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Hans Grewel Lizenz zum Töten.

Zum Schluss ein Buch über ein Thema, das im kommenden Jahr wohl für manche Debatte sorgen wird: Es geht um den gesamten Bereich der medizinischen Ethik, mithin um Anfang und Ende des Lebens und das in Funktion des medizinischen Fortschritts. Wer bestimmt wann über Leben und Tod? Das ist die Frage, der der Professor für evangelische Theologie an der Uni Dortmund, Hans Grewel, seit Jahren nachgeht. Herausgekommen ist ein abwägendes Nachschlagewerk. Stefan Rehder hat es gelesen:

Stefan Rehder | 30.12.2002
    Zum Schluss ein Buch über ein Thema, das im kommenden Jahr wohl für manche Debatte sorgen wird: Es geht um den gesamten Bereich der medizinischen Ethik, mithin um Anfang und Ende des Lebens und das in Funktion des medizinischen Fortschritts. Wer bestimmt wann über Leben und Tod? Das ist die Frage, der der Professor für evangelische Theologie an der Uni Dortmund, Hans Grewel, seit Jahren nachgeht. Herausgekommen ist ein abwägendes Nachschlagewerk. Stefan Rehder hat es gelesen:

    In Lizenz zum Töten behandelt Hans Grewel, Professor für evangelische Theologie an der Universität Dortmund und Experte für Medizinethik und Technikfolgenabschätzung, nicht das fiktive, sondern das reale Töten. Genauer: das Töten wehrloser und unschuldiger Menschen in all ihren Entwicklungsstadien.

    Gegliedert ist das Buch in zwei Teile. In einem ersten stellt Grewel zunächst jene Entwicklungen dar, die der technische Fortschritt in Medizin und Biotechnologie der letzten 4o Jahre mit sich gebracht hat und die die Mediziner heute in ihrer Fachsprache sauber zwischen Embryozid, Fetozid, Infantizid, Gerontozid unterscheiden lassen. Dabei geht es dem Autor weder um eine prinzipielle Ablehnung des technologischen Fortschritts in der Medizin noch um eine Verteuferung von Ärzten und Forschern. Er schreibt:

    Seit sich die Intensivmedizin entwickelt hat, können Ärzte Menschen helfen und heilen, wie das vor Jahrzehnten noch völlig undenkbar schien. Ungezählte Menschen verdanken dem ärztlichen Handeln in einer schweren gesundheitlichen Krise nicht selten ihr Leben, auf jeden Fall aber, dass ihre Beschwerden gelindert werden und sich ihr Zustand bessert. Krankheiten, die früher schicksalhaft hingenommen werden mussten, sind heilbar geworden.

    Gleichwohl nimmt Grewel kein Blatt vor den Mund, um aufzuzeigen, wie teuer solche Erfolge bisweilen erkauft werden. Denn Ärzte helfen nicht nur, sie töten auch, und zwar in mehrfacher Hinsicht:

    Lebensrettendes Handeln in der Medizin ist oft nur möglich, wenn bei der Erforschung menschliches Leben getötet wird, wie dies zum Beispiel in der sogenannten verbrauchenden Embryonenforschung oder in der Reproduktionsmedizin der Fall ist. Ärzte töten auch direkt; nicht gewalttätig und offensichtlich, sondern unter so wohlklingenden Namen wie wie Embryonenforschung, Prävention, Organspende oder Sterbehilfe.

    All diesen Praktiken geht Grewel auf den Grund und analysiert ihre jeweilige Problemgeschichte. So zeigt Grewel etwa auf, wie aus der Hilfe beim Sterben in Ländern wie den Niederlanden, Belgien und der Schweiz immer häufiger eine Sterbe-Nachhilfe wird oder wie die pränatale Medizin zur Selektion von Menschen mit Behinderung führt. Damit nicht genug, untersucht der Autor jeweils aus welcher Situation und von welchem Standpunkt aus die Handelnden jene Bewertung vornehmen, die schließlich in ein Todesurteil mündet. Dabei kommt er zu dem Ergebnis, dass die vorherrschenden Definitionen von Leid viel zu unscharf sind, als dass sie eine Entscheidung wie die einer Tötung rechtfertigen könnten. Der Autor wörtlich:

