Donnerstag, 28. März 2024

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"Handbuch Popkultur"
Flüchtig oder ewig?

Von Musik bis Mode: Das "Handbuch Popkultur" definiert Pop im spannenden Sinne als oberflächlich. "Es steht immer was auf dem T-Shirt drauf", sagte Mitherausgeber Thomas Hecken im Dlf - und verwies auf die neue Subversivität des Pop in populistischen Zeiten.

Bernd Lechler im Corsogespräch mit Thomas Hecken | 03.08.2017
    Blick in die David-Bowie-Ausstellung im Londoner Victoria & Albert Museum
    "Pop ist längst auch museal geworden": Blick in die David-Bowie-Ausstellung im Londoner Victoria & Albert Museum. (dpa / picture alliance / Bogdan Maran)
    Bernd Lechler: Knapp 380 Seiten stark ist das neue Handbuch der Popkultur, mit Artikeln über Rock'n'Roll und Reggae und Punk und Elektro, über Sound und Produktion, über die Rolle der Massenmedien, über Mode und Werbung, über unterschiedliche Popkonzepte und -begriffe, über Stand und Entwicklung der Popforschung, geschrieben von Wissenschaftlern, Journalisten, Musikern - unter anderem von Thomas Hecken, derzeit Professor für Neuere Deutsche Literatur an der Universität Siegen, der das Buch auch mit herausgegeben hat - und der kurz vor der Sendung Zeit für ein Corsogespräch hatte. Guten Tag, Herr Hecken!
    Thomas Hecken: Ja, einen schönen guten Tag!
    Bernd Lechler: Es gibt ja schon so einige Bücher zum Thema. Allein in den letzten Jahren erschien "Über Pop-Musik" von Diedrich Diedrichsen, das vielen als Standardwerk gilt, dann hat Karl Bruckmaier, auch ein kluger Mann, "The Story of Pop" geschrieben, diese zweibändige "Popgeschichte" von Geisthövel und Mrozek zitieren Sie auch. Was fügen Sie denn diesem Bestand hinzu?
    Hecken: Nun, wir sind ja ein Handbuch. Und Handbuch bedeutet: Man gibt einen Überblick über das, was es schon gegeben hat und verfeinert noch die ganze Angelegenheit, bringt auch vieles zusammen. Viele der Bücher, die Sie aufgezählt haben, sind ja nun reine Bücher, die sich über Popmusik dann äußern. Ich selber bin ja sogar auch noch Herausgeber einer Zeitschrift "Pop: Kultur und Kritik" und deshalb ist jetzt also gerade angesagt, weil eben schon einiges vorliegt, einmal eine Summe, eine Bilanz zu ziehen. Und die geht eben sehr weit über die reine Popmusik hinaus.
    "Pop kommt auf, als man anfängt, den Umschlag zu bedrucken"
    Lechler: Als Gegenstand ist Pop ja sehr schillernd. Und zwecks einer Definition haben Sie sechs Kriterien eingeführt: Äußerlichkeit, Oberflächlichkeit, Konsumismus, Funktionalität, Künstlichkeit, Stilverbund. Nehmen wir einmal "Äußerlichkeit" und "Oberflächlichkeit". Das sind ja Eigenschaften, die kulturelles Schaffen erst einmal eher uninteressant machen. Warum konstituieren Sie Pop auf eine positive oder zumindest wertfreie Art?
    Hecken: Oberflächlichkeit zielt also bei uns jetzt nicht an irgendetwas Negatives oder eben irgendwie Entwürdigendes, sondern Oberflächlichkeit bedeutet für uns: Pop-Phänomene sind immer stark daran interessiert, dass die Oberfläche dann nicht unkonturiert, nicht unmarkiert bleibt. Also sprich: Es steht immer etwas auf dem T-Shirt drauf. Die Plattenhülle, das ist nicht früher dann der braune Umschlag gewesen, sondern Pop kommt dann auf, als man anfängt, den Umschlag zu bedrucken und vielerlei dieser Phänomene mehr.
    Äußerlichkeit soll bedeuten: Pop ist jetzt nicht so stark verwandt mit so Rock-Ekstase oder avantgardistisch-kulturellen Phänomenen, die immer darauf aus sind, dass etwas nicht nur im Feierabendbereich dann hängen bleibt, also nur dann am Freitagabend in der Diskothek verbleibt, sondern das soll immer so entgrenzend sein, der Rausch soll einen heraustreiben aus dem sogenannten bürgerlichen Alltag. Und wir grenzen jetzt Pop ein, dass wir sagen: Nein, Pop ist durchaus solch ein Saturday-Night- oder eben Friday-Night-Phänomen. Räusche kommen dort auch auf, aber sie sollen jetzt nicht ganz und gar einen aus dem Alltag heraussprengen.
    Wir haben noch länger mit Thomas Hecken gesprochen - Hören Sie hier die Langfassung des Corsogesprächs
    Lechler: Und was ist dieser Aspekt des Stilverbunds? Warum braucht es den, damit etwas Popkultur ist?
    Hecken: Stilverbund ist natürlich sehr, sehr wichtig. Wir haben ja alle unsere Stilverbünde, tagtäglich. Wir überlegen und jetzt, welches Hemd passt zur Hose und welches Handy dazu? Und welche Frisur etc.? Für Pop ist immer diese Überlegung vorhanden, wie passen die Dinge zusammen, ganz und gar alltäglich? Jetzt nicht nur im Konzert, sondern wenn ich in die U-Bahn gehe, wenn ich vor dem Spiegel stehe. Und Pop hat sich dadurch jetzt natürlich geändert - in den letzten 20 Jahren stark, als das früher so das Kinderzimmer betraf, das Jugendzimmer.
