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Harding dirigiert Mahler

Trotz seiner erst 32 Jahre hat der Dirigent Daniel Harding schon eine steile Karriere hinter sich. Nach Assistentenstellen bei Simon Rattle noch in Birmingham und bei Claudio Abbado bei den Berliner Philharmonikern wurde er Chef des Sinfonieorchesters Trondheim, der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen, des Mahler Chamber Orchestra und - 2007 - des Schwedischen Rundfunksinfonieorchesters. Jetzt hat er einen Exklusivvertrag bei der Deutschen Grammophon und bringt dort als erstes Gustav Mahlers letzte Sinfonie heraus.

Von Ludwig Rink | 15.06.2008
    "Ich bin 32 und gehe auf die 50 zu", sagt er in deutlicher Anspielung auf das Alter, in dem Gustav Mahler diese Sinfonie zu komponieren begann. Und widerspricht all jenen, die glauben, bestimmte Spätwerke seien nur den Veteranen vorbehalten. 29 war Daniel Harding erst alt, als er sein Debüt bei den Wiener Philharmonikern hatte. Auf dem Programm genau diese 10. Sinfonie, die Mahler nicht hatte vollenden können und die in ihrer vervollständigten Form nicht zum Repertoire dieses traditionsbewussten Orchesters gehörte. Auch mit anderen Orchestern in England und Schweden hat Harding dann dieses Werk aufgeführt; für die Schallplattenaufnahme kehrte er aber wieder zurück zu Mahlers eigenem Orchester, zu den Wiener Philharmonikern.

    " Musikbeispiel: Gustav Mahler - 1. Satz (Ausschnitt) aus der Sinfonie Nr. 10 "

    Ohne im engeren Sinne Programm-Musik zu sein, spiegeln Mahlers Sinfonien doch häufig wider, was psychisch und gedanklich in ihm vor sich ging. Oft haben sie deutliche Bezüge zu Ereignissen in seinem Leben. Die 5. Sinfonie zum Beispiel schrieb er nach einem gefährlichen Blutverlust, der ihn 1901 fast das Leben gekostet hätte - die Sinfonie beginnt ungewöhnlicherweise mit einem Trauermarsch, endet dann aber mit einem dankbaren, dem Leben wieder zugewandten Finale. Und wenn das "Lied von der Erde" und seine 9. Sinfonie den Konflikt zwischen Freude und Depression, zwischen Leben und Tod mit größter Intensität zum Thema machen, so ist dies sicher eine Folge der zuvor gestellten Diagnose seines Arztes, dass er wegen einer schweren Herzerkrankung voraussichtlich nur noch wenige Jahre zu leben habe. Dabei enden beide Kompositionen mit einer eher gelassenen Akzeptanz des Todes als natürliches Ende und bieten als tröstliches Moment die ewige Schönheit der Natur. Mahlers 10. Sinfonie beginnt mit einem ausgedehnten Adagio, spinnt, wenn man so will, das Finale der vorangegangenen 9. Sinfonie weiter: mit einem ausgedehnten Dialog zwischen einem gesanglichen und einem hymnischen Thema. In großem Kontrast dazu der Höhepunkt der Coda: eine schneidende, grelle Dissonanz aus neun Tönen mit einem scharfen, ausgehaltenen Ton der Trompete. Hier haben wir ihn wieder, den Bezug zum Leben: Mahler soll diesen Aufschrei spontan notiert haben, als er von der Untreue seiner Frau Alma erfahren hatte.

    " Musikbeispiel: Gustav Mahler - 1. Satz (Ausschnitt) aus der Sinfonie Nr. 10 "

