Donnerstag, 28. März 2024

Archiv

Hanns Heinz Ewers
Geschichten, die durch Mark und Bein gehen

Hanns Heinz Ewers war im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts einer der erfolgreichsten deutschen Autoren. Mit seinen blutrünstigen, perversen Geschichten kitzelte er Lüste, wühlte Verdrängtes auf und weckte schlechtes Gewissen. Jetzt sind seine Erzählungen neu erschienen.

Von Helmut Mörchen | 28.08.2015
    Eine Frau mit einem teilweise transparenten Rock steht mit High-Heels an einer rot beleuchteten Bar und unterhält sich mit einem Mann.
    Das Fantasma von der Femme fatale, der dämonischen Verführerin: auch ein Motiv in den Erzählungen von Hanns Heinz Ewers. (picture-alliance / dpa / Jens Kalaene)
    Hanns Heinz Ewers war im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts einer der erfolgreichsten deutschen Autoren. Sein fantastischer Roman "Alraune", 1911 erschienen, wurde bis 1922 über 200.000 mal verkauft und in 25 Sprachen übersetzt. 2014 erschien in der CD-Reihe "Gruselkabinett" eine Hörspielfassung. Dass Ewers heute trotzdem in der literarischen Öffentlichkeit nicht mehr präsent, geschweige denn anerkannt ist, wird vor allem auf seine kurze bis 1934 währende Zusammenarbeit mit den Nationalsozialisten zurückgeführt.
    Aber seine Ausgrenzung hat schon vor dem Ersten Weltkrieg parallel zu seiner steilen Aufstiegskurve begonnen. Phantastische, groteske, skandalumwitterte und Tabus verletzende Massenliteratur hatte es in Deutschland immer schwer. Die Abgrenzung zur Hochliteratur war hier besonders strikt.
    Auch der Konkurrenzneid unter Schriftstellern mag eine Rolle gespielt haben. Neben dem großen Erfolg seiner Bücher reüssierte Ewers auch auf dem Gebiet des damals noch in den Kinderschuhen steckenden Mediums Film. Als Drehbuchautor war er mit dem Stummfilm "Der Student von Prag" 1913 Mitbegründer des Autorenkinos. Kurt Tucholsky, damals gerade 23 Jahre alt und als journalistischer Anfänger noch beim sozialdemokratischen "Vorwärts", nimmt dort in einer Glosse zur Diskussion über die Rolle des Schriftstellers im neuen, noch nicht kulturell als Kunst anerkannten Medium Film gegen Hanns Heinz Ewers Stellung: "Der Feuilletondämoniker, der durch Arbeiten für den Zirkus und der Kino schon viel Geld verdient hat und sein Geschäft gefährdet sieht, ist dafür, dass der Kino doch 'Kunst' ist."
    Als zudem Tucholsky im gleichen Jahr im Bemühen um eine Edition des Werkes Oskar Panizzas, der mit seinem Skandalstück "Das Liebeskonzil" Empörungsstürme mit juristischen Folgen ausgelöst hatte, gegenüber Hanns Heinz Ewers den Kürzeren zog, verlor seine Kritik an Ewers Maß und Zurückhaltung. Er beschimpfte ihn als "Gaudemiché höherer jüngerer Töchter der besseren Familien" und als "parfümierten Salonsadisten". Ja, der auf vielen Feldern erfolgreiche Ewers war ein skandalumwitterter Hans-Dampf-in-allen-Gassen. Schon als Jurastudent zog er ein ausschweifendes Nachtleben den Hörsaalstunden tagsüber vor, auf dem Fechtboden schlagender Verbindungen brachten ihm blutige Mensuren so manchen Schmiss ein. Als Verehrer Oscar Wildes scheute er keine Gesetzesverstöße, Provokationen während einer spiritistischen Sitzung führten zu langwierigen, von der Presse kolportierten gerichtlichen Auseinandersetzungen, die in einer vierwöchigen Haft auf der Festung Ehrenbreitstein mündeten.
