Freitag, 29. März 2024

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Annalena Baerbock, Co-Vorsitzende der Grünen
"Die Kanzlerin macht einen riesengroßen Fehler"

Bundeskanzlerin Angela Merkel mache einen "riesengroßen Fehler", angesichts der Klimakrise nicht sofort aus der Braunkohle-Verstromung auszusteigen, sagte die Co-Vorsitzende der Grünen, Annalena Baerbock, im Dlf. Sogar mit stagnierenden Emissionen verschärfe sich die Klimakrise.

Moderation: Barbara Schmidt-Mattern | 19.08.2018
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    Schmidt-Mattern: Herzlich willkommen, Annalena Baerbock, 37 Jahre alt, Abgeordnete im Deutschen Bundestag, geboren sind Sie in Hannover und aufgewachsen auf einem Dorf in Niedersachsen. Sie sind studierte Völkerrechtlerin, haben Ihren Abschluss gemacht in London – glaube ich – und seit einem guten halben Jahr sind Sie Bundesvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen. Wenn Sie jetzt mal zurückblicken, was haben Sie denn erreicht in diesen ersten sechs Monaten?
    Baerbock: Ja, erst muss man sagen, dass es wirklich eine herausfordernde Zeit war, weil diese Monate ja geprägt waren von auch Grundsatzdebatten in unserer Gesellschaft. Wer gehört eigentlich zu diesem Land? Steht Deutschland nach wie vor für ein geeintes Europa. Und in dieser Zeit, wo wirklich Grundfeste unserer Demokratie und auch unserer gesellschaftlichen Zukunft infrage gestellt wurden, als Grüne deutlich zu machen, wenn es darum geht 'Wollen wir in einem autoritären oder einem liberalen Land leben? Stehen wir für einen proeuropäischen Kurs oder für eine Rückkehr in den Nationalstaat?' deutlich zu machen: Wir streiten als Bündnis 90/Die Grünen für eine gemeinsame europäische Zukunft, die auf dem Boden von Demokratie, Rechtstaatlichkeit und Menschenrechten basiert und das werden wir auch nicht verhandeln. Ich glaube, das war in den letzten Monaten wirklich das Allerwichtigste für mich.
    "Ökologie und soziale Gerechtigkeit sind kein Widerspruch"
    Schmidt-Mattern: Das sind so die ganz großen Linien, die Sie da jetzt zeichnen. Lassen Sie uns vielleicht ein bisschen mehr ins Detail gehen. Sie kehren gerade zurück von Ihrer zweiwöchigen politischen Sommerreise. Das ist so Tradition hier bei Spitzenpolitikern in Berlin, dass sie durchs Land reisen und den Kontakt mit den Bürgern suchen. Sie haben unter anderem die Polizei besucht, den Zoll. Sie waren an sozialen Brennpunkten, wie in Duisburg-Marxloh. Sie waren mit einem Landarzt unterwegs in Sachsen-Anhalt. Wollen Sie eigentlich weg vom Image dieser rein grünen Ökopartei?
    Baerbock: Na, wir waren nie eine reine Ökopartei, sondern schon als wir gegründet wurden vor fast 40 Jahren, kamen wir ja aus der Antiatombewegung, klar, aus der Umweltbewegung, aber auch aus der Frauenbewegung und es war immer auch das Ökologische und das Soziale, für das wir gestritten haben. Und das in den Mittelpunkt zu stellen, dass Ökologie und soziale Gerechtigkeit kein Widerspruch sind, sondern einander bedingen, weil nämlich jetzt unter der Klimakrise zum Beispiel die Sozialschwächsten am meisten leiden. Dann, wenn ältere Menschen in ihrer Wohnung nicht mehr schlafen können bei der Hitze, weil sie eben nicht isoliert ist. Das sind Punkte, die mir total wichtig sind. Und zugleich in einer Zeit, wo der gesellschaftliche Zusammenhalt bröckelt, zu fragen: Was hält eigentlich diese Gesellschaft zusammen? Wie stärken wir den sozialen Kitt? Ja, und deswegen war ich auch viel auf dem Land unterwegs – mit dem Landarzt eben oder einer Hebamme.
    Schmidt-Mattern: Das klingt jetzt ganz schön sozialdemokratisch. Fast so, als wollten Sie die neue grüne Kümmerer-Partei werden. Wollen Sie die SPD da ablösen?
