Dienstag, 23. April 2024

Archiv

Handwerkstradition
Der letzte Stockmacher

Lindewerra in Thüringen nennt sich Stockmacherdorf. Bis ins Jahr 1836 geht die Tradition der Produktion von hölzernen Gehilfen zurück. In den 1980er-Jahren begann der Siegeszug des metallenen Teleskopstabs. Doch es gibt noch immer einen traditionellen Betrieb im Dorf.

Von Paul Stänner | 09.09.2018
    Eine Seniorin sitzt in Leichlingen mit einem Gehstock auf einer Parkbank.
    Gehstock - gerade bei Senioren beliebt (picture alliance / dpa / Oliver Berg)
    Es ist wieder diese Zeit im Jahr. Der Wandertrieb bricht sich Bahn - wahrscheinlich ein Relikt aus unserer Vorzeit als Nomaden. Da ist kein Halten mehr vor dem Fernseher. Die Schuhe werden aus dem Keller geholt. Der Hut von der hintersten Ablage genommen. Der Brustbeutel aus der Lade mit dem Schröttel gekramt.
    Aber was nehmen wir in die Hand?
    "Der Stock hat also schon immer eine Bedeutung gehabt. Sei es als Zepter oder beim Papst oder bei Schäfern zum Beispiel auch. Früher gab es Spalierstöcke, wo Menschen ihr persönliche Wertigkeit über einen Stock dargestellt haben, die Männer aus den Zwanzigern, die hatten alle einen Spazierstock dabei gehabt, den Stock gab es schon immer als was Besonderes."
    Sagt Hans Gastrock, er muss es wissen, denn er produziert mit 35 Angestellten Stöcke. Spazierstöcke, Wanderstöcke, Sitzstöcke und Zielstöcke mit einer Gabel, in die der Jäger sein Gewehr legt, um ruhig zielen zu könne.
    Im Süden Thüringens liegt der Naturpark Eichsfeld-Hainich-Werratal. Die Höhen sind maßvoll (circa 500 Meter), die Anstiege sanft und lang gezogen. Der Blick gleitet über einen Quilt von Waldstücken in unterschiedlichen Grüntönen, Feldern, Weiden und verbuschten Freiflächen, an deren Rändern Hochsitze lauern.
    Hilfsmittel, das dem Wanderer unentbehrlich ist
    Am Rande des Naturparks liegt das kleine Dorf Lindewerra. Lindewerra nennt sich Stockmacherdorf. Seit 1836 kam und kommt aus Lindewerra das Hilfsmittel, das dem Wanderer unentbehrlich ist: der Stock. In Lindewerra produziert Michael Geyer Stöcke. "Das Handwerk erlebt seit diesem Jahr einen kleinen Aufschwung, es werden mehr Stöcke benötigt und die Hersteller, die es in Europa gibt, die werden immer weniger, der Bedarf an Stöcken wird auf wenige Schultern verteilt dann."
    Im Stockmachermuseum von Lindewerra liegt ein amtlicher Auszug, der bestätigt, dass es hier im Jahr 1948 34 Stockmacher und Stockmacherfirmen gab. Heute hat das Dorf gerade einmal 240 Einwohner, da hat man eine Vorstellung von den Dimensionen.
    Michael Geyer ist der letzte Stockmacher in Lindewerra, in der fünften Generation. Mit zwei Angestellten produziert er in kleinen, niedrigen Räumen 60 bis 70.000 Stöcke im Jahr.
    "Dazu wird der Stock gedämpft, kommt über ein Wasserbad, bleibt circa eine halbe Stunde bei ungefähr hundert Grad über diesem heißen Wasserdampf- und danach kann man den Stock herausnehmen und legt ihn in eine Biegemaschine ein und denn kann man den Griff in einem Zug an diesen Stock biegen."
    Zum Schluss müssen noch die Astansätze beseitigt werden. Im Stockmachermuseum von Lindewerra steht eine Zinkwanne, darin liegt ein rotes Stück Sandstein. Der Sandstein wurde zu Pulver zerstoßen. Dann befeuchtete der Stockmacher die Hand in einem Wasserbecken, nahm mit der nassen Hand das Steinmehl auf und schmirgelte die Astansätze oder auch die gesamte Rinde ab. Und seine eigene Haut. "… bis auf das rohe Fleisch ging das", sagte der Führer.
    Bei Michael Geyer sitzen zwei Männer an rasend rotierenden Bändern:
    "Hier werden die Stöcke eben geschliffen. Jeder Stock ist ja im Prinzip ein kleiner Baum und an diesem Baum wachsen ja auch Äste und diese Äste werden bei diesem Arbeitsgang abgeschliffen, dass der Griff schön glatt ist, keine Erhebungen hat und dass man ihn eben gut anfassen kann."
    In den 1980er-Jahren begann der Siegeszug des metallenen Teleskopstabs. Die Turnschuhgeneration warf Opas und Vaters Hölzer mit den Stocknägeln aus dem Zillertal und dem Salzkammergut auf den Müll, der ultracoole Alu-Stock wurde Massenware. Man kann ihn leicht in der Höhe verstellen, das ist sein Vorteil, aber:
