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Haushaltsdebatte und Flüchtlingshilfe
"Wir müssen über steuerliche Mehrbelastung der Reichen reden"

In der Debatte über die Finanzierung der Flüchtlingshilfe rede kaum einer darüber, wie man die Einnahmen des Bundes erhöhen könnte, kritisierte die stellvertretende Vorsitzende der Linksfraktion, Sahra Wagenknecht, im DLF. Dies dürfe jedoch nicht zulasten der kleinen Leute gehen.

Sahra Wagenknecht im Gespräch mit Christiane Kaess | 09.09.2015
    Sahra Wagenknecht, stellvertretende Vorsitzende der Fraktion Die Linke im Bundestag
    Sahra Wagenknecht, die stellvertetende Fraktionsvorsitzende der Links-Partei, fordert im DLF-Interview eine andere Steuerpolitik in Bezug auf sehr Reiche. (Picture Alliance / dpa / Jörg Carstensen)
    Wagenknecht forderte im Interview mit dem Deutschlandfunk eine andere Steuerpolitik zum Beispiel in Bezug auf Vermögenssteuer und Erbschaftssteuer für Reiche. Wenn Deutschland die Reichen stärker besteuerte und Steuerschlupflöcher schlösse, gäbe es genug Einnahmen ohne eine weitere Neuverschuldung. Diese käme jedoch nichtsdestotrotz in Frage, um Kosten in Milliardenhöhe für die Flüchtlinge zu decken. Zumindest könne man aber "die Grenzen der Schuldenbremse ausschöpfen", so Wagenknecht.
    Auf jeden Fall müssten Bedingungen geschaffen werden, dass die Flüchtlinge in Deutschland würdig leben könnten, sagte die Linken-Politikerin: "Darum zu feilschen, wer das bezahlt, finde ich unwürdig".

    Außerdem müsse man "auf dem Teppich bleiben", wenn man über die Dimensionen der Kosten für die Flüchtlinge rede. Ungeachtet der Kosten der Flüchtlingsunterbringung verlangte die Linken-Politikerin auch mehr staatliche Investitionen in Infrastruktur, Bildung und Wohnungsbau.
    "Flüchtlinge fliehen vor den Ergebnissen der westlichen Außenpolitik"
    Die Bundestagsabgeordnete forderte zudem eine neue Außenpolitik des Westens. Schließlich seien dessen Kriege in Afghanistan, Syrien und im Irak die Hauptursache für die Flüchtlingskrise.

    Das Interview in voller Länge:
    Christiane Kaess: Formell geht es um den Etat des Bundeskanzleramtes, aber weil es traditionell der Höhepunkt der Parlamentsdebatte in der Haushaltswoche ist, wird die Generaldebatte, die heute Vormittag im Bundestag beginnt, wie immer parteipolitisch geprägt sein. Die Flüchtlingspolitik wird im Mittelpunkt stehen, auch die Koalitionsbeschlüsse dazu vom Wochenende. Es gab viel Lob für die Kanzlerin von allen Seiten, auch aus der Opposition.
    Mitgehört hat Sahra Wagenknecht, erste stellvertretende Vorsitzende der Fraktion Die Linke im Bundestag. Guten Morgen!
    Sahra Wagenknecht: Guten Morgen.
    Kaess: Die Bundesregierung hat am Wochenende Tausende Flüchtlinge aus Ungarn einreisen lassen und über die deutsche Willkommenskultur staunt man international. Macht Angela Merkel im Moment gerade alles richtig?
    Wagenknecht: Nein. Ich finde das im Gegenteil zynisch. Auf der einen Seite ist es natürlich richtig, die Menschen einreisen zu lassen. Aber es müssen jetzt auch Bedingungen geschaffen werden, dass die Menschen hier würdig leben können, dass sie aufgenommen werden, dass sie auch gut untergebracht werden, nicht in Sammelunterkünften, dass sie integriert werden und das von Anfang an, dass da Deutschkurse gemacht werden und vieles andere mehr. Das kostet natürlich auch Geld und wenn die ganze Debatte jetzt nur darum geht, darum zu feilschen, wer das bezahlt, finde ich das unwürdig. Wir reden hier über Dimensionen in der Größenordnung, sagen wir, von zehn Milliarden Euro. Natürlich ist das viel Geld, aber ich möchte auch daran erinnern, was für viele andere Dinge ausgegeben wird, wo keiner eine so lange Debatte führt. Wir haben im Sommer mal eben ein neues Griechenland-Paket beschlossen, da ging es um ganz andere Dimensionen. Wir machen Militäreinsätze, die kosten viel, viel mehr Geld. Also man muss auch ein bisschen auf dem Teppich bleiben, wenn wir über Dimension und Größenordnung reden.