    Baerbock: Es geht mir jetzt nicht darum, Politik zu machen und immer zu schielen, was andere tun. Erstens wäre ich den ganzen Tag damit nur beschäftigt. Und zweitens bin ich in die Politik gegangen, um wirklich, ja, diese Gesellschaft besser zu machen und zu fragen: Was brauchen wir, damit wir es miteinander stärken, aber auch, dass wir diese Klimakrise in den Griff bekommen, wirklich unter dem Motto: 'Wir haben die Erde nur von unseren Kindern geborgt'. Und deswegen streiten wir für die Werte, für die wir als Partei stehen, unabhängig davon, was jetzt andere tun, weil, ja, Politik kommt ja davon, dass man Dinge auch machen und verändern will. Und das ist überfällig, eben in ganz, ganz vielen auch sozialen Bereichen.
    Schmidt-Mattern: Dann geben Sie uns vielleicht einfach mal ein konkretes Beispiel, was Sie im sozialen Bereich verändern wollen. Sie sind ja jetzt sicherlich mit vielen Eindrücken zurückgekommen, beispielsweise beim Thema Wohnungsnot oder auch beim Thema Ärztemangel auf dem Land. Gibt es da demnächst ein grünes Papier, wo Sie konkrete Vorschläge machen, wo Sie auch die Bundesregierung mal ein bisschen vor sich hertreiben?
    Baerbock: Ja, das wird es auf jeden Fall geben. Also, dass wir in Großstädten ein Riesenproblem haben, dass sich Menschen ihre Miete nicht mehr leisten können, das diskutieren wir jetzt ja schon seit Jahren, und dass wir dafür endlich eine Mietpreisbremse brauchen, auch das ist bekannt. Hier fehlt einfach …
    "Wirklich Systemfragen stellen"
    Schmidt-Mattern: Die gibt es ja schon.
    Baerbock: Ja, aber die funktioniert ja nicht. Die ist löchrig ohne Ende. Und, dass wir auch bei der Frage, wer kann eigentlich Immobilien wie kaufen, viel stärker als Staat regulieren müssen, aber das sind Punkte, da wissen wir eigentlich als Gesellschaft, als Politik die Antworten, aber es fehlt der politische Mut. Aus meiner Sicht ist die Frage aber noch größer, nämlich wirklich die Frage: Wie viel investiert der Staat in den sozialen Zusammenhalt? Das ist so ein bisschen dieses trockene Wort Daseinsvorsorge. Aber das bedeutet eigentlich vor Ort, dass wir eine Infrastruktur haben, dass da noch ein Bus fährt, dass es Hebammen auf dem Land gibt, dass es auch eine Gesundheitsversorgung gibt, dass eben der Arzt noch vor Ort ist. Aber auch die Ausstattung von Schulen, Kitas. Und auch, wenn es jetzt ein bisschen komplex ist, aber ich glaube, das müssen wir wirklich als Gesellschaft diskutieren.
    Durch den Föderalismus wird vieles dann von der Kommune bezahlt. Und, wenn die Kommunen einfach zu arm sind, um sich das zu leisten, dann fallen sogar Fragen hinten runter wie, ob das Jugendamt genug Personal hat, sich um verwahrloste Kinder zu kümmern. Und das kann in so einem reichen Land aus meiner Sicht eben nicht sein. Und deswegen muss die Frage von Daseinsvorsorge, also, dass die sozialen Elemente, die wir zum Leben brauchen, wirklich gestärkt werden, in den Mittelpunkt gerückt werden. Und da müssen wir ganz viele wirklich Systemfragen stellen – in der Pflegeversicherung, in der Krankenversicherung, aber auch eben bei den sozialen Diensten.
    Schmidt-Mattern: Nun ist aber ja die Aufgabe von Politik nicht allein nur Fragen zu stellen und Problemaufrisse zu machen, sondern eben auch konkrete Lösungen anzubieten. Deswegen noch mal die Frage. Haben Sie einen konkreten Vorstoß, wo Sie sagen, da wollen wir im sozialen Bereich in nächster Zeit ran? Ob das um die Daseinsvorsorge auf dem Land geht oder den Ärztemangel oder die Wohnungsnot.