    Um es gleich vorweg zu sagen: Die Auswahl von Erzählungen Hanns Heinz Ewers "Lustmord einer Schildkröte" in der "Anderen Bibliothek" widerlegt Tucholskys Urteil. Der wie nur wenige belesene Herausgeber der "Anderen Bibliothek" Christian Döring verbindet das Eingeständnis, dass selbst er "die meisten dieser Erzählungen [...] zum ersten mal gelesen" habe, mit der nachdrücklichen Empfehlung dieses "exzentrischen Fabulierers" und wiederzuentdeckenden "Erzählkünstlers". Die von Marcus Andreas Born und Sven Brömsel getroffene Auswahl von 17 Erzählungen, den Erzählbänden "Das Grauen" (1908), "Die Besessenen" (1909), "Grotesken" (1910 und 1925) und "Nachtmahr" (1922) entnommen, bietet ein breites Kaleidoskop der Ewersschen Kunst.
    Reiseerzählungen bilden Schwerpunkt
    Den Schwerpunkt bilden mit Ort und Jahreszahl dokumentierte Reiseerzählungen. Ewers war, eine halbe Generation älter als Egon Erwin Kisch, ein Vorläufer des rasenden Reporters. Finanziert von Zeitungen, seinem Verleger Georg Müller und der Schifffahrtslinie Hapag, reiste er seit 1905 quer durch die ganze Welt.
    Aus Spanien brachte er "Die Tomatensauce" mit, die schockierend blutige Erzählung über einen menschlichen Hahnenkampf in Andalusien mit tödlichem Ausgang. Der Erzähler begleitet einen wegen seines perversen Voyeurismus in der Gesellschaft verfemten anglikanischen Geistlichen zu einer blutigen Salsa, bei der nicht Hähne, sondern zwei Männer sich gegenseitig zerfleischten. Danach verlassen die beiden Zuschauer erschöpft den Kampfplatz:
    "Als wir auf der Landstraße waren, ging der Pope gutwillig mit. Er fasste meinen Arm und murmelte: 'Oh, so viel Blut! So viel schönes rotes Blut!' Wie ein Bleigewicht hing er an mir, mühselig schleppte ich den Berauschten der Alhambra zu. Unter dem Turme der Prinzessinnen machten wir Halt, setzten uns auf einen Stein – Nach einer langen Weile sagte er langsam: 'Oh das Leben! Wie herrliche Genüsse schenkt uns das Leben! – Es ist eine Lust zu leben!'"
    Die Skandalisierung des Verbotenen verstärkt der Autor, der sich selbst in schlagenden Verbindungen herumgetrieben hatte, mit der Erinnerung des Geistlichen an sein Studium: "Ich habe in Göttingen sehr schöne Mensuren gesehen. – Viel Blut, viel Blut"
    Die auf Haiti spielende Voodoo-Erzählung "Die Mamaloi" verpackt Ewers in eine die Wahrheit des Berichteten beglaubigende Erzählerfiktion, eine im Genre der phantastischen Literatur beliebte Erzählstrategie. Dem Erzähler wird ein Tagebuch über das geschäftlich betrügerische und sexuell ausschweifende Leben eines deutschen Kaufmanns auf der Karibikinsel zugeschickt. Im Begleitschreiben brüstet sich der Händler seiner geschäftlichen Schwindeleien und schreibt, wie gern er seinen Bruder, einen evangelischen Pfarrer, mit ausführlichen Berichten über seine sexuellen Eskapaden mit minderjährigen Mädchen quälte. Die Reaktion des frommen Bruders:
    "Schweige, unseliger Bruder, schweige! Mein Auge blickt in einen Pfuhl ruchloser Fäulnis!" Drei Jahre hat er mir gegrollt, und nur dadurch habe ich seine Versöhnung wiedererlangt, dass ich jedes seiner elf Kinder mit 50.000 Mark im Testament bedacht habe und ihm außerdem einen sehr anständigen Monatszuschuss für seine Söhne sende. Dafür schließt er mich täglich in sein Gebet ein. Wenn ich ihm schreibe, verfehle ich nie, ihm mitzuteilen, dass wieder eine junge Dame meines Ortes in das passende Alter von acht Jahren getreten sei und sich meiner Gunst erfreut habe. Er möge für mich alten Sünder beten."
