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Hauptmanns "Die Ratten" mit neuer Kraft

Der Theatermacher Michael Thalheimer gilt als Meister der Verknappung klassischer Texte. Zum dritten Mal hat er nun ein Stück von Gerhart Hauptmann auf die Bühne gebracht. "Die Ratten" erzählen von einem fatalen Kinderhandel. Schauplatz der Geschichte mit tragischem Ausgang ist ein Dachboden.

Von Hartmut Krug | 07.10.2007
    Nach "Einsame Menschen" am Deutschen Theater und "Rose Bernd" am Thalia Theater Hamburg inszeniert Michael Thalheimer mit "Die Ratten" bereits das dritte Stück von Gerhart Hauptmann. Augenscheinlich interessiert den Regisseur an Hauptmanns Stücken das sorgfältig ausgemalte, fragende Spannungsverhältnis zwischen den gesellschaftlichen Verhältnissen, denen die Menschen ausgesetzt sind und von denen sie bestimmt werden, und ihrem individuellen Verhalten.

    Bei Michael Thalheimer gibt es weder das von Hauptmann genau ausgemalte Milieu noch die historische Atmosphäre in einem Berliner Mietshaus am Ende des 19.Jahrhunderts. Hauptmanns Tragikomödie aus dem kleinbürgerlich-proletarischen Milieu erfährt am Deutschen Theater aber auch keine äußerliche Aktualisierung, sondern sie wird auf ihre Grundkonflikte konzentriert. Dafür hat der Regisseur das Stück mit seinem Dramaturgen Oliver Reese in eine klug komprimierte Form gebracht, durch die Hauptmanns behäbiges, dialogisch weitschweifig ausmalendes Stück in wenig mehr als anderthalb Stunden Spieldauer neue Beweglichkeit und Kraft bekommt.

    In dieser Inszenierung geht es wie bei Hauptmann um Wahrnehmungs- und Darstellungsmöglichkeiten von Existentiellem, - bei Thalheimer sogar sowohl für die Stückfiguren wie für deren Darsteller auf der Bühne, aber auch für das Theaterpublikum im Saal. Denn auf dem Dachboden des Mietshauses findet nicht nur die Tragödie der Frau des Maurerpoliers John statt, die sich sowohl aus emotionalen wie aus sozialen Gründen (um ihren Mann zu halten) das heimlich geborene Kind eines ungewollt schwangereren polnischen Mädchens kauft. Sondern auch die komödiantische Auseinandersetzung in der Familie des Theaterdirektors Hassenreuther um richtiges Theater und falsches Leben, mit der auch die Zuschauerperspektive immer schon auf der Bühne präsent ist.

    Das Leben: eine Tragödie, - das Theater: eine Komödie. Weil es das wahre Leben weder wahrnimmt noch dafür Darstellungsformen findet. Hauptmanns Stück über den Überlebenskampf von Menschen im Prozess einer auch emotionalen Verelendung zeigt die Sehnsucht einer alternden Frau nach dem Kind als eine Sehnsucht nach Liebe, Sinn und Sicherheit. Der Zuschauer ist dabei fast ein Voyeur, denn Einblick in das szenische Geschehen kann er nur durch einen Sehschlitz nehmen. Bühnenbildner Olaf Altmann hat die Bühne mit zwei nach außen gefalteten Holzplatten verdeckt, die auf halber Bühnenhöhe einen kaum schulterhohen Spalt offen lassen. Wer auf dieser schmalen Spielfläche gesehen werden will, muss sich an der Rampe präsentieren. Jeder zieht hier den Kopf ein, scheint niedergedrückt, ist gebückt: das Thema findet so auch seine formale Entsprechung. Wobei dieser szenische Einfall in keinem Augenblick aufgesetzt wirkt. Weil die Inszenierung theatrale Techniken ausstellt und dabei im suchenden Demonstrationsspiel vor allem das Herstellen von Emotionen, das Darstellen von existentiellen Situationen und tieferen Bedeutungen vorführt.

    Die atmosphärisch zart untermalende oder heftig drängende Musik von Bert Wrede gibt die emotionale Grundierung für ein, trotz Beibehaltung des berlinernden Dialekts von Hauptmann, oft stark stilisiertes Spiel.

    Regine Zimmermanns Pauline, weißgeschminkt mit scharfen Zügen, ist fast eine expressionistische Figur, und Constanze Becker, eine recht junge Frau John, weist bei der Geburt des fremden Babys ihre blutigen Hände wie ihre Klytämnestra in Thalheimers "Orestie" vor. Das Scheitern ihrer Frau John wird nicht nur durch ein sensibles mimisch-gestisches Spiel verdeutlicht, bei dem die Figur immer mehr in sich zusammenfällt, sondern auch durch eine allmähliche, verwahrlosende Verringerung ihrer Kleidung, bis statt des ordentlichen Hosenanzugs nur mehr die Unterwäsche geblieben ist. Zahlreiche holzschnitthaft klare Tableaus für Theaternummern, in denen gezeigt wird, wie Bedeutungen "hergestellt" werden, ergeben eine bewusst künstliche Inszenierung.

    Wenn also die Künstlichkeit als selbstverständliches Gestaltungsmittel betont wird, überzeugt die Inszenierung bis in kleine Rollen (so mit Niklas Kohrt als Frau Johns Bruder Bruno, und sogar der winzigen Rolle des Nachbarsmädchens Selma vermag Henrike Jörissen klares Profil zu geben). Es ist eine, vor allem auch schauspielerisch starke Inszenierung. Der allerdings, durch ihr Regiekonzept, neben der Kriminalspannung auch die Fallhöhe des Geschehens fehlt. Weshalb die Inszenierung zum Schluss nicht mehr funktioniert. Wenn nämlich von der demonstrativ spielerischen Untersuchung der Künstlichkeit doch noch zur ernsthaften Darstellung einer Tragödie übergegangen wird, wenn der zuvor handwerklich so überzeugende Sven Lehmann als John existentielle Verzweiflung im heftigen Ausbruch zeigen soll, dann überzeugt die Inszenierung nicht mehr. Weil sie die Sehnsucht nach dem geborgten Glück (als Schein einer wahren Existenz) mit allzu heftigem und falsch klingendem Bedeutungstremolo beerdigt.