    Baerbock: Ja, auf jeden Fall. Also, wenn wir jetzt mal konkret die Ärzteversorgung auf dem Land nehmen, haben wir die Situation, dass in ländlichen Regionen Frauen im Wochenbett einfach gar nicht mehr von der Hebamme betreut werden, weil keine Hebammen da sind. Und eins der ganz konkreten praktischen Dinge, die man schnell ändern kann, ist, dass eben die Hebammen nur Entfernungspauschalen von 20 Kilometern bezahlt bekommen. Wenn aber die Frauen eben 50 Kilometer oder weiter weg leben, dann müssen die ja auch versorgt werden. Das heißt, man muss hier ganz konkret im Gesundheitssystem dafür sorgen, auch mit den Kassen, dass es eben für den ländlichen Raum dann Zuschläge gibt. Und das betrifft nicht nur die Hebamme, das betrifft auch die sozialen Dienste, die sich um ältere Menschen in der Pflege kümmern oder auch den Landarzt, der dann eben zu den Hausbesuchen rausfahren muss, weil ältere Menschen nicht mehr in die Praxis dann alleine kommen können.
    Und im Wohnungsbaubereich, wie gesagt, sind das eben die ganz anderen Fragen, dass wir endlich mehr Ausgaben für den sozialen Wohnungsbau brauchen, eine Mietpreisbremse, die funktioniert, und vor allen Dingen Vorgaben bei Neubauten, dass es einen gewissen Anteil auch an sozialen Wohnungen und gedeckelten Mieten geben muss, damit wir nicht in Städten leben, wo im einen Viertel nur diejenigen leben, die mehr als 50.000 Euro Einkommen haben und die anderen leben, die gar keine Arbeit haben, weil dann fällt unsere Gesellschaft wirklich auseinander, weil die Kinder, die dort leben, dann nur noch mit den Kindern der gleichen Eltern zusammen sind. Und ich glaube, das ist eigentlich eine der größten Gefahren für den sozialen Frieden in unserem Land.
    "Die Klimakrise ist eines der dringendsten Probleme"
    Schmidt-Mattern: Noch einmal eine Frage zur grünen Strategie. Das muss ja auch oder ist ja Ihre Hauptaufgabe als Parteivorsitzende, gemeinsam mit Ihrem Co-Vorsitzenden Robert Habeck. Geht es Ihnen bei all diesen Überlegungen, auch thematischen Verschiebungen, thematischen neuen Schwerpunkten, die Sie zurzeit suchen, geht es Ihnen dabei auch darum, dass Sie einfach neue Wählerschichten erobern wollen, erobern müssen, um eben nicht immer nur wahrgenommen zu werden als die Partei, die Großstadtpartei der Besserwisser und der Besserverdiener?
    Baerbock: Na ja, ich bin in die Politik gegangen, um zu verändern. Und verändern kann man am besten, wenn man entsprechende gesellschaftliche Mehrheiten auch hinter sich hat und die entsprechende Stärke auch im Parlament. Und ehrlich gesagt, ja, trifft es mich richtig, richtig heftig gerade, dass wir eine Hitzewelle erleben, eine Dürre erleben, wo alle wissen, was wir tun müssten, nämlich an die Ursachen dieser Klimakrise ran, CO2 einsparen. Das heißt jetzt akut Kohlekraftwerke vom Netz nehmen. Und deswegen brauchen wir da auch mehr gesellschaftliche Mehrheiten, zumal ja ein Großteil der Bevölkerung sagt, die Klimakrise ist eines der dringendsten Probleme. Und das muss sich dann auch in Politik widerspiegeln.
    Schmidt-Mattern: Genau. Diese Debatte ist auch mit einer der Gründe, sagen die Demoskopen, warum Ihre Umfragewerte in letzter Zeit ziemlich nach oben geschnellt sind. Die Grünen liegen bei 14, 15 Prozent bei den verschiedenen Umfrageinstituten derzeit. Und das liegt wohl eben auch daran, dass wir erstmals wieder, wie lange nicht mehr so leidenschaftlich und laut über den Klimawandel diskutieren, eben ausgelöst durch diese Dürre und Hitze der letzten Wochen. Was muss denn die Bundesregierung aus Ihrer Sicht jetzt eigentlich als Erstes tun, damit Deutschland seine Klimaschutzauflagen doch noch einhalten kann?
    Baerbock: Also, aufwachen! Weil man hatte ja das Gefühl, ganz Deutschland schmilzt so in der Sommerhitze dahin und die Bundesregierung ist gleich mit weggeschmolzen, weil alle haben drüber diskutiert: Was müssen wir jetzt tun? Eben nicht nur Gelder für die Bauern, die akut in Not geraten sind, auszuzahlen, sondern darüber diskutieren: Wie schaffen wir eine andere Form von Landwirtschaft, die die Klimakrise eben nicht noch weiter verschärft, indem man immer mehr auf Masse und Größe setzt. Und zum anderen eben diesen Kohleausstieg einzuleiten, der überfällig ist. Und der dritte Bereich ist, dass wir auch einen radikalen Wandel im Verkehrsbereich brauchen.
