Dienstag, 16. April 2024

Archiv

Hartmut Lange: „Der Lichthof“
Rätselhaftes Unheil

Überzeugungen geraten ins Wanken, Paarbeziehungen laufen aus der Bahn und stürzen ins Unglück: Hartmut Lange erzählt mit genau gewählten Worten über Menschen, die ihren Halt verlieren und in Sinnkrisen geraten. Seine Novellen sind eine literarische Meditation über Unheil und Rätsel.

Von Michael Opitz | 02.07.2020
Unwetter mit dramatischen dunklen Wolken über der Stadt Kassel.
Aus anfänglichen Erschütterungen entwickelt sich ein Beben und schließlich das Unheil: Hartmut Langes neue Novellen (imago / Hartenfelser)
Das Unheil, das die Protagonisten in Hartmut Langes Novellenband erfasst, kündigt sich beiläufig an. Schatten, die am Horizont heraufziehen, führen zu Irritationen – und diese Irritationen zum eigentlichen Unheil. In der Titelgeschichte "Der Lichthof" hält das Unglück in jenem Moment Einzug in eine 160 Quadratmeter große Wohnung, als Dennis seiner Ehefrau Hannelore brieflich mitteilt: "Wie Du vielleicht bemerkt hast, habe ich mich in eine andere Frau verliebt. Nun ist es so weit. Ich werde zu ihr ziehen."
Kein Gruß steht unter diesem Brief, auch keine Unterschrift. Die Sache ist entschieden, denn der Bote, der das Schreiben überbringt, soll Dennis’ allernotwendigste Utensilien gleich mitnehmen. Auf den Rest des zur Wohnung gehörenden Inventars verzichtet der Briefschreiber. Zurück bleiben tausend Fragen. Hat Hannelore die außerehelichen Eskapaden ihres Ehemannes geahnt? Waren ihr Veränderungen im Zusammenleben aufgefallen? Die Frage, ob sie also etwas "bemerkt" hat, erweist sich als der geheime Punkt in der Novelle des 1937 in Berlin geborenen Autors. Steht also, was sich zu einem Unglück ausweitete, tatsächlich im Zusammenhang mit jenem zum Lichthof führenden Fenster, an dem sich Hannelore störte, als die gemeinsame Wohnung bezogen wurde? Aus dem Badfenster der stilvoll eingerichteten Altbauwohnung schaute man in einen Lichthof, der sich in einem so baufälligen Zustand befand, dass es Hannelore so vorkam, als würde sie in einen Abgrund blicken. Deshalb drängte sie darauf, das Fenster mit einer Gardine zu verhängen, um nicht ständig die marode Innenhoffassade sehen zu müssen. Und obwohl Dennis das Theater um das zum Lichthof führende Fenster für "albern" hielt, lenkte er dennoch ein.
Hartmut Lange: "Der Lichthof
Zu dehen ist der Autor und das Cover des Buches
Nur die Sprache gibt noch Halt: In Hartmut Langes Novellen bricht das Unheil in den Alltag ein (Foto: Hans-Christian Plambeck / Cover: Diogenes Verlag)
"In derselben Woche noch kam ein junger Mann, um die Fenster, die zum Lichthof führten, zu vermessen. Man blätterte in einem Katalog, suchte etwas Passendes aus, besprach die Modalitäten, in vierzehn Tagen sollte alles fertig sein, und tatsächlich: Wo sonst, und völlig unverstellt, dunkle Mauern zu sehen waren, hing jetzt ein elegant gerafftes Stück Stoff."
Verhängnis trotz Verhängung
Trotzdem ist Dennis wenig später aus der gemeinsamen Wohnung ausgezogen. Das Verhängen verhinderte nicht das Verhängnis. Hartmut Langes Geschichten fordern Fragen heraus, die der Autor konsequent unbeantwortet lässt. Auch in der zweiten Novelle des Bandes, kündigt sich die Katastrophe, auf die sich das Handlungsgeschehen zubewegt, erneut eher beiläufig an. Ein geschätzter und von seinem Regisseur geachteter Schauspieler ist bei den Proben zu Ibsens Stück "Frau vom Meer" nicht in der Lage, einen Gartenzaun zu übersteigen. Er wird am Ende ins Meer gehen, das er zuvor zweimal in der Hoffnung aufgesucht hatte, dadurch den Gehalt von Ibsens Stück besser erfassen zu können. In der Konsequenz scheint sein Selbstmord alles andere als übertrieben zu sein, denn durch das schauspielerische Versagen wird ihm seine Lebens- und Sinnkrise erst deutlich bewusst.