    Heute wird vieles an diesem Phänomen des Stilverbunds natürlich in Social Media dann ausagiert. Das heißt: Man muss es nicht immer dann materiell greifen können, sondern diese Verbünde, die werden einem klargemacht durch die Verlinkungen und das, was ich eben auf meiner, sagen wir, Facebook-Seite dann so zusammenstelle.
    Lechler: Das heißt, auch das, was man so den Code nennen könnte?
    Hecken: Ja, vollkommen. Richtig.
    "Pop ist natürlich längst erwachsen geworden"
    Lechler: Auch der Begriff der Flüchtigkeit taucht auf, mit dem Popmusik vor allem etwas für den Moment wäre und weniger für die Ewigkeit. Vielleicht auch abgegrenzt zum Rock. Aber sind dann nicht, bei der Musik zum Beispiel, die großen Werke - ob jetzt von David Bowie oder Prince - doch wieder ganz unpoppig die mit bleibender Wirkung?
    Hecken: Ja, da haben Sie natürlich vollkommen recht. Was einmal so begann - Pop sei vor allen Dingen aktuell, ganz und gar auf Gegenwart ausgerichtet - das war natürlich ein Phänomen der Jugendsphäre. Aber Pop ist natürlich jetzt längst erwachsen geworden. Und deshalb treten jetzt logischerweise all diese Kanalisierung- und Verewigungsprozesse dann ein. Pop ist ja längst auch museal geworden. Pop taucht im Deutschlandfunk überaschenderweise nun auch schon sehr, sehr lange auf. Das spricht natürlich dafür, dass dieser Akzent, zu sagen, Pop ist rein gegenwärtig, rein flüchtig, dass der dann jetzt nicht mehr grundlegend für solch eine Popdefinition sein kann.
    Oder andersherum: Man käme jetzt zu dem Schluss, Pop muss immer flüchtig sein. Dann hätte man natürlich heutzutage bei vielen Dingen, die in den Museen stehen oder über die lange diskutiert wird, ein Problem. Man müsste eben dann sagen: Nee, das ist gar nicht mehr Pop. Pop ist ein Phänomen, sagen wir, der 50er- bis 80er-Jahre und hat sich dann insofern überlebt.
    "Teenie-Phänomene, die dürfen nach wie vor nicht hinein"
    Lechler: Gibt es noch Refugien der Hochkultur, wo Pop nicht herein darf? Wie sehen Sie das aktuelle Verhältnis von E und U?
    Hecken: Ja, das ist ganz interessant. Denn Pop darf ja mittlerweile wirklich überall hinein. Aber natürlich wird dann intern im Popbereich getrennt. Also diese sogenannten Teenie-Phänomene, die dürfen nach wie vor nicht hinein. Also die TV-Serien müssen dann doch wieder komplex sein oder die Popmusik muss dann irgendeinen sozialpolitischen oder größeren ästhetischen Aspekt aufweisen, der irgendwie Richtung Raffinesse oder Avantgarde weist. Also das muss schon noch nach wie vor sein. Also nicht alles kommt aus dem Popbereich dann ins Museum, in die Wissenschaft oder in die Hochkultur hinein.
    Wir versuchen jetzt natürlich, mit unserem Buch das Feld noch einmal zu öffnen. Unser Ansatz ist natürlich auch zu sagen: Wir können jetzt so ein Handbuch gerade machen, weil die ideologischen Debatten ja ein bisschen ausgelaugt sind. Also der große Anspruch, mit dem Pop einmal ins Feuilleton und in die Hochkultur und in die Politikkultur hinein kam, war ja zu sagen, Pop sei irgendwie subversiv und mit Pop könne man vielleicht an große libertäre Projekte verbinden, vielleicht auch sogar dann eben neue linke Art und Weise. Das hat sich ja weitgehend dann erledigt, und deshalb können wir jetzt ein bisschen unaufgeregter auch auf diese ganze Debatte schauen.
    Lechler: Dass sich die Subversivität erledigt hat und der Mainstream sich alles einverleibt und alles systemtauglich und systemerhaltend macht, macht das die Popmusik oder die Popkultur weniger wert?
    Cover des "Handbuchs Popkultur", herausgegeben von Thomas Hecken und Marcus S. Kleiner
    Das "Handbuch Popkultur", herausgegeben von Thomas Hecken und Marcus S. Kleiner (J.B. Metzler Verkag)
    Hecken: Nein, gar nicht. Solche Mainstream-Phänomene, die werden natürlich immer wieder versuchsweise … überhaupt ist es immer ein großer Kampf. Pop hat aber in dem Moment natürlich dann wieder große Relevanz, als sich dann jetzt - gerade sind wir ja in solch einer Zeit - reaktionäre, konservative populistische, völkische Strömungen auch durchsetzen. Und da kann natürlich Pop sein liberales, hedonistisches und dann durchaus auch subversives Potenzial wieder ausspielen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
    Thomas Hecken und Marcus S. Kleiner (Hrsg.): "Handbuch Popkultur"
    J.B. Metzler Verlag, Stuttgart 2017. 375 Seiten, 54,99 Euro.