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Hanser-Chef Jo Lendle
Lust auf Neues

Als neuer Chef des Hanser Verlags ist Jo Lendle einer literarischen Tradition verpflichtet, soll zugleich aber dafür sorgen, dass das Münchner Traditionshaus die rasanten technischen Entwicklungen nicht verpasst. Für diesen Job ist eine seiner Eigenschaften besonders nützlich.

Von Holger Heimann | 01.04.2015
    Jo Lendle zu Gast am Stand von Deutschlandradio bei der Frankfurter Buchmesse 2013
    Jo Lendle zu Gast am Stand von Deutschlandradio bei der Frankfurter Buchmesse (Deutschlandradio - Cornelia Sachse)
    Er hat den vielleicht interessantesten und zugleich auch schwierigsten Job im deutschsprachigen Buchverlagsgeschäft. Der Hanser Verlag, den Jo Lendle seit mehr als einem Jahr leitet, gilt vielen als die beste literarische Adresse zwischen Zürich und Hamburg. Lendle ist einer Tradition verpflichtet und muss das Haus zugleich behutsam modernisieren. Leicht ist das auch deswegen nicht, weil das Buchbusiness gerade gehörig durchgerüttelt wird und zunehmend Technologiefirmen wie Amazon den Takt bestimmen. Es ist daher durchaus als selbstbewusstes Statement zu verstehen, dass Jo Lendle als markanteste Neuerung vergangenen Herbst unter dem Namen Hanser-Box eine digitale Reihe begründet hat. Wöchentlich erscheint ein aktueller Titel, den es nur als E-Book gibt. Demonstriert werden soll so nicht zuletzt, dass ein Traditionshaus wie Hanser mit der rasanten digitalen Entwicklung Schritt hält.
    "Worum es uns hier geht, ist, uns selbst die Augen zu öffnen: Wie würde man das Verlegen heute erfinden, wenn man es noch einmal neu erfinden würde? Wie können vielleicht im Digitalen neue Erzählformen kreiert werden. Wir überlegen gerade, ob man zurückgehen könnte zu so etwas wie dem Zeitschriftenroman. Es war doch schön, wenn Dickens jede Woche ein kleines neues Kapitel gemacht hat und man diese Lektüre in die Chronologie seines Lebens mit einbauen konnte. Nichtlineares Erzählen. Sprunghaftigkeit. Über die Möglichkeiten, die aus diesem digitalen Verfahren entstehen, können neue Literaturen entstehen."
    Bislang jedoch dominieren bei Hanser-Box kurze, konventionelle Texte: Essays, Erzählungen, Gedichte, wie sie auch in Zeitschriften erscheinen könnten. Zumeist stammen sie von Autoren, die man aus dem Hanser-Hauptprogramm kennt, darunter etwa A.L. Kennedy, T.C. Boyle, Thomas Glavinic und der zuletzt mit dem Nobelpreis ausgezeichnete Patrick Modiano. Das folgenreiche Experiment mit neuen Textformen lässt weiter auf sich warten. Dabei propagiert die Netzgemeinde seit Jahren, dass sich das Erzählen grundsätzlich wandeln wird. Lendle glaubt das auch, doch mit konkreten Voraussagen hält er sich zurück:
    "Es wird sich verändern. Aber es wird sich wahrscheinlich nicht in der Weise verändern, die wir im Moment ausprobieren, weil vieles von dem irrsinnig langweilig ist. Es ist wie in schlechten Theaterstücken, wo die Leute ungeheure Effekte machen und man sich fragt: Wofür waren die Effekte noch mal gut? Es gibt auch Verlage, die bauen eigene Spielfilmabteilungen auf für sehr viel Geld, um zwischen die Kapitel kleine Spielszenen in ihre E-Books einzubauen. Das will ich nicht, weil ich fest davon überzeugt bin, dass wir deswegen an der Literatur festhalten, weil wir diese Kinos am allerbesten im Kopf haben."
    Kaum jemand nutzt die Möglichkeiten von Facebook und Twitter so geschickt wie Lendle
    Der Nachfolger von Michael Krüger bei Hanser ist oft als einer beschrieben worden, der zu einer neuen Verlegergeneration gehört, die mit größerer Neugier und Offenheit als ihre Vorgänger den Umwälzungen im Verlagsgeschäft begegnet. Während Krüger gern und häufig gegen das E-Book polemisierte und vor den Folgen der Digitalisierung für die Buchkultur warnte, betont Lendle gern, dass ihn die forcierte Unterscheidung zwischen Holz- und Elektroindustrie nicht interessiert. Trotzdem fühlt sich der Jüngere dem Älteren durchaus verbunden:
    "Ich werde ein schrecklicher Warner und Mahner sein, wenn ich 70 Jahre bin. Ich werde all die Entwicklungen, die dann da sind, entsetzlich finden. In 25 Jahren wird man uns die Literatur irgendwie auf die Netzhaut projizieren, man liest gar nicht mehr, kann sich gar nicht dagegen wehren, kann nicht darüber nachdenken, sondern kriegt die Geschichten irgendwie reingebeamt, keine Ahnung. Ich werde fluchen. Nur im Moment habe ich mit gewissen Entwicklungen weniger Schwierigkeiten, weil ich es nie anders gewohnt war."