    Schmidt-Mattern: Ich möchte gerne auf das Thema Kohle noch mal zurückkommen. Die Kanzlerin war diese Woche zu Besuch unter anderem in Sachsen, auch eine Art Sommerreise. Und sie hat dort vor der Landtagsfraktion der CDU eigentlich eher ziemlich gebremst beim Thema Braunkohleausstieg. In puncto Kohlekommission, die ja diesen Ausstieg jetzt erarbeiten soll im Auftrag der Bundesregierung, sagt die Kanzlerin: Wir müssen uns erst mal um die Zukunftschancen kümmern und dann um die Frage, wann ausgestiegen wird aus der Kohle. Ist das die richtige Reihenfolge aus Ihrer Sicht? Oder macht die Kanzlerin da einen fatalen Fehler?
    Baerbock: Sie macht da einen riesengroßen Fehler, und zwar nicht nur mit Blick darauf, dass die Klimakrise eben nicht wartet, sondern dass sie akut ist und mit jeder Tonne CO2, die wir weiter ausstoßen – und in Deutschland stagnieren eben die Emissionen, die sind in den letzten Jahren überhaupt nicht runtergegangen, verschärfen wir die Klimakrise. Und das macht mich wirklich wütend.
    Schmidt-Mattern: Das Interview der Woche im Deutschlandfunk an diesem Sonntag mit Annalena Baerbock, Vorsitzende von Bündnis 90 Die Grünen. Frau Baerbock, Sie haben eben beim Thema Ursachen für die Erderwärmung auch die Landwirtschaft schon angesprochen. Nun stellt Julia Klöckner, die Agrarministerin, kommende Woche endlich – so kann man sagen – den Erntebericht vor – erwartet von vielen – und will dann eben auch entscheiden, ob sie den Forderungen des Bauernverbandes nachkommt, dass die Landwirte eben Entschädigung erhalten sollen. Eine Milliarde Euro – diese Summe steht im Raum für die Ernteausfälle. Hätte die Ministerin dieses Geld nicht längst freigeben müssen?
    Baerbock: Aus meiner Sicht hilft es jetzt nicht, wirklich wahllos Gelder auszuschütten, sondern man muss schauen: Welche Betriebe sind wirklich in Not geraten, sind in ihrer Existenz bedroht? Und vor allen Dingen auch: Wo sind sie konkret bedroht? Also, gerade in Ostdeutschland betrifft es sehr, sehr viel die Futtermittel. Und das bedeutet dann, dass man Akuthilfe vor allen Dingen so ausrichtet, dass man jetzt dafür sorgt, dass schnell andere Formen von Futtermitteln, die eben nicht auf dem eigenen Hof erwirtschaftet werden, bereitgestellt werden. Da muss schnelle Hilfe her.
    "Wir müssen in der Landwirtschaft umsteuern"
    Schmidt-Mattern: Da macht Julia Klöckner also alles richtig?
    Baerbock: Nein, sie macht nicht alles richtig, sondern wo sie einen riesengroßen Fehler macht, ist, dass sie allein darüber redet: Können wir jetzt diese Gelder auszahlen? Sie ist ja Landwirtschaftsministerin und deswegen zentral beteiligt an den Debatten über die Zukunft der Agrarförderung in Europa in den nächsten Jahren. Und da wäre jetzt ihr Punkt zu sagen, wir haben verstanden, wir müssen in der Landwirtschaft umsteuern, weil ansonsten helfen uns irgendwelche akuten Notzahlungen überhaupt nicht weiter.
    Die Klimakrise wird weiter vorangehen und dieses Jahr waren es die Ernteausfälle bei der Dürre. Letztes Jahr hatten wir hier in der Region, gerade Ostdeutschland, Ernteausfälle, weil es im Mai Frostschäden bei den Obstbauern gegeben hat. Davor war es die Nässe. Also, es ist immer wieder was anderes. Und deswegen müssen wir die Landwirtschaft umbauen, und zwar auf nachhaltige, ökologische Kriterien. Und die zukünftige EU-Förderung muss sich daran auch entsprechend orientieren.
    Schmidt-Mattern: Sie kennen vielleicht dieses Bonmot 'Hast du eine Kuh, dann wähl‘ die CDU'. Wie eng sind denn aus Ihrer Sicht die Beziehungen zwischen der Agrarlobby und dem Bundeslandwirtschaftsministerium?
