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Hans Fallada: „Lilly und ihr Sklave“
Überraschungsfund in der Gerichtsakte

Was für eine Entdeckung: Zwei bislang unbekannte Erzählungen Hans Falladas fanden sich in einer Gerichtsakte des umtriebigen Erzählers. Sie sind jetzt erstmals zu lesen. Sie handeln von der Liebe und von der Gefühlskultur der Weimarer Zeit.

Von Christian Metz | 09.07.2021
Hans Fallada und das Buch mit seinen Erzählungen "Lilly und ihr Sklave"
In einer Gerichtsakte gefunden - frühe Erzählungen von Hans Fallada (Foto: Archiv Aufbau Verlag, Buchcover: Aufbau Verlag)
Man muss diesen Band mit neuen Erzählungen von Hans Fallada von hinten nach vorne und damit von seinen Begleittexten aus lesen. Im ersten Nachwort erzählt die Rechtsmedizinerin Johanna Preuß-Wössner, wie sie in einem Kieler Archiv ein bislang verschollenes, gerichtsärztliches Gutachten über Hans Fallada aufspürte. Im zweiten Nachwort erläutert der Fallada-Experte Peter Walther die lebensgeschichtliche sowie literaturhistorische Relevanz dieses Fundstücks. Der höchst exakt arbeitende Gerichtsgutachter hatte nämlich für die Nachwelt eine Überraschung bereitet, die sich als doppelter Glücksfall erwies. Denn ...
"zum einen geben die Unterlagen einen Einblick in das Selbstverständnis Hans Falladas in jenen Jahren. Zum anderen ist es dem weit ausgreifenden Interesse des Gerichtsmediziners an der geistigen Entwicklung Falladas zu verdanken, dass sich in den Akten fünf Erzählungen erhalten haben, von denen zwei bisher unbekannt waren."
Was für eine Entdeckung! Doch was ist sie wert? Sicher, die Vorstufen zu den bereits bekannten Texten sind für Forscher aufschlussreich. Aber einem breiteren Publikum dürfte der Nuancenvergleich doch eher fernliegen. Die beiden bislang unbekannten Erzählungen sind ein schöner Fund. Jedoch fügen sie keine vollkommen neuen Facetten zu Falladas literarischem Werk oder gar zur Literaturgeschichte seiner Zeit hinzu. Der Fund selbst mag eine Sensation sein, die Fundstücke indes sind es nicht.

Gefühlsfiktionen für das neue Jahrhundert

Dennoch beeindrucken alle fünf Erzählungen. Weil sie klar machen, was für ein herausragender Gefühlschronist Fallada ist. Sie erzählen vom Umbruch der Gefühlskulturen in den Zwanziger- und Dreißiger-Jahren. Falladas Figuren erproben neue Anschauungen und Emotionen. Daher urteilen sie harsch über jene, die aus ihrer Sicht noch in der traditionellen Gefühlswelt gefangen sind. Wie etwa Marie über ihren Ehemann:
"Er gehört zu den Aussterbenden, die noch die Gefühle ihrer Vorfahren haben, die zu erkennen vermögen, dass diese Gefühle aus längst vergangenen Anschauungen entstanden sind, und die doch Sklaven dieser Anschauungen bleiben."
In diese emotionale Umbruchsphase, in welcher das Neue angelegt ist, das Alte aber noch seine Macht bewahrt, leitet Fallada seine Figuren. Wobei eine Besonderheit dieses Bandes darin besteht, dass vier Erzählungen aus weiblicher Perspektive erzählt werden. Die Frauen – nicht die Männer – leiten den Aufbruch zu einer neuen Gefühlskultur ein.