    Kaess: Aber, Frau Wagenknecht, da hat ja genau in den Haushaltsberatungen Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble angedeutet, dass es angesichts dieser Herausforderungen jetzt eventuell nicht dabei bleibt, dass die schwarze Null, die ja für 2016 angestrebt wird, so bleibt. Er hat gesagt, das ist nicht unumstößlich. Das ist dann genau in Ihrem Sinne?
    "100 Milliarden fehlen jährlich durch Steuerflucht"
    Wagenknecht: Na ja, das kommt natürlich darauf an. Zum einen ist es ja ohnehin unsere Forderung, dass man beispielsweise, wo man jetzt nahezu kostenlos Geld aufnehmen kann, auch die Grenzen der Schuldenbremse, die ja verfassungsmäßig jetzt verankert sind, zumindest ausschöpft. Das würde bedeuten, dass man in der Größenordnung von elf Milliarden durchaus eine Neuverschuldung machen könnte, um bestimmte Dinge zu finanzieren. Da ist ja auch in vielen anderen Bereichen einiges im Argen. Aber das Zweite ist natürlich auch: Es redet kaum noch einer darüber, wie man die Einnahmen erhöhen kann, und zwar nicht zu Lasten der kleinen Leute, nicht zu Lasten der Mittelschicht. Das auch noch mal zum Vergleich, diese zehn Milliarden, die jetzt zusätzlich für die Flüchtlinge notwendig sind. Wir haben nach wie vor die Situation, dass etwa 100 Milliarden jährlich dadurch fehlen, dass es zig Möglichkeiten der legalen Steuerumgehung und Steuerflucht gibt, die nach wie vor von großen Unternehmen genutzt werden, die nach wie vor von sehr reichen Familien genutzt werden. Und wenn man an diesen Dingen endlich etwas ändern würde, hätte man auch mehr Einnahmen im Etat und müsste auch nicht jetzt unbedingt massiv in die Neuverschuldung gehen.
    Kaess: Aber, Frau Wagenknecht, auf der anderen Seite muss man ja auch sagen, dass eigentlich der Bund mit den Überschüssen, die jetzt angegangen werden, Schulden tilgen müsste.
    Wagenknecht: Ja. Die Frage ist, was der Bund damit erreicht, wenn er jetzt damit Schulden tilgt. Ich meine, eine Volkswirtschaft ist ja nicht ein Privathaushalt. Wenn einer Schulden tilgt, dann heißt das, dass an anderer Stelle auch Nachfrage fehlt, und da muss man sich dann überlegen, wer diese Nachfrage ausgleicht. Dann müsste man, finde ich viel, viel sinnvoller, mittlere Schichten, gerade normale Einkommensbezieher steuerlich entlasten. Das wäre tatsächlich etwas, wo dann auch Kaufkraft entsteht, wo auch Leute dann besser leben können. Wir müssten tatsächlich, finde ich, nach wie vor über eine steuerliche Mehrbelastung der sehr Reichen reden. Es gab gerade wieder eine Studie, dass die Unterschiede zwischen Arm und Reich, die Einkommensunterschiede und die Vermögensunterschiede in Deutschland größer sind als in jedem anderen Land der Eurozone, und das hat ja auch was mit Steuerpolitik zu tun. Ich finde, wir haben dort andere Aufgaben.
    Und das Dritte ist: Wenn ich über Schuldentilgung rede und sehe, wie in Deutschland Straßen verfallen, wie in Deutschland Brücken verrotten, dann muss ich doch irgendwie auch mal Prioritäten setzen. Wenn ich Schulden tilgen will, dann brauche ich eine Vermögenssteuer, dann brauche ich eine ordentliche Erbschaftssteuer für die Reichen. Dann kann ich das vielleicht auch machen. Aber nicht im Rahmen des jetzigen und zu Lasten im Grunde der Zukunft, weil Schuldentilgung ohne Infrastruktur-Investitionen, bei schlechter Bildung, das ist kein Zukunftsprogramm.
    "Die Oberschicht zahlt vergleichsweise wenige Steuern"
    Kaess: Frau Wagenknecht, Sie haben die Investitionen in die Infrastruktur angesprochen, die fehlenden Investitionen. Diese sechs Milliarden, die jetzt für die Flüchtlinge bereitgestellt werden sollen, woher kommt dieses Geld und wie erklärt man den Menschen, dass das vorher zum Beispiel für Investitionen in die Infrastruktur nicht zur Verfügung stand?