Die ersten beiden Novellen des Bandes korrespondieren wechselseitig mit den folgenden, denn auch die dritte Novelle handelt von einer Paarbeziehung. Durch einen Fehler ihres Navigationsgerätes landen Susanne und Wolfgang im Nirgendwo. Dass sich beide schließlich trennen werden, liegt mit Sicherheit nicht am fehlerhaften Gerät, aber begonnen hat ihr Unglück damit, dass sie der Navigator auf einen falschen Weg führte, der allerdings, dies lässt Lange selbstverständlich offen, durchaus der richtige gewesen sein könnte.
Erschütterung und anhaltendes Unbehagen
Ebenso wie der in der zweiten Novelle agierende Schauspieler, lebt auch der Politologe Ronnefelder – die zentrale Figur des vierten Prosastückes – allein. Ronnefelder liest in Indien in einer Zeitung von der Vergewaltigung zweier Frauen, die, weil sie der Kaste der Unberührbaren angehörten, erhängt wurden. Der Kommentar des Hotelangestellten, Frauen würden in Indien wissen, dass die Männer jede Gelegenheit ergreifen, um sich zu holen, was ihnen zustünde, empört Ronnefelder so sehr, dass er am nächsten Tag abreist. Fortan aber bedrängt ihn die Frage, ob nicht auch er, als er mit einer Frau zusammenlebte, sich stets das genommen hat, von dem er glaubte, das es ihm zugestanden hat.
Das Bemerkenswerte an Langes Novellen ist, wie er Anfangserschütterungen, die sich zu Beben entwickeln, zueinander in Beziehung setzt, wie er Spuren legt, die den Anschein erwecken, es könnte sich dabei um Ursache und Wirkung handeln, und wie er doch stets offenlässt, ob sich das eintretende Unheil wirklich aus den angeführten Ursachen erklären lässt. So entsteht in den einzelnen Novellen dieses Bandes zunächst stets der Eindruck einer vermeintlichen Folgerichtigkeit und erst bei genauerem Hinschauen verschwindet im Nebel des Ungefähren, was man glaubte erkannt zu haben.
Kunst als vieldeutige Erkenntnis
Hartmut Lange ist ein unaufgeregter, seine Worte sehr genau wählender Erzähler, der angesichts von aus dem Ruder laufenden Geschehnissen auf die Sprache setzt, die, als ein aus Regeln bestehendes System jenen Halt bietet, den es bei der Orientierungssuche in der Wirklichkeit bräuchte. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang eine Formulierung in Hartmut Langes Buch "Über das Poetische". Darin heißt es:
"Auch die Kunst vermittelt Erkenntnisse, aber es ist eine ihrer Vorzüge, dass sie ihre Anschaulichkeit unangetastet lässt, und eines kann die Kunst ihrem Wesen nach nicht leisten: Eindeutigkeit. Sie ist entweder vieldeutig oder gar nicht."
Unaufgeklärt ist der Mord an Hartmut Langes Bruder geblieben, dessen Schicksal der Autor in der autobiographischen Erzählung "In eigener Sache" rekonstruiert, wobei er auf Textpassagen aus "Erinnerungen an meine Mutter" und "Meine Realitätserfahrung als Schriftsteller" zurückgreift. Die Novellensammlung "Der Lichthof" ist eine literarische Meditation über das Rätselhafte – stilistisch wohl gelungen, und auf beeindruckende Weise rätselhaft über jedes einzelne Ende hinaus.
Hartmut Lange: "Der Lichthof"
Diogenes Verlag, Zürich, 94 Seiten, 22 Euro