Das Phantasma der unaufhaltbaren Gefühlsmaschinerie

Fallada lässt keinen Zweifel, dass die pure Not die Frauen zu diesem Neuanfang zwingt. Jederzeit droht nämlich beim Mann die Lust in sexuelle Gewalt zu kippen. In seinen Erzählungen spitzt Fallada diese – den Diskursen seiner Zeit nach – unbeherrschbare Macht radikal zu. Zweifach erzählt er von Vergewaltigungen, bei denen die Frauen geschwängert werden. Von der Inszenierung dieses Extrems aus entfalten die Texte ihre Gefühlsstudien. So verzweifelt die eben schon gehörte Marie, die Erzählerin von "Der Apparat der Liebe", daran, dass ihre Schwester sich in dieses vermeintliche Schicksal der sexuellen Natur ergibt.
"Ich habe ihr wohl einmal gesagt, dass sie die Männer doch anzeigen müsse, aber sie hat bloß mit dem Kopf geschüttelt und gesagt: ,Nein-nein, Mieze die können doch auch nichts dafür. Die haben es tun müssen.’ Denn das hat sie fest geglaubt, dass an allem das Leben schuld sei und jeder in seinen Händen ein Werkzeug, ein gutes oder schlechtes, ungefragt."
Die Vergewaltigung stellt in Falladas erzählter Welt allerdings nur die Zuspitzung der allgegenwärtigen Angst dar, die Maschinerie der Triebe könne ins Laufen geraten. Die ins Literarische gewendete Frage lautet: Wie kann sich der Einzelne aus diesem Apparat befreien? Noch einmal Marie:
"Für viele, viele Jahre ist da meine Sinnlichkeit verschüttet worden und mir die Liebe wie ein grauenhafter Apparat erschienen, eine richtige umständliche tote gefährliche Maschine mit Rädern und Sehnen und Übertragungen und Spannung."
Aus Angst vor der Maschinerie bleibt nur der eiserne Wille, den Körper vollkommen zu beherrschen. Damit allerdings wird der eigene Körper zum Gegner. So folgert Marie:
"Und mein Körper ist mein Feind geworden, und ich habe ihn gehasst und verachtet und gequält und habe mit Lust auf den harten Dielen geschlafen, weil er nur leiden sollte, und habe in hungern und dürsten lassen und wachen."
In diesem Dilemma der schlechten Alternative sind Falladas Figuren gefangen. Sie sind damit gefühlsverwandt zu den Figuren von Autoren wie Alfred Döblin, Arthur Schnitzler oder Irmgard Keun. Aus ihrer Selbstquälerei suchen Falladas Figuren auf jeweils eigene Art einen Ausweg. Das macht den Unterschied zwischen den einzelnen Erzählungen aus.

Im Bann der eigenen Willenskraft

Lilly etwa, die Protagonistin der Titelerzählung, will sich die Welt zum Untertan machen. Ihren unbedingten Unterwerfungswillen diagnostiziert Fallada als Folge eines fatalen Rollentauschs
"Einziges Kind reicher Eltern, sah sie früh schon ihren Willen als maßgebend anerkannt."
Da die Eltern Lillys kindlichen Willen zum Maßstab machen, erheben sie ihre Tochter zur Entscheidungsinstanz. Lillys Willenskraft avanciert zur Willkürherrschaft. Falladas bislang unbekannte Erzählung zeichnet knapp und skizzenartig, worin eine solche Konstitution mündet: in einen Überbietungswettbewerb immer neuer Grausamkeiten. Was könnte einen Emotionstyrannen vor sich selbst retten? Darauf gibt die bislang ebenfalls unbekannte Miniatur "Robinson im Gefängnis" eine Antwort: nämlich selbstverordnete, radikale Einsamkeit. Sie liegt extrem nahe an der Lebenswirklichkeit Hans Falladas selbst, der seinerseits ein Grenzgänger zwischen emotionalen Extremen war. Seine neuen Erzählungen sind kein Sensationsfund, beeindrucken aber als hochkonzentrierte Gefühlsfiktionen.
Hans Fallada: "Lilly und ihr Sklave. Mit unveröffentlichten Erzählungen"
Herausgegeben von Johanna Preuß-Wössner und Peter Walther
Aufbau Verlag, Berlin. 272 Seiten, 22 Euro.