    Wagenknecht: Ich finde, das muss man den Menschen nicht erklären, weil es ein Problem ist, dass es vorher oder überhaupt dafür nicht zur Verfügung steht. Ich finde, wir dürfen das jetzt nicht gegeneinander aufrechnen. Deutschland ist ein sehr reiches Land und wie gesagt, es ist gerade in Deutschland so, dass die, die sehr, sehr viel verdienen, die wirkliche Oberschicht und gerade auch große Unternehmen, vergleichsweise wenige Steuern zahlen. Die, die viel zahlen, das sind eher die Normalverdiener, die mittleren, und da muss ich nicht rechnen und sagen, jetzt haben wir sechs Milliarden für Flüchtlinge, aber für die verrotteten Straßen hätten wir nichts gehabt. Selbstverständlich hätten wir dafür etwas gehabt, wenn man es hätte haben wollen, wenn man zum Beispiel eine andere Steuerpolitik macht.
    "Flüchtlinge fliehen vor den Ergebnissen der westlichen Außenpolitik"
    Kaess: Entschuldigung, wenn ich da einhake. Ich muss hier aber noch mal nachfragen. Sie sagen, das sollte nicht gegeneinander aufgerechnet werden. Es wird aber von mancher Seite so getan. Haben Sie Sorgen, dass dieses Geld auch Ressentiments befördert?
    Wagenknecht: Ich habe die Sorge, dass eine öffentliche Diskussion Ressentiments befördert, wo jetzt so getan wird, dass wir auf wichtige Dinge in anderen Bereichen verzichten sollen, und daran sind angeblich die Flüchtlinge schuld. Ich finde, dass wir, wenn wir über das ganze Flüchtlingsproblem sprechen, natürlich darüber reden müssen, warum die Menschen kommen. Ich meine, die kommen ja auch nicht, weil sie plötzlich alle so begeistert von Deutschland sind. Die meisten Flüchtlinge kommen aus Kriegsgebieten, aus Bürgerkriegsgebieten, die kommen aus dem Nahen und Mittleren Osten, aus Syrien, aus Afghanistan, aus dem Irak, aus Libyen. All das sind Länder, in denen der Westen in den letzten Jahren, angeführt von den USA, aber in vielen Teilen auch von Deutschland unterstützt, Kriegspolitik gemacht hat. Diese Länder wurden destabilisiert. Ich finde es auch völlig verlogen, über das Flüchtlingspolitik abstrakt so zu reden, als würden die Flüchtlinge vor einer Naturkatastrophe fliehen. Sie fliehen vor den Ergebnissen der westlichen Außenpolitik, und auch da muss man endlich etwas ändern.
    Kaess: Und dennoch die Frage: Wenn Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble sagt, der Umgang mit den Flüchtlingen hat absolute Priorität, was löst das aus bei denjenigen, die sich hierzulande vernachlässigt fühlen?
    Wagenknecht: Ich finde auch nicht, dass man jetzt sagen kann, die anderen Probleme interessieren uns nicht mehr. Das wäre auch völlig unangemessen. Natürlich haben wir in Deutschland ein Problem mit viel zu niedrigen Renten, wo sehr, sehr viele Menschen im Alter, die vorher hart gearbeitet haben, wirklich nicht mehr angemessen leben können. Wir haben ein Problem mit dem Wohnungsbau, und zwar auch für ganz viele Menschen, die hier leben, gerade auch in Berlin, in den großen Städten, wo sie keinen bezahlbaren Wohnraum mehr finden. Deswegen ist es ja auch so wichtig, dass endlich wieder sozialer Wohnungsbau stattfindet. Das ist ja nicht nur notwendig, damit Flüchtlinge Wohnungen bekommen, wenn es dort eine wachsende Zahl von neuen Flüchtlingen gibt, sondern das ist ja längst notwendig auch für die Menschen, die hier leben und wo es längst ein Wohnungsproblem gibt. Wir haben akute Probleme bei den Bildungsausgaben. Deutschland ist miserabel aufgestellt im internationalen Vergleich, was wir in unsere Bildung investieren. All diese Probleme dürfen jetzt auch nicht unter ferner liefen gehen, sondern das sind genauso wichtige Probleme. Aber natürlich müssen wir jetzt auch das humanitäre Problem lösen, dass die Menschen, die hier herkommen, hier nicht unter völlig unmöglichen Verhältnissen leben müssen. Aber ich sage es noch mal: Das eigentliche Problem sind die Fluchtursachen. Es muss endlich auch eine andere Außenpolitik geben. Und ich sage mal: Vieles an Geld, das für Militäreinsätze verpulvert wurde, wenn man sich das gespart hätte, würden erstens jetzt nicht so viele Menschen kommen und zweitens hätte man dann auch mehr Geld dafür, die zu integrieren.
    Kaess: Die Einschätzung von Sahra Wagenknecht. Sie ist erste stellvertretende Vorsitzende der Fraktion Die Linke im Bundestag. Danke für dieses Gespräch heute Morgen.
    Wagenknecht: Sehr gerne.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.