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Hans Magnus Enzensberger
Erloschene analoge Welt von betörender Poesie

Für die Öffentlichkeit trat Hans Magnus Enzensberger weniger als Literat in Erscheinung denn als Essayist. Dabei polarisierte er. Nun ist er in die Jahre gekommen und es stellt sich die Frage: Ist er zornig geblieben oder hat die Altersweisheit ihn übermannt? Sein Protagonist Herr Zett jedenfalls zeigt unverblümte Nähe zu seinem Schöpfer.

Von Werner Köhne | 18.12.2013
    “Philosophische Brosamen“ so der Titel einer Schrift von Sören Kierkegaard. Der abgründige Denker spekuliert darin über die tiefe Kluft zwischen Glauben und Wissen.
    Herr Zett, ein untersetzter älterer Herr, wird die Schrift des dänischen Grüblers kennen. Indessen verweisen die Brosamen, die er uns darbietet, auf weniger Tiefgründiges. Sie suchen eher den Vergleich zu jenen Krümeln, die früher beim Brechen des Brots auf dem Boden fielen – und die auflesen mochte, wer wollte. Wenn nicht, dann eben nicht.
    Herr Zett - das wird bei der Lektüre bald klar - zeigt unverblümt die Nähe zu seinem Schöpfer Hans Magnus Enzensberger. In der vorliegenden Schrift versucht denn auch der Autor gar nicht erst, die Betrachtungen seines Helden literarisch zu verfremden oder uns gar in der Pose eines "Also sprach Herr Zett … “ zu imponieren.
    Herr Zett hat es sich zur Gewohnheit gemacht, täglich in einem Stadtpark aufzutauchen, wo er eine veritable Zuhörerschaft um sich versammelt. Man hört ihm zu, stellt Fragen, reagiert auch mal gereizt auf seine Ansichten.
    Aber was hat er zu sagen? Und warum hört man ihm zu – ihm, dem man als Passanten glatt übersehen würde – was ihm auch recht wäre.
    "Die Unauffälligkeit, sagte Z., sei ein Gut, das man nicht geringschätzen sollte."
    Dazu passt auch dieses Bonmot:
    "Die Vermeidung", sagte Z., "ist eine hohe Kunst, die selten gelehrt und noch seltener beherrscht wird. Die meisten Menschen sind von der Menge des Entbehrlichen hoffnungslos überfordert."
    Stoizismus und ein in Altersweisheit badender Wille zum Verzicht
    Da kündigt sich Stoizismus an, ein in Altersweisheit badender Wille zum Verzicht. Aber den Seneca oder den Buddha will Zett nun auch nicht geben.
    Denn er kann auch austeilen; so wettert er gegen die modernen Designer, die Trendsetter, gegen Talkshows, öffentliche Huldigungen und die richtungslose Gier von Topmanagern. Gottlose sind ihm ebenso verdächtig wie Gottesverehrer. Ganz fies findet er den Meinungsterror.
    "Es kommt vor", sagte Z. zur gewohnten Stunde, "dass uns auf der Straße oder am Telefon irgendwelche Leute ganz ungeniert nach unserer Meinung fragen. Sie berufen sich auf unsere gesetzlich garantierte Freiheit, diese zu äußern, tun aber so, als ginge es dabei um eine Pflicht. Man tue gut daran, solchen Wegelagerern den Rücken zu kehren. Es gebe ohnehin bereits zu viele Meinungen. Wer die Seinige von sich gebe, trage zu einer unappetitlichen Umweltverschmutzung bei. Schon aus hygienischen Gründen wechsle er, Z., seine Meinungen öfter als sein Hemd."
    Und die Betrachtung Nr. 100 schließt direkt daran an.
    "Haltbarer als Meinungen seien Argumente; die ließen sich immerhin angreifen und verteidigen, was unterhaltsam sei und die Gehirntätigkeit fördere. Am festesten sitze meistens das, was einer hege, nämlich seine Überzeugungen. Er rate nicht dazu, sie preiszugeben; es sei besser, sie so lange wie möglich für sich zu behalten."
    Spätestens hier ist aller Zweifel beseitigt, dass durch Herrn Zett jemand anderer zu uns spricht als Hans Magnus Enzensberger. Jener Autor, der sich seit 40 /50 Jahren in der öffentlichen Arena als wandlungsfähiger Freigeist einen Namen gemacht hat. Als Aufrüttler, Anwalt des Normalen und - unter dem Applaus des Feuilletons - Kämpfer wider den Zeitgeist.
    Wer mehr über diese Wendigkeit erfahren möchte, sollte einmal in das Buch "Was ist Was" seines Bruders Christian Enzensberger hineinlesen. Der jüngere der beiden zeigt sich darin fassungslos über die feinen Antennen des Älteren für das, was in der Luft liegt und wie er dies sogleich kreativ transformiere. Einer der die Welt beriecht, betastet und bedenkt, wie kein anderer seine Marken setzt, um sich dann ebenso plötzlich der Welt wieder zu entziehen.
    Derlei Urteil sollte sich gerade da bestätigen, wo Hans Magnus Enzensberger nach seinem frühen Geniestreich mit dem Lyrikband "Verteidigung der Wölfe" und seiner Proklamation zum "Tod der Literatur" in den siebziger und achtziger Jahren mit den linken Utopien abrechnete.
    Z.s Betrachtungen fallen in eine Zeit, die weniger von alten Ideologien als vom digitalen Flow gekennzeichnet ist
    Herrn Zetts Betrachtungen fallen indes in eine Zeit, die weniger von alten Ideologien als vom digitalen Flow und einem Muddling through geprägt sind: Jeder wurschtelt sich irgendwie durch; der eine am Laptop; der andere im Feuilleton, der dritte im Dauerpraktikum - das Politische hingegen erscheint als ein alternativloses sich selbst generierendes System, dem kein Intellektueller mehr etwas entgegensetzen kann.
    Herr Zett immerhin ahnt etwas von diesem Dilemma - aber noch scheint er gefangen in alten Klischees. Aus seiner kritischen Zuhörerschaft ragen ein älterer linker Soziologe und ein junger Philosophiestudent mit Hang zum Dekonstruktivismus hervor, als ginge es heute noch darum, dem Neomarxismus und der Postmoderne den Garaus zu machen. - Längst passe!
    So retten denn auch jene Passagen und Betrachtungen dieses kleine Büchlein, die in feine Wehmut gewebt sind - in Erinnerungen an eine erloschene analoge Welt, die weniger vernetzt war, dafür aber eine betörende Poesie entfesselte.
    "Ein Gymnasiast: "Alle Welt chattet, bloggt und twittert, das genügt. Sie sollten ihr Telefon abmelden." Z. schwieg. "Sie haben recht", sagte er nach einer Weile. "Wenn ich Ihnen von den Telegraphenstangen an der Landstraße erzählen wollte, dem Auf und Ab der Drähte, von den Sperlingen, die sich auf ihnen nieder ließen, und von der Notenschrift, die sie an den Himmel schrieben - Sie würden mich kaum verstehen. Aber das macht nichts. Zwitschern Sie ruhig weiter!"
    Hans Magnus Enzensberger, "Herrn Zetts Betrachtungen oder Brosamen, die er fallen ließ, aufgelesen von seinen Zuhörern", Suhrkamp Verlag, 2013, 227 Seiten, 15 EURO