    Das ist eher untertrieben. Kaum jemand nutzt die Möglichkeiten von Facebook und Twitter so geschickt wie Jo Lendle. Aber bei allem Enthusiasmus für moderne Kommunikationsformen und Möglichkeiten, gemessen werden wird der Neue an der Qualität der Bücher und ihrem Erfolg. Er will das bisherige Programm fortführen und junge Stimmen hinzugewinnen – zugleich aber nicht mehr, sondern weniger Titel verlegen, um diese noch intensiver begleiten zu können. Wie dies zusammengehen soll, darüber rätselt Lendle selbst. Klar hingegen ist für ihn, dass die Kontinuitäten im Verlag alle Veränderungen dominieren:
    "Wir stecken 98 Prozent der Gedanken, die wir haben, in die Arbeit an den normalen Büchern. Das kriegt bloß keiner mit, weil wir das immer schon gemacht haben. Das eigentliche Geschäft hat sich überhaupt nicht verändert. Die zentrale Aufgabe von Verlagen heute ist: gute Autoren finden, ihre Werke begleiten, sie unterstützen in ihrer Produktion. Das andere sind sekundäre Sachen, über die im Augenblick sehr viel geredet wird, weil sie neu sind."
    Im Gespräch ist Hanser Box nicht zuletzt deshalb, weil der Verlag aus München damit das E-Book-Experiment dezidierter vorantreibt als die meisten anderen Häuser. Doch ökonomisch ist die neue Reihe irrelevant, "weniger als ein Blinddarmfortsatz" im Konzert des Unternehmens, sagt Lendle selbst. Die Absatzzahlen sind gering. Die digitalen Bücher ohne Doppelgänger auf Papier leiden an einem Aufmerksamkeitsdefizit: Die Literaturkritiker konzentrieren sich auf die papierenen Neuerscheinungen. Auch große Verkaufserfolge sind in aller Regel an das traditionelle Buchformat gebunden. Vorerst! Man muss kein Prophet sein, um absehen zu können, dass sich die Gewichte schon bald weiter verschieben werden. Verlagen wie Hanser wird deshalb zunehmend ein heikler Balanceakt abverlangt:
    "Wir sind in einer disruptiven Situation, wo man an dem Ast, auf dem man sehr gut und bequem sitzt, absägen muss. Das macht niemand gerne. Aber wir wollen nicht enden wie Kodak, die so lange gesagt haben, es gibt keine Digitalfotografie, bis sie irgendwann insolvent waren. Ich bin überzeugt, dass die Idee 'Das sollte es besser nicht geben' eine schlechte Antwort ist für alle Dinge, die mit der Digitalisierung zu tun haben."
    Investitionen in elektronisches Labor
    Dies heißt nichts anderes, als dass Hanser weiter in sein elektronisches Laboratorium investiert, obwohl dadurch das traditionelle Buchgeschäft beeinträchtigt wird. Denn ein Leser, der E-Books auf seinen Reader lädt, wird kaum nach den gleichen Titeln noch einmal im Regal beim Buchhändler suchen. Doch es geht für Hanser – wie für andere Verlage auch – bei Weitem nicht nur darum, auch denjenigen Lesern Angebote zu machen, für die der Gang in die Buchhandlung überflüssig geworden ist. Die Verlage selbst haben ihre Funktion als Gatekeeper verloren. Autoren sind nicht mehr länger auf sie angewiesen, um ihre Texte zu publizieren. So deutlich wie Jo Lendle beschreibt kaum ein anderer Verleger die Auswirkungen dieser Entwicklung:
    "Die Verlage sollten zusehen, von ihrem hohen Ross runterzukommen, wo sie sagen: 'Haha, wenn du dein Buch veröffentlichen willst, dann musst du erst einmal bei uns durch!' Das müssen sie nicht mehr. Es ist nicht mehr der einzige Weg durch dieses Nadelöhr Verlag. Und der Verlag wird von seinem Selbstverständnis her eher zu einer Art mitdenkendem, kooperierendem, in einem Boot sitzenden – ich mag das Wort nicht – Dienstleister, der zusammen mit dem Autor das Buch entwickelt."
    Nun verlassen Autoren keineswegs in Scharen ihre angestammten Verlage. Wer von einem Haus wie Hanser publiziert wird und sich dort gut aufgehoben fühlt, der wird den Kontrakt kaum aufkündigen, um sich stattdessen selbst als Verleger zu versuchen. Doch neben dem Feld der Etablierten entwickelt sich im Netz längst ein zweiter Buchmarkt. Eine rasant wachsende Zahl von Autoren bietet ihre Werke zum Download an und versucht, die Gunst der Leser für sich zu gewinnen. Aber das, was sich da an Selfpublishern tummelt, steht bislang nahezu ausschließlich für leicht verdauliche Literatur. Unterhaltungsspezialisten wie Lübbe oder Droemer können durchaus fündig werden, für Hanser ist der Textberg im Netz derzeit noch vollkommen irrelevant.
    "Es ist im Augenblick nicht die Literatur, die mich interessiert. Das wird aber irgendwann kippen. Unsere Autorin A.L. Kennedy hat sich entschieden, weil sie genervt war von der Situation auf dem amerikanischen Kontinent, ein Buch dort im Selfpublishing anzubieten; einfach bei Amazon hochgeladen – ist furchtbar auf die Schnauze gefallen, hat niemand wahrgenommen. Aber das ist 2013/14 passiert. 2016 werden das noch mehr machen. Irgendwann wird man mal einem Selfpublisher einen Literaturpreis geben. Das wird in den nächsten Jahren ins Kippen kommen."
    Für Jo Lendle und den Hanser Verlag geht es darum, auf dieses ‚Irgendwann' so gut wie nur möglich vorbereitet zu sein. Dass der 46-Jährige jemand ist, der mit großer Lust am Neuen agiert und sich weniger nach vermeintlich heilen, goldenen Zeiten zurücksehnt, dürfte dabei ein nicht unwesentlicher Vorzug sein.