    "Es ist halt meiner Meinung nach ein schöneres Wandern und ein angenehmeres Tragen wie ein Metallstock, der keine Seele hat und man merkt es auch immer wieder, wenn man wandert und Leuten begegnet, dass die mal schauen, was ein schöner Wanderstock und guck mal, was für einer schöner Stock - und das hört man bei Metallstöcken wahrscheinlich eher nicht."
    "Seele" kann man durchaus unterschiedlich auffassen. Hans Gastrock, der nur wenige Kilometer von Lindewerra entfernt sein Unternehmen betreibt, kann von erstaunlichen Aufträgen erzählen, die das Innenleben eines Stocks betreffen.
    Produziert werden zumeist Stöcke für medizinische Zwecke
    "Vor circa 15 Jahren hatten wir mal eine Anfrage gehabt nach Stöcken für eine gewisse Glaubensgemeinschaft, für Menschen , die regelmäßig zum Gebet sich niederknien, und da haben wir erst mal nur einen Prototyp gemacht, aus dem man einen Stoff ausziehen kann wie so eine Art Rollo und da stand dann etwas drauf - ich kann leider nicht erkennen, was das bedeuten soll - und die Moslems knien sich ja nieder zum Gebet und das war damals gedacht als Gebetsstock."
    Hat sich aber nicht durchgesetzt. Die Firma Gastrock stammt ebenfalls aus Lindewerra, ist aber zu DDR-Zeiten über die Werra gewechselt und hat im Westen Produziert. Jetzt ist sie wieder zurück und hat die Hallen einer ehemaligen LPG übernommen. Produziert werden zumeist Stöcke für medizinische Zwecke, aber immer noch schöne Wanderstöcke.
    "Es gibt Stöcke, wo wir spezielle lange Löcher, ein Langloch einbohren, so ca. einen halben Meter tief, und da passt ein Reagenzglas rein so mit vielleicht fünf, sechs kleinen Gläschen voll Flüssigkeit. Da kann man Hustensaft reinmachen oder andere Flüssigkeiten, je nachdem, wo der Wunsch hingeht."
    Der englische Philosoph Thomas Hobbes pflegte ein Tintenfässchen im Stock zu tragen, andere hatten gar ein komplettes Schreibset mit Feder, Fass und Bleistift im Spazierstock. Stichwaffen im Stock waren ebenfalls beliebt, sind heute aber verboten.
    Mit Michael Geyers Artikel 501, also einem Knaufstock, Kastanie, geflammt, mit Lederschlaufe für das Handgelenk, betrete ich im Naturpark Eichsfeld-Werratal den Premiumweg P 16 rund um den Berg Nase. Mein Stock ist ca. einen Meter lang, der Knauf lässt sich von der Innenhand umfassen, als wäre er maßgeformt.
    Es dauert nur wenige Minuten, dann habe ich den Übergang vom zwei- zum dreibeinigen Gehen geschafft. Schnell wird der Vorteil des Holzstocks deutlich: Durch sein Eigengewicht nimmt er das Schrittmaß des Wanderers auf. Ist der Rhythmus erst einmal synchronisiert, gibt ihn der Stock an den Wanderer zurück. Es entsteht ein harmonischer, fast meditativer Gleich-Schritt im Schwingen und Auftreten, den man stundenlang durchhalten kann. Hingegen müssten die leichten, flatterhaften Alu-Stöcke bei jedem Schritt, bei jedem Aufsetzen, neu geführt und gerichtet werden, sonst bleiben sie nicht mehr dicht am Körper, sondern folgen der Schwerkraft und dem Seitenwind irgendwo hin. Sie verhaken sich, wo immer ein Busch oder Strauch im Weg steht.
    Unerzogene Hunde auf Distanz halten
    "Wenn man einen normalen Wanderstock benützen möchte, dann sollte der Stock bis zum Handgelenk gehen. Also man stellt sich gerade hin, lässt die Arme locker am Körper hängen, dann kann man mit einem Zollstock vom Handgelenk bis zum Erdboden messen, und das sollte dann die fertige Stocklänge sein."
    Hans Gastrock stellt auch die im Gebirge beliebten Alpenstöcke her. Etwas übermannshoch, kann man sich auf sie stützen, um sich über Bäche zu schwingen oder beim Abwärtsgehen Tempo abzubauen. Und - sie sind mit fast zwei Metern Länge beeindruckende Abstandhalter, zum Beispiel, um unerzogene Hunde auf Distanz zu halten.
    Daher erwarten wir das Revival des Wanderstocks als Begleiter in der Natur.
    Dass Wanderer in Landschaften, in welche der Wolf zurückgekehrt ist, den Wanderstock im Allgemeinen und den mannshohen Alpenstock im Besonderen nützlich finden werden, steht wohl außer Frage. Deshalb sagen wir ausdrücklich unseren Hörern und Hörerinnen in Brandenburg, Schleswig-Holstein, Niedersachsen und auch Nordrhein-Westfalen, das im Moment noch als "Wolferwartungsland" gelistet ist: Kauft lange Stöcke!
    "Ja, das wäre eine sehr schöne Sache. Wir ständen bereit."