    Baerbock: Ja, aus meiner Sicht ist das eins der Probleme, dass man sich hier wirklich zentral die Interessen einer gewissen Lobby zu eigen macht. Aber das sind ja nicht alle Bauern komplett. Auch das ist ja so ein bisschen das Absurde an der Debatte. Es gibt so viele Bauern, die sagen: "Ich will diesem Prinzip 'Wachse oder weiche', also immer mehr Pestizide, immer stärkere Massentierhaltung, ich will das gar nicht selber machen. Aber nach der Logik, wie auch gerade die Agrarsubventionen ausgezahlt werden, nämlich nach Größe und nach Fläche, habe ich fast gar keine andere Wahl." Und zugleich hat Deutschland diesen irren Weg beschritten, dass die Länder, die nämlich umsteigen wollen hin zu einer nachhaltigen ökologischen Landwirtschaft, wo die EU zumindest einen kleinen Topf bereitstellt, diese Bauern bei dem Umstieg zu unterstützen, ja, das, hat Deutschland einfach mal gesagt, das nutzen wir gar nicht in dem breiten Maße. Das heißt, wir sind hier auch noch rückschrittig im europäischen Vergleich. Und das kann es nicht sein, weder im Sinne des Klimaschutzes, noch im Sinne der Bauern und Landwirte, die ja eigentlich ein Interesse auch daran haben, die Böden nicht kaputt zu machen, sondern fruchtbare Böden zu haben. Und deswegen müssen auch so Fragen wie Fruchtfolgen, Grünland in die Förderung als essentielle Kriterien mit rein. Und das Prinzip, einfach nach Größe Geld auszuschütten, das ist wirklich von vorgestern.
    Schmidt-Mattern: Sie haben Europa, die Europäische Union jetzt schon mehrfach angesprochen. Ich möchte auch gerne über Europa sprechen, ein anderes Thema aber anschneiden, nämlich die Flüchtlingspolitik, mutmaßlich eine der größten Herausforderungen, vor denen Brüssel steht. Sie feilen ja derzeit auch an Ihrem Wahlprogramm für die Europawahl im Frühjahr 2019. Was ist aus Ihrer Sicht denn die dringlichste Maßnahme, die jetzt passieren muss, damit die EU-Staaten sich auf eine geregelte Einwanderung einigen können?
    Baerbock: Ja, wir brauchen ein gemeinsames europäisches Asylsystem. Das ist mehr als überfällig. Und da hilft es nicht, dass die Bundeskanzlerin jetzt nach Jahren auch endlich zu der Erkenntnis gekommen ist, dass das sogenannte Dublin-System, was bedeutet, dass die Länder an den Außengrenzen – Italien, Griechenland, Spanien – eben mit der Flüchtlingsfrage alleingelassen werden, dass das gescheitert ist, sondern …
    "Die EU muss große Kontingente von Flüchtlingen aufnehmen"
    Schmidt-Mattern: Das hat sie eingeräumt, genau.
    Baerbock: Genau, das hat sie eingeräumt, genau. Aber dann muss sie auch die entsprechenden Schlüsse daraus ziehen. Und das bedeutet, wir brauchen eine gemeinsame Asylpolitik, die voraussetzt, dass wir zum einen legale Fluchtwege schaffen. Wenn wir nicht wollen, dass sich Menschen in Schlauchboote setzen, in Schlepperhände begeben müssen, dann brauchen wir große Kontingente an sogenannten Resettlement-Programmen. Das heißt, direkt aus Flüchtlingslagern oder Kriegsgebieten heraus muss die EU große Kontingente von Flüchtlingen aufnehmen. Das ist der große Bau, den wir angehen müssen, einer gemeinsamen, humanen und geordneten Flüchtlingspolitik, wo auch klar gilt, das Recht auf Asyl ist nicht verhandelbar. Das gehört zu den Grundfesten dieser Europäischen Union.
    Schmidt-Mattern: Frau Baerbock, mit Verlaub, diese Forderung, die Sie jetzt aufstellen, die hört man in allen politischen Sonntagsreden seit Jahren und nicht nur von den Grünen, sondern ja auch von anderen Parteien. Woran scheitert es zurzeit eigentlich, dass Brüssel, dass Berlin, dass die Hauptstädte der Europäischen Union bei dieser Flüchtlingsfrage derart auf der Stelle treten seit Jahren?