    Mahlers Arbeitsweise lief öfter so ab, dass er während seiner Sommerferien eine Sinfonie skizzierte, um sie dann im darauf folgenden Winter als Partitur auszuarbeiten. So war es auch mit der 10. Sinfonie, deren Musik er im Sommer 1910 skizzierte. Die Fertigstellung dieser Skizzen im Winter 1910/1911 wurde aber durch notwendige Überarbeitungen der 9. Sinfonie unterbrochen, und da Mahler im Mai 1911 starb, hinterließ er seine 10. Sinfonie in einem keineswegs aufführungsreifen Zustand. Dabei war der 1. Satz so gut wie fertig und auch der kurze 3. Satz ausführlich genug aufgeschrieben, um eine Realisation des von Mahler Gewollten relativ einfach zu ermöglichen. Diese beiden Sätze hat Ernst Krenek 1924 für eine Aufführung bearbeitet. Beim 2. und den beiden letzten Sätzen sah die Situation anders aus: Arnold Schönberg und Dmitri Schostakowitsch jedenfalls haben die Bitte von Alma Mahler abgelehnt, diese Teile der Sinfonie im Sinne ihres Verstorbenen zu ergänzen. Erst nach dem 2. Weltkrieg gingen verschiedene Musikwissenschaftler unabhängig von einander an die Arbeit. Der erfolgreichste von ihnen war der Engländer Deryck Cooke, der seine Ausarbeitung aber immer nur bescheiden "eine Aufführungsversion des Skizzenmaterials" nannte und sich immer bewusst war, dass nur Mahler selbst das Werk wirklich hätte vollenden können. Dabei war die Ausgangslage hier deutlich besser als bei anderen unvollendet hinterlassenen Werken, denn es gibt keine wirklichen Lücken, auch wenn der Satz manchmal sehr dünn wird und stellenweise nur noch aus einer einzigen Stimme besteht. So bestand also keine Notwendigkeit, völlig neu komponierte Teile einzubauen, sondern es ging um Hinzufügung anderer Stimmen, Ausfüllen des Orchestersatzes, um die Harmonisierung, vor allem aber um Instrumentation. Zur Frage, in wie weit diese "Aufführungsversion des Skizzenmaterials" einem "echten Mahler" nahekommt, steuert Daniel Harding eine interessante Beobachtung bei, wenn er sagt: "Immer wenn jemand ein Detail infrage stellt, das merkwürdig oder falsch klingt, stellt sich heraus, dass es von Mahler selber stammt. Die Passagen, die wir ohne Weiteres akzeptieren, sind in der Regel solche, die Cooke ergänzen musste..."

    " Musikbeispiel: Gustav Mahler - 3. Satz (Ausschnitt) aus der Sinfonie Nr. 10 "

    Die Wiener Philharmoniker agieren bei dieser neuen Aufnahme mit großem Engagement. Die unnachahmliche Art der Streicher, im ersten Satz der Sinfonie die Selbständigkeit divergierender Linien auszukosten und dabei die äußerste Grenze der Tonalität zu erreichen, kann geradezu süchtig machen. Das virtuose Feuerwerk einzelner Stimmgruppen und Instrumentalisten, vor allem auch der Bläser, konnten Sie gerade im 3. Satz der Sinfonie miterleben. Und auch Daniel Harding weiß, was er an den Wiener Philharmonikern hat, jenem Orchester, das ihn bei den Salzburger Festspielen einmal gar nicht so freundlich behandelt hat. "Man hört sofort, " sagt Harding, "dass es österreichische Tanzmusik ist. Der zweite Satz kann leicht etwas trocken klingen, wie eine Übung in Rhythmus und Kontrapunkt. Aber wenn die Wiener Philharmoniker sich dieser Rhythmen annehmen, kommt das natürliche Rubato zum Vorschein. Ähnliches gilt im vierten Satz für den ungezügelten, rauschhaften Walzer, dessen musikalische Tradition unverkennbar ist. Es ist", so Daniel Harding weiter, "ein entscheidender Augenblick in der Aufführungs- und Rezeptionsgeschichte des Werks, dass diese beiden Sätze, die voller österreichischer Tanzelemente, Anklänge und Parodien sind (abwechselnd nostalgisch, elegant oder ironisch), erstmals von dem Orchester gespielt werden, das wie kein anderes diese Tänze und Rhythmen im Blut hat."

    " Musikbeispiel: Gustav Mahler - 4. Satz (Ausschnitt) aus der Sinfonie Nr. 10 "

    Die Neue Platte - heute mit einer Neuaufnahme der rekonstruierten kompletten 10. Sinfonie von Gustav Mahler durch die Wiener Philharmoniker unter der Leitung von Daniel Harding, die bei der Deutschen Grammophon erschienen ist.

    CD
    Titel: Gustav Mahler: Sinfonie Nr. 10
    Orchester : Wiener Philharmoniker
    Leitung: Daniel Harding
    Label: Deutsche Grammophon / Universal
    Labelcode: LC 00173
    Bestellnummer: 477 7347