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Harun Farocki
Zwei Minuten Filme über das Arbeiten

Gearbeitet wird immer und überall – doch in der Filmkultur kommt Arbeit nur am Rande vor. Dieser Widerspruch hat den vor einem halben Jahr verstorbenen Filmemacher Harun Farocki umgetrieben. Deshalb initiierte er Filme über das Arbeiten. 90 davon sind nun in Berlin zu sehen.

Von Oliver Kranz | 27.02.2015
    15 Leinwände symbolisieren 15 Städte. Im abgedunkelten Ausstellungsraum wirken sie wie kleine Leuchtinseln. Wer sich genau davorstellt, kann den Filmton hören.
    Ein Fahrradkurier rast durch Berlin. Die Kamera folgt ihm über Straßen und Bürgersteige bis er in einem Hof verschwindet und sein Päckchen übergibt. Eine Minute, 56 Sekunden dauert der Clip, dann beginnt der nächste Film. Man sieht einen IT-Spezialisten, der nachts durch ein Rechenzentrum schlurft, einen Notar, der Siegelschnüre an einem Dokument befestigt, einen Bestatter, der im Haustierkrematorium die Einäscherung einer Katze vorbereitet.
    "Wir haben, sobald klar war, wer mitmacht, die Teilnehmer gebeten, genau nachzudenken, was für die jeweilige Stadt spezifisch ist..."
    Antje Ehmann hat mit ihrem Mann Harun Farocki 15 Städte auf fünf Kontinenten bereist und mit Unterstützung der dortigen Goethe-Institute Workshops durchgeführt. Ziel war es, Videos zum Thema Arbeit herzustellen. Als Inspiration diente der Film "Arbeiter verlassen die Lumière-Werke" von 1895.
    "Was wir mit dem Projekt gemacht haben, ist ja im Grunde eine Fake-Übersetzung. Wir haben als Regel vorgegeben: Nicht länger als zwei Minuten, die Lumière-Filme sind in der Regel 45 Sekunden. Das kommt daher, dass eine Filmrolle in der Kamera 45 Sekunden lang sein kann."
    Frühe Filmemacher mussten sich daher sehr genau überlegen, welche Vorgänge sie aufnahmen, um eine Geschichte erzählen zu können. Heute macht sich aufgrund der verbesserten technischen Möglichkeiten Beliebigkeit breit. Es ist möglich, inhaltlichen Leerlauf durch Schnitte zu kompensieren...
    "Durch dieses viele, schnelle, ungeduldige Filmen, das auch heutzutage nichts mehr kostet, gibt es eine Art von Hektik und Ungenauigkeit. ... Das Format, das wir ausprobiert haben, hat gezeigt, dass es die Aufmerksamkeit extrem schärft.
    Eine Zeitreise durch 100 Jahre Arbeitsbedingungen
    Das Format verzichtet auf Schnitte, daher gewinnen Kamerafahrten und -einstellungen an Bedeutung. Einige Videomacher beginnen mit einer Nahaufnahme und öffnen dann das Objektiv, damit man die Umgebung sehen kann – oft ein Aha-Effekt. Der Gärtner in Lissabon erntet seine Bohnen unmittelbar an der Autobahn. Der Wasserverkäufer in Bangalore verschwindet hinter der riesigen Flasche, die er auf dem Gepäckträger seines Mofas durch die Stadt bugsiert.
    Detlef Gericke-Schönhagen vom Goethe-Institut hat einige Workshops mitorganisiert. Sein absoluter Lieblingsfilm zeigt eine Strohhutfabrik in Hanoi...
    "Man sieht ein Mädchen, das ist vier Jahre alt und macht dort an einem Strohhut rum, und dann geht die Kamera weiter und man sieht die Mutter und dann geht sie weiter und man sieht den Großvater oder vielleicht auch den Vater – und dann weiß man nach anderthalb Minuten: Das ist das Leben dieses Mädchens. Es wird die nächsten 30 Jahre Strohhüte machen. Und da ist keine Wertung drin über entfremdete Arbeit – es ist einfach gezeigt..."
    ... was durchaus berührend ist. Etwas Analytisches hat das Projekt aber doch. Es zeigt, wie sich die Arbeitsbedingungen in den letzten 100 Jahren verändert haben. Die Brüder Lumière brauchten nur eine Kamera vor ihr Werkstor zu stellen, um ein Bild der Arbeiterschaft zu produzieren. Heute wird fast überall in kleineren Gruppen gearbeitet, zu sehr flexiblen Arbeitszeiten. Die Arbeiter werden als gesellschaftliche Klasse nicht mehr sichtbar. Die 90 Filme, die in der Ausstellung zu sehen sind, liefern also auch in ihrer Summe ein hochinteressantes Bild. Soziale Prozesse werden sichtbar. Auf einmal ist der Fahrradkurier in Berlin nicht einfach nur ein Bote, der durch seine Geschwindigkeit imponiert, sondern ein Einzelkämpfer, der seine ganze Kraft einsetzen muss, um auf einem liberalisierten Arbeitsmarkt seinen Job zu behalten.