    Das sind Klassifizierungen, die von außen, allein aus einer angemaßten Position des unbeteiligten Betrachters an die jeweilige Situation herangetragen werden. Aber dieser Beobachter bleibt nicht unbeteiligt. Er ist vielmehr in fataler Weise in die Situation mit eingebunden, indem er seine eigene Einstellung zu einem Leben unter solchen leidvollen Bedingungen auf andere Menschen bewusst oder unbewusst überträgt. Denn im Grunde sagt der Betrachter ja nichts anderes als: Ich möchte so nicht leben.

    Nachdem der Autor das so genannte Mitleids-Argument als Akt der Fremdbestimmung enttarnt hat, durch die nicht das Leid, sondern der Leidende beseitigt werde, fragt Grewel im zweiten Teil des Buches danach, wie ein ethischer Neuanfang in Medizin und Forschung ausschauen könnte. Die verschiedenen Konzepte vergleichend und abwägend, landet er schließlich bei der Ethik, die noch ein klares Tötungsverbot enthält. Nur wenn diese wieder Gültigkeit erlange - ist Grewel überzeugt - führe der medizinische Fortschritt in eine menschliche Zukunft, seien Begriffe wie Menschenwürde, Selbstbestimmung und Menschenrechte mehr als nur leere Worthülsen:

    Wenn hier auf der uneingeschränkten Geltung des Schädigungs- und Tötungsverbots bestanden wird, dann geht es nicht um Rechthaberei. Denn alle Erfahrung lehrt, dass, wenn an einer Stelle eine Ausnahme von dem grundsätzlichen Tötungsverbot eingeräumt wird, es völlig willkürlich wäre, nicht auch an anderer Stelle solche Ausnahmen zuzulassen.

    Die Erlaubnis zur Tötung würde zudem die Gesellschaft entlasten, die menschlichen Verhältnisse so zu verbessern, dass alle Menschen unter dem Schutz von Menschenwürde und Menschenrechten leben können, auch von der Verpflichtung, die zwischenmenschlichen Verhältnisse nach Möglichkeit so zu gestalten, dass unerträgliche Notsituationen, die Menschen nur durch Töten meinen bewältigen zu können, gar nicht erst eintreten. Vorsorge tut not, nicht Reparatur des bereits eingetretenen Schadens oder gar Entsorgung der Geschädigten."

    Weil Ärzte und Gesellschaft begännen, sich an das Töten zu gewöhnen, sei es an der Zeit, innezuhalten und sich zu besinnen. Denn der Autor ist überzeugt:

    Wir können es uns nicht mehr leisten, erst dann über Chancen, Risiken und wirkliche Gefahren der wissenschaftlichen Forschung nachzudenken, wenn deren technische Anwendungen unumkehrbar geworden sind. Dann entfalten sie bereits ihre Eigendynamik und werden euphemistisch Sachzwänge genannt.

    Wenngleich nicht jeder Grewels Ansicht teilen wird, dass Leben ein Gottesgeschenk sei, welches in jedem Fall vom Betroffenen anzunehmen sei und seine Mitmenschen, dort wo es Leid beinhaltet, zur Solidarität verpflichtet, so ist dem protestantischen Theologen mit Lizenz zum Töten doch ein mutiges Buch gelungen, dessen Lektüre für Experten stets spannend und für Laien jederzeit verständlich bleibt. In sich widerspruchsfrei, stellt das in ihm Dargelegte nicht nur eine lohnende Fundgrube für jene dar, welche die 'Heiligkeit des Lebens’ verfechten, sondern auch eine echte Herausforderung für alle anderen.

    Stefan Rehder besprach Hans Grewel: Lizenz zum Töten - Der Preis des technischen Fortschritts in der Medizin, erschienen bei Klett-Cotta in Stuttgart, 3o4 Seiten für 19 Euro. Und das, meine Damen und Herren, war unser Buchprogramm heute; das letzte in diesem Jahr. Am Mikrofon bedankt sich für’s Zuhören Jürgen Liminski - ich wünsche Ihnen noch einen angenehmen Abend.