, die es fortsetzen und verändern. Diese Beziehung ist von Grundlegender Bedeutung für mich . All mein Romane nehmen Bezug auf ein Fragment der spanischen Literatur oder einen Autor."

    Im vorliegenden Roman fungieren der "Geistliche Gesang" des Johannes vom Kreuz und die Lyrik der Sufi-Dichter als geheime Wegweiser und Wegzehrung angesichts von Terror und Repression. In Klostergefängnis von Toledo soll Johannes vom Kreuz ein "Traktat von den Eigenschaften des einsamen Vogels" verfasst und verschluckt haben, ehe die Schergen der Inquisition in seine Zelle eindrangen. Goytisolo macht aus diesem Vorfall die Urszene der Repression. Außerdem versucht er im Roman, das verschwundene Manuskript des Karmelitermönchs zu restituieren und die folgenden Verse von Rumi in die Gefängniszelle zu schmuggeln.

    Unsere Trunkenheit braucht keinen Wein, unsere Versammlung keine Hirtengeigen oder Harfen, ohne Flöte noch Orchester, Mundschenk oder Jüngling berauschen wir, erregen uns, trunkene Geschöpfe! (S.137)

    Bei seiner Suche nach einer Sprache, "die die Fesseln der Ratio" sprengt, orientiert sich Goytisolo an der Lyrik der Mystiker und spielt wie sie mit ihren Doppel- und Mehrdeutigkeit, ihren Klängen und Rhythmen.
    Der Romantitel ist eine Anspielung auf "Die Vogelgespräche" des persischen Sufi-Dichters Farid-du-din Attar. In diesem Versepos aus dem XII. Jahrhundert bricht eine Schar Vögel zu einer beschwerlichen Reise zum Vogel-König Simurgh auf.

    Unterwegs wird die Vogelschar harten Prüfungen ausgesetzt, wobei nach und Nach klar wird, dass es sich hier um eine Pilgerfahrt ins unbekannte und verkannte Selbst eines jeden einzelnen handelt, deren Symbol der Simurgh ist. Am Ende des Romans verwandeln sich die Ausgegrenzten, Geschmähten und Verfolgten in eine ebenso bunte wie schräge Vogelschar. Juan Goytisolo hat mit "Reise zum Vogel Simurgh" einen anspruchsvollen Roman vorgelegt, der gleichermaßen Herausforderung und Vergnügen ist. Mit Jean Genet könnte man sagen: "Die Schwierigkeit ist das Geschenk des Autors an den Leser."

    Der eigentlich als "große Bildfolge mit Sprechgesang" angelegte Roman diente dem spanischen Komponisten José María Sánchez Verdú als Vorlage für das Libretto und die Musik zur Oper "Die Reise zu Simorgh", die im Mai 2007 im Madrider Teatro Real ihre Uraufführung erlebte.

    Juan Goytisolo: Reise zum Vogel Simurgh
    Aus dem Spanischen von Thomas Brovot
    Suhrkamp Verlag, Berlin 2012, Preis: 21,95 Euro