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Hans Christian Andersen als Künstler
Märchenhafte Scherenschnitte in Bremen

Hans Christian Andersen gehört zu den berühmtesten Märchendichtern. Die Kunsthalle Bremen zeigt nun mit der Ausstellung “Hans Christian Andersen. Poet mit Feder und Schere“ seine künstlerische Seite. Denn Andersen hinterließ neben Dichtungen auch Zeichnungen, collagierte Bilderbücher und Scherenschnitte.

Von Rainer Berthold Schossig | 20.10.2018
    Der dänische Dichter und Schriftsteller Hans Christian Andersen hinterließ auch Zeichnungen, collagierte Bilderbücher und Scherenschnitte
    Der dänische Dichter und Schriftsteller Hans Christian Andersen hinterließ auch Zeichnungen, collagierte Bilderbücher und Scherenschnitte (imago stock&people)
    "Es macht nichts, im Entenhof geboren zu sein, wenn man nur in einem Schwanen-Ei gelegen hat." In diese Einsicht lässt der Dichter Hans Christian Andersen das Märchen vom "Hässlichen jungen Entlein" münden. Andersen, der nach langen Umwegen zum Dichten und Märchenerzählen fand, hat in seine Texte immer praktische Volksweisheiten und aktuelle Handreichungen eingeflochten. Er sprach seine Leser – Kinder wie Erwachsene – immer direkt an. Die Bremer Ausstellungsmacherin Anne Buschhoff:
    "Als das Telegrafenkabel zwischen Europa und Amerika verlegt wurde, hat er darüber ein Märchen geschrieben, das heißt ‘Die Seeschlange‘ und es hat die köstliche Perspektive der Fische, die sich fragen, warum sich da so ein unendlich langer, dünner Fisch sich ihnen zugesellt hat."
    Kobolde, Trolle und Geister aus Papier
    Zwitterwesen wie tierische Technik und mechanische Nachtigallen tauchen nicht nur in Andersens Märchen auf, sondern er schnitt auch merkwürdige Kobolde und Trolle, Geister in Flaschen oder gestiefelte Sonnenblumen mit spitzer Schere aus feinen, vielfarbigen Papieren. Detlef Stein, Ko-Kurator der Bremer Schau, hat diesen "anderen Andersen" in Dänemark neu entdeckt:
    "Er verfügte über die Begabung synchron Geschichten zu entfalten, in der freien Rede aber auch durch Ablesen von Papier und gleichzeitig die Schere durchs Papier zu dirigieren und auch noch die Erzählung und den Scherenschnitt gleichzeitig zu einem Abschluss zu bringen. Es muss immer ein großer Effekt, wenn er seine Papierarbeiten entfaltet, präsentiert hat."
    "Andersen hat es verstanden, seine Lebensgeschichte literarisch aufzugreifen"
    Der Scherenschnitt war eine im Biedermeier auch von Laien geübte Technik, und wie Andersen in seinen Märchen mit Vergnügen auf Volkssagen zurückgriff, zum Beispiel auf den skandinavischen Urmythos von der "Meerjungfrau", so bediente er sich auch gern des populären Papierschnitts. Zugleich war er aber ganz "von seiner Zeit", ein Modernist des Märchens. Detlef Stein:
    "Andersen hat es verstanden, seine Lebensgeschichte literarisch aufzugreifen und er hat sicher auch darauf spekuliert, dass seine Leserschaft letztlich mit ihm – HC Andersen – mitfühlt, und diese Wandlung auch durchgemachen vom Hässlichen Jungen Entlein zum prächtigen Schwan."
    Einfache Menschen, Handwerker, Bauern und Soldaten, sprechende Haustiere und Dinge des Alltags – das war der Stoff, aus dem er seine Märchen machte. Auch seine Scherenschnitt-Motive folgen der unruhigen Phantasie des Poeten. Ein Brautkranz am Galgen, verwunschene Moscheen mit schwankenden Minaretten, in denen Prinzessinnen eingeschlossen sind, rotierende Mühlen-Monster mit Flügelarmen und Fliegende Teppiche, Kopffüßler und schwärmende Dichter. Anne Buschhoff:
    "Er hat die Scherenschnitte wenn er Gast war – und er war ein sehr gern gesehener Gesellschafter – gearbeitet, und er hat sie nach seinen Erzählungen auch verschenkt. Nach seinem Tod war tatsächlich kein einziger Scherenschnitt in seiner Wohnung!"
    Eine zauberhafte Mischung, die an Schwitters oder Beuys erinnert
    Gezeigt werden auch eine Reihe erstaunlich frischer Skizzen, die auf seinen Reisen durch Deutschland, Italien und Frankreich, ja bis nach Konstantinopel entstanden. Höchst ungewöhnlich, ja "modern", geradezu surrealistisch wirken Andersens Text-Collage-Bücher. Er verwendete Motive ganz disparaten Ursprungs: rätselhafte Embleme, Notenblätter, Stahlstiche von Früchten und Vögeln oder Theaterprogramme, bis zu Zigarrenbildern und Eintrittskarten, alles in merkwürdig zauberhafter Mischung, die an Schwitters oder Beuys erinnert. Detlef Stein:
    "Die Motive der Scherenschnitte korrespondieren in den seltensten Fällen mit seiner literarischen Arbeit, und wir können davon ausgehen, dass Andersen sie gebraucht hat, um anhand dieser Figuren und Formen neue Geschichten zu entzünden."
    Bekannte und Freunde auf Landschlössern und Gutshöfen schätzten ihn als geistreichen Gast, und Andersen war hin- und hergerissen zwischen der behaglichen Gesellschaft bei Hofe und seiner Sympathie für die bürgerliche Befreiungsbewegung in Kopenhagen. So portraitiert die Bremer Andersen-Ausstellung nicht nur eine andere, skurrile Facette des wohlbekannten Märchen-Poeten, sondern einen kreativen, vielfältig interessierten, eigensinnigen Zeitgenossen.