    Baerbock: Na, das hört man nicht von allen Parteien. Und das ist eines der großen Probleme. Man hat das ja mit Blick auf die CSU gesehen, die jetzt, als gerade wieder wirklich diese dramatische Situation war, dass Seenotrettungsschiffe auf dem Mittelmeer herumirrten und in Not sagten: 'Hilfe, wir müssen diese Menschen aufnehmen', dass auch die deutsche Bundesregierung gesagt hat: 'Nein, damit haben wir erst mal nichts zu tun.' Und erst nach massivem Druck der Zivilgesellschaft, die hier wirklich auch eine wahnsinnige Rolle gerade spielt, weil die Politik so versagt, dann auch gesagt hat, okay, dann nehmen wir 50 Menschen auch auf. Wenn man will, dann kann man Humanität und Ordnung hier europäisch zusammenbringen und das ist wirklich die vorderste Aufgabe auch von einer europäischen Politik.
    Schmidt-Mattern: Nun ist ein ganz, ganz wichtiges Thema in der innenpolitischen Dimension dieser ganzen Flüchtlingspolitik das Thema Ausweitung der sicheren Herkunftsstaaten. Die Bundesregierung plant die Maghreb-Staaten zu sicheren Herkunftsstaaten zu erklären, eben um leichter ausreisepflichtige Asylbewerber abschieben zu können. Der Bundesrat wird das Ganze mitentscheiden und damit eben auch Bundesländer, in denen die Grünen an der Regierung beteiligt sind. Was sagen Sie heute? Werden Ihre Parteifreunde in Baden-Württemberg und in Hessen, werden die dieser Ausweitung der sicheren Herkunftsstaaten zustimmen?
    Baerbock: Wir als Grüne haben immer deutlich gemacht, dass wir Politik auf dem Boden unseres Grundgesetzes machen. Und dieses Grundgesetz sagt klar und deutlich, dass es ein Recht auf Asyl gibt, dass die Würde des Menschen unantastbar ist. Und auf dieser Grundlage hat das Bundesverfassungsgericht auch klare Kriterien erstellt, wie man Länder zu sicheren Herkunftsländern einstufen kann überhaupt. Wir halten dieses Instrument insgesamt für ein falsches Instrument. Aber das Bundesverfassungsgericht hat auch, weil das eben so ein enormer Grundrechtsangriff ist, auch harte Kriterien vorgegeben. Und, wenn man diese Kriterien anlegt, die sind, dass im gesamten Gebiet Verfolgungsfreiheit eben garantiert ist eben in den Ländern, dann ist klar und deutlich, dass die Maghreb-Staaten nicht verfolgungsfrei sind. Wir diskutieren ja gerade über Folter in Tunesien. Wenn wir in andere Länder schauen, wie zum Beispiel Algerien, da spricht ja keiner drüber, das ist ein Land, wo noch nicht mal internationale Hilfsorganisationen und Menschenrechtsorganisationen reinkommen können, da davon zu sprechen, dass Menschen sich da frei bewegen können, dass es keine Folter gibt und auch keine Diskriminierung von Journalisten, von Frauen, von Homosexuellen, das ist einfach komplett an der Realität vorbei.
    Schmidt-Mattern: Jetzt müssen wir das Ganze noch mal ein bisschen zuspitzen. Das war ein klares Plädoyer von Ihnen. Und an Ihrer Seite steht ja auch die Bundestagsfraktion gegen eine Ausweitung der sicheren Herkunftsstaaten. Winfried Kretschmann, Ministerpräsident in Baden-Württemberg und Ihr Parteifreund, zeigt sich hingegen ausgesprochen offen dafür. Welcher Konflikt droht da bei den Grünen parteiintern?
    Baerbock: Also, es ist seit Jahren bekannt, dass Winfried Kretschmann da eine andere Haltung hat, aber keine grundsätzlich andere Haltung hat. Er hat ja im Koalitionsvertrag mit der CDU auch deutlich verankert, dass die Gruppen, die eben in den Ländern nicht sicher sind, dass garantiert sein muss, dass die den Schutz weiter erhalten. Da das wahnsinnig schwierig ist, sagen wir als Grüne Partei insgesamt, deswegen können wir die Länder nicht einstufen. Und Winfried Kretschmann sagt im Koalitionsvertrag, es muss sichergestellt werden, dass die Gruppen hier ein Recht auf Asyl haben. Und da muss jetzt die Bundesregierung liefern, das sicherzustellen. Aber das sind Verhandlungen zwischen Baden-Württemberg und der Bundesregierung und wir als Grüne Partei insgesamt haben da einen klaren Kurs, dass die Länder nicht eingestuft werden können.
