Mittwoch, 24. April 2024

Archiv


Hamdorf: Hervorgehoben hat ihn immer seine Experimentierfreudigkeit

Nach Filmkritiker Wolfgang Martin Hamdorf hat Raúl Ruiz das 19. Jahrhundert in seiner eigenen Darstellungszeit abgebildet. Den Umgang mit der Zeit habe Ruiz immer mit jedem Film umzusetzen versucht. Das war "seine besondere Stärke", so Hamdorf.

Wolfgang Martin Hamdorf im Gespräch mit Karin Fischer | 19.08.2011
    Karin Fischer: Ein Filmemacher mit barockem Humor und großer Experimentierfreude und einer der produktivsten in Frankreich überhaupt, das war der gebürtige Chilene Raoul Ruiz. Weit über 100 Filme hat er gedreht, daneben Opern inszeniert, Theaterstücke geschrieben und Theoretisches zum Kino verfasst. Heute morgen ist Ruiz in Paris, wo er seit 1974 lebte, den Folgen einer Lungeninfektion erlegen. In Deutschland kennt man unter anderen den Film "Klimt" aus dem Jahr 2006 mit John Malkovich und Veronica Ferres, seine viereinhalbstündigen "Misterios de Lisboa", "Geheimnisse von Lissabon" waren noch im Juni beim Filmfest in München zu sehen. Frage an den Filmkritiker Wolfgang Martin Hamdorf: Die Vorlage war, wie ja nicht selten bei Raoul Ruiz, ein Roman aus dem 19. Jahrhundert, wie kam es zu dieser Vorliebe oder inwiefern entsprach sie seiner Filmkunst?

    Wolfgang Martin Hamdorf: Ja, ich glaube, er hat ja auch Proust verfilmt, 1999, "Die wiedergefundene Zeit", und dieses 19. Jahrhundert war für ihn sicherlich eine ganz starke Anregung, weil er selber natürlich auch dieses, wie soll man sagen, Kunstübergreifende eigentlich auch in seinen Filmen hatte. Er kam ja nun selber ... bevor er Filmemacher wurde, hat er Theologie studiert, Jura studiert, und ich glaube, dass wirklich dieses Modell des Menschen des 19. Jahrhunderts ganz, ganz stark in ihm drin war, abgesehen natürlich von allen anderen politischen Implikationen. Er war sicher auch jemand, der klassische lateinamerikanische Autorenfilmer, 50 Prozent seiner Filme hat er selber die Drehbücher geschrieben, aber es gab eben immer wieder Vorlagen aus der klassischen Literatur. Und das 19. Jahrhundert war ihm besonders interessant, weil es auch eine andere Zeitdarstellung hat, die er versucht hat, in seinen Filmen zu übertragen.

    Fischer: Schon als er noch in Chile lebte, galt er als einer der wichtigsten Filmemacher Südamerikas, mit "Tres tristes tigres" nach einem Roman von Guillermo Cabrera Infante gewann er schon 1969 den Goldenen Leoparden von Locarno. Damals war er auch sehr politisch engagiert?

    Hamdorf: Ja, ich glaube, dieses politische Engagement hat er nie verloren bis zum Ende. Er hat es im Gegensatz zu natürlich anderen seiner Kollegen, jetzt vielleicht Miguel Littin oder Patricio Guzmán weniger explizit auf die politische Linie gelegt, aber was ihm eigentlich immer sehr wichtig war, war, was den ganzen lateinamerikanischen Filmemachern dieser Generation ja wichtig war, auch eine Erneuerung der Bildsprache, die ständige Suche nach Experimenten, nach dem Aufbruch der klassischen Filmstrukturen. Und das hat er eigentlich bis zum Schluss immer gehabt in seinen Filmen.

    Fischer: Und welcher Film wäre da prototypisch zu beschreiben?

    Hamdorf: Das ist wirklich, von einem Film, der mir besonders gut gefallen hat, mit Marcello Mastroianni von 1996, "Drei Leben und ein Tod", wo Mastroianni quasi die Hauptfigur spielt, seinen eigenen Butler und noch den Liebhaber der Frau und dann am Ende stirbt, also eine ganz skurrile Komödie, bis eigentlich hin zu seinem letzten Film, "Mistérios de Lisboa". Das ist ja ein viereinhalbstündiger, man würde fast heute sagen melodramatischer Roman, der einen von Anfang an in Bann steckt und wo man zuerst natürlich einen Schreck bekommt, um Gottes Willen, wie wird das sein. Aber er hat gesagt, jede Zeit - und da kommen wir wieder auf den Anfang zurück, das 19. Jahrhundert - hat seine eigene Darstellungszeit. Und er hat gesagt, wenn ich diesen Film mache, dann soll man auch sehen, wie sie im 19. Jahrhundert gelaufen sind und in voller Länge fährt die Kutsche durchs Bild. Und das ist sein Umgang mit der Zeit war, glaube ich, für ihn ein ganz, ganz wichtiges Element in allen seinen Filmen.

    Fischer: 1974 emigrierte er wegen des Militärputsches in Chile und als lateinamerikanisches Erbe oder südamerikanisches Erbe bringt er sicher diesen leicht surrealistischen Blick mit, den Sie auch schon beschrieben, geschrieben haben: Die Ästhetik galt manchmal als labyrinthisch und fragmentarisch und passte damit eben zum Beispiel auch zu Proust - das erwähnten Sie ja schon - "Die wiedergefunden Zeit". Wie würden Sie sein filmisches Vermächtnis beschreiben?

    Hamdorf: Ich würde sagen, das, was er immer hervorgehoben hat, ist eine unglaubliche Experimentierfreudigkeit, die aber gleichzeitig wiederum basiert auf seinem unglaublichen Interesse an Philosophie, an Literatur. Und das hat er mit jedem Film versucht, neu umzusetzen, und ich glaube, das macht seine besondere Stärke aus, eben auch diese Überraschung, die jeder Film neu gebracht hat, den er gezeigt hat.

    Fischer: Herzlichen Dank, Wolfgang Martin Hamdorf, für diese Würdigung des Filmregisseurs Raoul Ruiz, der im Alter von 70 Jahren in Paris gestorben ist.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.