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Harald Welzer, Sabine Moller und Karoline Tschuggnall: »Opa war kein Nazi«. Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis".

Vieles spricht für die Diagnose, dass der Holocaust heutzutage - mehr als je in der Nachkriegszeit - Bestandteil des öffentlichen Bewusstseins ist. Was aber ist mit den nachwachsenden Generationen? Welches Bild wird ihnen in den Schulen und den Familien vom Nationalsozialismus vermittelt? Diesen Fragen ist ein Forschungsprojekt nachgegangen, dessen Ergebnisse Harald Welzer, Sabine Moller und Karoline Tschuggnall als Fischer Taschenbuch veröffentlicht haben.

Sven Kramer | 01.07.2002
    Wie entsteht eigentlich unsere Einschätzung von historischen Vorgängen – also unser Geschichtsbewusstsein? Für die Tradierung weit zurückliegender Ereignisse ist vor allem die Historiografie zuständig. Doch je näher die Ereignisse an unsere eigene Biografie heranrücken, desto mehr Einfluss gewinnt die mündliche Überlieferung. Das kulturelle Gedächtnis, in dem die Überlieferung schriftlich fixiert und kanonisiert vorliegt, überlässt in diesem Fall zu großen Teilen dem kommunikativen Gedächtnis das Feld. So ist für das Bild vom Nationalsozialismus neben dem, was in der Schule gelehrt wird, bis heute wesentlich die Überlieferung in den Familien verantwortlich. Die vorliegende Studie widmet sich der Funktionsweise des Familiengedächtnisses, genauer gesagt: den Wandlungen jener Erzählungen, die Familienmitglieder von ihren Erlebnissen anfertigen und an ihre Kinder und Enkel weitergeben. In hundertzweiundvierzig Interviews befragten die Sozialwissenschaftler vierzig Familien. Die wissenschaftliche Auswertung des Überlieferungsprozesses brachte erstaunliche Fakten ans Licht, die für zahlreiche deutsche Familien von Bedeutung sein dürften. Zwei der Interviewten sprachen zum Beispiel recht offen von ihren Kriegserlebnissen, in deren Verlauf sie auch an Tötungen beteiligt waren. Immer wieder begegnete den Wissenschaftlern bei der Tradierung solcher Geschichten ein charakteristisches Muster.

    Das Erzählen der Taten führt nicht zur Bestürzung der Zuhörer, zu Konflikten oder auch nur zu einer peinlichen Situation. Es führt zu gar nichts. Es ist, als würden solche Erzählungen von den anwesenden Familienmitgliedern gar nicht gehört. Offenbar lassen die Loyalitätsbindungen des Familienzusammenhangs es nicht zu, dass ein Vater oder Großvater sich als eine Person zeigt, die einige Jahrzehnte zuvor Menschen getötet hat. Das Bild, das sich qua Sozialisation und gemeinsam verbrachter Lebenszeit über den geliebten Menschen herausgebildet hat, wird retroaktiv auch auf jene Zeit seines Lebens generalisiert, als seine Nachkommen noch gar nicht auf der Welt waren.

    Das geläufige Bild, die Kriegsveteranen hätten eine Mauer des Schweigens errichtet, muss differenziert werden: mehr noch als diese Generation betrieb offensichtlich die Kinder- und Enkelgeneration das Verschweigen. Sie verschwieg zwar nicht die Untaten des Nationalsozialismus insgesamt, sondern arbeitete im Gegenteil an deren Aufdeckung mit und betrieb deren moralische Ächtung. Jedoch trennte sie die eigene Familiengeschichte von der allgemeinen Geschichte des Nationalsozialismus ab. Aus den Geschichten, die die Väter und Großväter erzählten, isolierten die Kinder und die Enkel jene Momente, die zu Distanzierungs- und Widerstandsberichten weiterentwickelt werden konnten. Aus Täterbiografien wurden im Familiengedächtnis Viktimisierungsgeschichten. Die Autoren der Studie sprechen von einer Tendenz zur Heroisierung der vorangegangenen Generation. Kritische Fragen bleiben in der Regel aus, um die Identität in einer gemeinsamen, für alle erzählbaren Familiengeschichte erreichen zu können. Beim Umschmelzen der historischen Ereignisse in der mündlichen Überlieferung scheint alles möglich zu sein. Das legt jedenfalls die Lektüre dieser ebenso brisanten wie empfehlenswerten Studie nahe, die übrigens in vorbildlicher, verständlicher Diktion verfasst ist. Nicht nur werden Nazi-Großväter zu heimlichen Gegnern Hitlers stilisiert, darüber hinaus werden ihnen in der Darstellung ihrer Enkel auch noch die Attribute der Verfolgten beigelegt. Die Autoren sprechen von Wechselrahmung, das heißt:

    Die Inanspruchnahme von Merkmalen, die Bildern und Geschichten zum Holocaust entstammen, für die Darstellung des Leidens deutscher Opfer.

    Die kursierenden Geschichten aus dem Umkreis des Holocaust seien für die Illustration des Leidens der ehemaligen Volksgenossen besonders geeignet.

    Sie sind dies auch deswegen, weil es gerade diese Bilder vom Holocaust sind, die die Kinder und Enkel kennen und die ihnen furchtbar erschienen sind: Tauchen nun mit diesem Grauen assoziierte Erzählelemente in der wahrheitsverbürgenden Situation des Familiengesprächs auf, wird das Leiden der Eltern beziehungsweise der Großeltern in einen bereits fertig ausgestatteten Assoziationsraum eingebettet und erscheint desto wirklicher, je näher es den vorhandenen Assoziationen kommt.

    Selbst medial vermittelte Geschichten vom Holocaust werden auf diese Art in die Familienhistorie integriert. Mitunter liefern audiovisuelle Dokumente die Folie, auf der ein retrospektives Skript für das Handeln eines Familienmitglieds entsteht. Oft sind es sogar Spielfilme, also Kino-Fiktionen, die für diesen Zweck unbewusst instrumentalisiert werden.

    Zum einen werden bildhafte Versatzstücke und Spielfilmszenen ununterscheidbar mit autobiographischen Erlebnisschilderungen verwoben; andererseits dienen gerade filmische Vermittlungen und insbesondere die des Spielfilms in der Wahrnehmung der Befragten als historische Belege dafür, wie die Vergangenheit wirklich gewesen ist.

    Wo die Erzählungen der Tätergeneration vage bleiben, fügt das Familiengedächtnis in einer Art kreativen Buchführung Erzählelemente ein, die in der Mediengesellschaft kursieren. Millionenfach verfertigen deutsche Familien in der Kommunikation zwischen den Generationen bis auf den heutigen Tag Versionen jener Vergangenheit, die die älteren Angehörigen während des Nationalsozialismus erlebt haben. Es sind durchweg Versionen, die die Angehörigen der Tätergeneration von Schuld freisprechen. Darin liegt die politische Brisanz dieser Studie. Sie offenbart das Nachleben des Dritten Reiches im persönlichen Umfeld. Und sie legt frei, welche Beschönigungen das Geschichtsverständnis der Zeitgenossen strukturieren. Zu befürchten bleibt, dass die faktenorientierte Geschichtswissenschaft diesen übermächtigen Mythenbildungen des kommunikativen Gedächtnisses auch in Zukunft kaum wird Einhalt gebieten können.

    Sven Kramer über »Opa war kein Nazi«. Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis". Der Band wird von Harald Welzer, Sabine Moller und Karoline Tschuggnall als Fischer Taschenbuch herausgebracht, 247 S., 10,90 Euro.