    Aber noch mal, wir sind interessiert an schnellen Verfahren. Und, wenn wir das endlich angehen würden, anstatt monate- und fast jahrelang über dieses Instrument der sicheren Herkunftsländer zu reden, wo derzeit aus den Maghreb-Staaten fast überhaupt niemand mehr nach Deutschland kommt, dann wären wir in der ganzen Asylpolitik schon weiter, nämlich Ausstattung beim BAMF, dass die Asylverfahren auch nicht drei Jahre auf sich warten lassen, sondern schnell und zügig auch behandelt werden können.
    "Auch die CSU hat anerkannt, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist"
    Schmidt-Mattern: Annalena Baerbock zu Gast im Interview der Woche im Deutschlandfunk. Die Große Koalition hat diese Woche Eckpunkte vorgelegt für ein Fachkräfteeinwanderungsgesetz. Es sollen also weniger Hürden in Zukunft bestehen für ausländische Fachkräfte. Deutschland fehlen hunderttausende unbesetzte Stellen. Die Kriterien, die sind auch schon genannt worden von Innenminister Horst Seehofer: die Qualifikation, das Alter, Sprachkenntnisse und unter anderem auch, dass man selber seinen Lebensunterhalt absichern kann. Da kommt jetzt also ein Einwanderungsgesetz, da können Sie als Grüne nur jubeln.
    Baerbock: Ja, man kann nur sagen: Endlich. Also, wirklich endlich hat auch die CSU anerkannt, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist. Das ist mehr als überfällig. Und es ist überfällig, weil wir auch mit Blick auf den demographischen Wandel, ja, eine Bereicherung der Gesellschaft, ja, uns nur guttun kann und deswegen, ja, jetzt Butter bei die Fische. Die Erkenntnis ist jetzt endlich da. Und das Gesetz muss jetzt so ausformuliert werden, dass es dann in der Praxis auch greift, dass wirklich Menschen unbürokratisch hier auch arbeiten können. Und was mir sehr wichtig ist und was fehlt in diesem Gesetzentwurf, ist der Spurwechsel.
    Schmidt-Mattern: Da wollte ich Sie gerade nach fragen, genau. CSU Innenminister Joachim Herrmann, der bayrische Innenminister, der lehnt das ab, diesen sogenannten Spurwechsel, also die Frage, ob man gut integrierten Migranten eben die Möglichkeit eröffnen soll, dass sie aus dem Asylsystem in ein reguläres Zuwanderungsverfahren wechseln. Das muss rein ins Gesetz? Oder was sagen Sie?
    Baerbock: Ja, das muss definitiv rein ins Gesetz, weil ansonsten ist das Ganze ziemlich absurd. Wenn man sich das jetzt mal in der Praxis anschaut, wir haben sehr, sehr viele Menschen, die in Deutschland leben, die zum Teil auch als Flüchtlinge nach Deutschland gekommen sind, die hier eine Ausbildung machen, wo echt viele Unternehmen, und zwar nicht nur die großen Unternehmen in der Industriewirtschaft, sondern gerade auch in Ostdeutschland kleine Handwerksbetriebe gesagt haben: 'Okay, die Menschen sind hier, ich brauche seit Jahren einen Elektriker. Jetzt kann ich den endlich ausbilden.' Diesen Betrieben wurde versprochen: "Wenn ihr das macht, dann können diejenigen, die ihr ausbildet, auch hierbleiben." Und plötzlich wird dann gesagt, nach Jahren: 'Ach, jetzt ist endlich das Asylverfahren durch und jetzt muss dieser Mensch aber Deutschland wieder verlassen.' Das ist total absurd. Und deswegen, wir brauchen den Spurwechsel. Ist doch Irrsinn, Leute hier auszubilden, dann schickt man sie wieder weg und dann sollen sie über das Einwanderungsgesetz zurückkommen. Ja, dem Irrsinn muss man ein Ende machen und deswegen muss das im Gesetz verankert sein.
    Schmidt-Mattern: Das bringt mich noch einmal zum Parteiengefüge, zum Thema CSU und zur bayrischen Landtagswahl im Oktober dieses Jahres. Die Grünen die liegen tatsächlich im Moment auf Platz zwei in den Umfragen in Bayern. Und das heizt natürlich die Spekulationen an, das bisher Unvorstellbare, könnte es zu Schwarz-Grün in Bayern erstmals kommen. Jetzt haben Sie gerade beim Thema Einwanderung und Spurwechsel, dem sogenannten, schon mal wieder den Dissens beschrieben. Wären Sie denn dennoch bereit für eine schwarz-grüne Koalition auf Landesebene in Bayern?
