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Handyvideos
Zwischen Ermächtigung und Helfersyndrom

Handyvideos gehören mittlerweile zum Alltag. Spätestens seit Beginn der Revolutionen im Nahen Osten sind sie auch ein fester Bestandteil des Nachrichtenalltags geworden. Das Handyvideo ist eine Kulturpraxis, davon ist auch der Autor Clemens Setz überzeugt. Eine Kulturpraxis, die Zivilisten ein bisschen mehr Selbstbestimmung gibt und häufig das offizielle Narrativ der Behörden kontaktiert.

Von Sammy Khamis | 09.08.2016
    Eine Frau dokumentiert mit ihrem Smartphone eine Polizeikontrolle in Brooklyn
    Eine Frau dokumentiert mit ihrem Smartphone eine Polizeikontrolle in Brooklyn (Deutschlandradio / Sammy Khamis)
    "Hätten nicht die meisten von uns eine Kamera in der Hosentasche, und hätten nicht einige Passanten die Polizeigewalt dokumentiert, dann wären die meisten Toten heute vergessen. Wir hören nur in Ausnahmefällen von Menschen, die durch Polizeigewalt gestorben sind - und zwar nur dann, wenn es ein Video davon gibt. Diese Videos aber wirken wie ein Katalysator: Durch sie wird das Thema 'Polizeigewalt in den USA' auf eine globale Bühne gehoben."
    Andell Brown kennt die Wirkung von Handyvideos sehr genau: Aus rechtlicher Sicht, denn er ist Anwalt in Miami, und aus seiner persönlichen Sicht als Afroamerikaner. Polizeigewalt trifft in den USA vor allem Schwarze. Allein in diesem Jahr verloren bisher rund 140 Schwarze ihr Leben durch die Kugeln von Polizisten.
    Was macht diese Videos - außer der Gewalt, die sie zeigen - besonders? Eine Frage, die den österreichischen Schriftsteller Clemens Setz beschäftigt. Er hat in den vergangenen Jahren mehrere Artikel über die Ästhetik von Internetvideos verfasst. Darunter ein Essay zu den Enthauptungsvideos des sogenannten Islamischen Staats. Setz nimmt vor allem die Urheber der Videos ins Visier:
    Der kleinste gemeinsame Nenner: Unmittelbarkeit und Mut
    "Ein Merkmal ist, dass es Mut gebaucht hat, dass man stehenbleibt und filmt. Das war bei den Pariser Anschlägen so, dass die Leute irgendwo in Deckung gegangen sind. Da war jemand für einen Augenblick weniger daran interessiert, dass er sich in Sicherheit bringt. Sondern ihm war es wichtiger, oder ihr war es wichtiger, dass man das irgendwie festhält. Das ist eine Sache, die man da präsentiert bekommt. Das ist nicht etwas Ästhetisches, aber doch ein klares Merkmal dieser Sache. Meistens ist es eine gefährdete Form, eine gefährdete Mitteilungsart. Sie entsteht unter widrigen Bedingungen."
    Unmittelbarkeit und Mut - das ist für Clemens Setz der "kleinste gemeinsame Nenner" der Handyvideos - und zwar zwischen den Videos aus den USA, aus Syrien oder auch aus München gleichermaßen. Aber dahinter steht noch mehr: eine Art neuer Bürgerjournalismus. Ein Mittel zur Gegenwehr.
    "Das Zücken des Handys und das schnelle Mitfilmen ist sicherlich verbunden mit dem Helferreflex, den wir alle haben. Und ohne den die menschliche Spezies wohl auch nicht überlebt hätte. Und er wird halt abgeleitet in etwas anderes. In ein Neues, in eine 'technische Prothese'. Manchmal ist das etwas sehr Gutes und manchmal ist das etwas sehr Schreckliches. Es kann leider beides sein. Die Videos von Philando Castile und Alton Sterling: Ich glaube, da wäre es tödlich ausgegangen, wenn die Personen, die mitgefilmt haben, irgendwie eingeschritten wären."
    "Gegennarrativ" zur Polizei
    Filmen, um ein schreckliches Ereignis zu dokumentieren, den Clip im Netz verbreiten und auf diese Weise indirekt helfen - das macht die tiefere Qualität eines Handyvideos aus. Auch von Philando Castile gibt es ein Handyvideo: Man sieht ihn am Steuer eines Wagens sitzen. Ein Polizist führt seine Waffe ins Fahrzeug. Castiles weißes T Shirt wird langsam blutrot. Die Szene: gefilmt von seiner Freundin. Drei Wunden hat Castile - auf dem Weg ins Krankenhaus wird er sterben.
    Das Video wurde oft angeklickt, oft geteilt und es hat viele Menschen verschreckt. Auch weil die Freundin, Diamond Reynolds, nicht hilft, sondern eben "nur" filmt. Für den Anwalt Andell Brown aus Miami ist das ein erstes "Gegennarrativ" zur Polizei.
    Eine Wirklichkeit unter vielen
    "Die Polizei hat viel Macht: Sie hat ein Abzeichen und eine Waffe - sie kann Menschen festnehmen und im schlimmsten Fall auch erschießen. Und Polizisten haben auch die Macht des geschriebenen Wortes: Ihr Polizeibericht ist oft die einzige Quelle nach einer Schießerei. Einige Beamte wurden in letzter Zeit verurteilt, aber nicht wegen ihrer Polizeiberichte, sondern aufgrund von Handyvideos. Für Afroamerikaner ist ein Handyvideo die einzige Art, dem Narrativ der Polizei etwas entgegenzusetzen."
    Handyvideos zeigen nicht die absolute Wahrheit, sondern eine Wirklichkeit unter vielen. Das weiß Andell Brown, der solche Videos regelmäßig im Gerichtssaal zeigt - als Beweismaterial. Doch dank der Verbreitung der Smartphones und der Aufnahmen im Netz können sie über den Gerichtssaal hinaus wirken.
    "Es ist erstaunlich, dass Menschen in so angespannten Situationen die Macht einer Kamera erkennen und sie benutzen. Damit verschieben sie das Mächtegleichgewicht ein wenig in die Richtung der Bürger."