    Mehr als nur Blut und Sexualität
    Schlimmer noch als das skandalöse Leben des Kaufmanns ist das aufs Geld schielende Stillhalten des bigotten Bruders. Eine Metapher für den realen Kolonialismus, mit dem die Leser damals durchaus vertraut waren. So hatte etwa der "Vorwärts" im Jahr 1899 den deutschen Ostafrika-Kolonisator Carl Peters, Pfarrerssohn und studierter Philosoph, als "renommistisches Scheusal" angeprangert, als einen "grimmigen Arier, der alle Juden vertilgen will und in Ermangelung von Juden drüben in Afrika Neger totschießt wie Spatzen und zum Vergnügen Negermädchen aufhängt, nachdem sie seinen Lüsten gedient."
    Vor diesem Hintergrund versteht man, dass Ewers mit seinen fiktiven Gräueltaten Irritation auslösen musste. Er kitzelte Lüste und weckte, Verdrängtes aufwühlend, schlechtes Gewissen. Für uns heute deutlich in einer kritischen Entschiedenheit, die den Lesern damals wohl verschlossen blieb.
    Dass sich Ewers' Erzählungen nicht nur um Blut und Sexualität drehen, sondern Abweichung und Maßlosigkeit generell zum Thema haben, zeigt seine kurze kafkaeske Groteske "Abenteuer in Hamburg". Der Ich-Erzähler ist Bleistiftkleptomane, der jährlich mit einem Sack voller Bleistifte, nach Hamburg fährt, um sie dort mit einem Bleistiftspitzautomat am Alsterpavillon zu spitzen. Als der gestohlen worden war, bricht er in die Asservatenkammer des Gerichts ein, um dort seinem Spitzzwang nachkommen zu können. Er verrammelt sich, seine Verfolger versuchen, die Türe aufzubrechen, "während ich spitzte, spitzte, spitzte. Ganze, halbe und Stümpchens. Ich kam glänzend vorwärts und geriet so in Begeisterung, dass ich ausrief: 'Es ist eine Lust, zu leben!'" Die kurze Erzählung mündet in den Ausruf: "Was ist denn Hamburg, wenn man dort nur noch unter schweren Gefahren seine Bleistifte spitzen kann?"
    Schließlich noch der Hinweis auf eine Erzählung, die aus dem Rahmen herausfällt. Ja, es ist auch eine Schauergeschichte, mit einem ungewöhnlichen Gewaltakt am Ende. Aber "Der letzte Wille der Stanislawa D'Asp" ist – bis aufs Ende – nicht eklig und auch nicht, wie die Hamburg-Episode, satirisch. Die Urthemen der Dichtung, Liebe, Tod und Religion, werden hier so überraschend und originell behandelt, dass es dem Leser den Atem verschlägt. Es ist die Dreiecksgeschichte mit einer Femme Fatale im Zentrum, die den sie abgöttisch liebenden Ehemann und den sie nur sexuell begehrenden Liebhaber nach ihrem Tod durch ein perverses Testament vereint. Hier schildert Ewers eine wahrhaft unerhörte Begebenheit. Allein wegen dieser spannenden Novelle lohnt es sich, zu diesem Band der "Anderen Bibliothek" zu greifen.
    Hanns Heinz Ewers: "Lustmord einer Schildkröte und weitere Erzählungen"
    Die Andere Bibliothek, Berlin 2014. 431 Seiten, 38,00 Euro.