    Baerbock: Wir haben immer deutlich gemacht, dass wir mit allen demokratischen Parteien reden, aber wir reden mit allen demokratischen Parteien auf Grundlage unserer Werte. Und deswegen, wir sprechen auch in Bayern mit anderen Parteien über eine ökologische, gerechte und weltoffene Gesellschaft, aber wir reden nicht über einen antieuropäischen Kurs und eine Rückkehr in den Nationalstaat. Und da die CSU in den letzten Wochen genau das befördert hat, deutlich gemacht hat, sie sehen die Zukunft Bayerns nicht in Europa, haben wir auch klar gesagt, mit dieser CSU, mit diesem Ministerpräsidenten können wir in keine Gespräche gehen.
    Schmidt-Mattern: Aber Sie schließen keine Koalition aus?
    Baerbock: Also, wir haben, wie gesagt, deutlich gemacht, klare Haltung, klare Kante entlang unserer Werte. Und diejenigen, die über Sympathie, über Ökologie und Gerechtigkeit reden wollen, mit denen führen wir auch Gespräche.
    "Bündnisse wachsen von unten und werden nicht von oben eingesetzt"
    Schmidt-Mattern: Dann lassen Sie uns abschließend noch auf das andere Ende des politischen Spektrums gucken, nämlich die Linkspartei. Deren Fraktionschefin hier im Bundestag, Sahra Wagenknecht, hat gemeinsam mit Oskar Lafontaine jetzt gerade diese neue linke Sammlungsbewegung etabliert. Offiziell an den Start gehen soll sie am 04. September unter dem Stichwort 'Aufstehen'. 50.000, über 50.000 Anmeldungen gibt es schon. Brauchen wir eine neue linke Sammlungsbewegung?
    Baerbock: Wir brauchen vor allen Dingen ein stärkeres Miteinander von Politik, von Parteien und Zivilgesellschaft, weil wir ja seit Jahren – das ist ja nichts Neues – erleben, dass wir bei unterschiedlichsten Wahlen – und am heftigsten ist es eigentlich bei Kommunalwahlen – Wahlbeteiligungen haben, die wirklich manchmal auch unter 50 Prozent liegen. Und das ist ein Alarmsignal, das lange nicht gehört wurde. Und deswegen haben wir gerade auch als neue Parteiführung deutlich gemacht: Wir müssen rausgehen in die Fläche. Wir müssen mit den Menschen reden. Wir müssen offen sein für Initiativen auch von Verbänden. Aber wir wissen auch, Bündnisse wachsen von unten und werden nicht von oben eingesetzt. Und deswegen kann ich mit der linken Sammlungsbewegung nicht sehr viel anfangen.
    Schmidt-Mattern: Das heißt, Sie machen nicht mit?
    Baerbock: Nein, weil wir streiten für eine ökologische, weltoffene und gerechte Politik als Partei mit vielen, vielen zivilgesellschaftlichen Akteuren. Aber bei einer Initiative, die von der Fraktionschefin der Linken im Bundestag gegründet wurde und dann auch noch mit nationalistischen Tönen untermauert wird, da machen wir ja nicht mit.
    Schmidt-Mattern: Sie flirten ja eh schon wieder mit der FDP inzwischen, jetzt ein halbes Jahr, nachdem Jamaika geplatzt ist. Womöglich sind die Liberalen Ihnen derzeit sowieso schon viel lieber.
    Baerbock: Also, ich würde definitiv nicht mit Christian Lindner ... Nein, es geht hier überhaupt nicht darum, ob wir uns mögliche Zusammenarbeiten mit den Linken oder der FDP vorstellen können. Ich meine, wir regieren hier in Berlin, auch in Thüringen in rot-rot-grünen Bündnissen, machen da gemeinsam eine Politik. Deswegen geht es ja gar nicht um die Frage, welche Parteien können miteinander zusammenarbeiten. Sondern bei der Sammlungsbewegung geht es ja um was anderes, nämlich eine Alternative zu Parteien. Und gerade in einer Zeit, wo es in der Demokratie auch an allen Ecken und Enden bröckelt, ist es aus meiner Sicht essentiell, Parteien nicht noch weiter zu schwächen, sondern zu schauen, dass man gemeinsam an den Problemen, die auf dem Tisch liegen, wie eben der Wohnungsnotstand in unseren Städten, die Klimakrise, aber auch das gemeinsame Miteinander. Daran muss man arbeiten, anstatt sich jetzt in Theoriedebatten zu verfangen.
    Schmidt-Mattern: Danke schön, Annalena Baerbock.
    Baerbock: Danke, ebenso.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.