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Hausmusik im digitalen Zeitalter

Mit dem Aufstieg des Internets erlebt die Hausmusik eine Renaissance. Über Facebook verabreden sich fremde Menschen zu Hauskonzerten. Gemütlich soll es sein, und der Künstler kann mit seinem Publikum auf Tuchfühlung gehen.

Von Monika Hebbinghaus | 02.07.2013
    In sozialen Netzwerken wie Facebook entstehen manchmal Ideen, die gar nicht so sehr nach 21. Jahrhundert klingen. Hausmusik zum Beispiel. Auch die erlebt im digitalen Zeitalter eine Renaissance. Der Rückzug ins Private, in den sich Anfang des 19. Jahrhunderts das Bürgertum flüchtete, der lässt sich auch heute umsetzen – nur dass es jetzt Smartphone und Laptop sind, die völlig Fremde in ganz realen Wohnzimmern zusammenführt. Dazu gehört, bei aller Gemütlichkeit, immer auch Mut zum Risiko.

    "Hallo, kommt rein, die Schuhe bitte ausziehen, die Jacken … möglichst dorthin."

    Gastgeberin Annika ist nervös. Jetzt, wo die Gäste eintrudeln und sich Schuhe und Jacken im winzigen Flur ihrer Einzimmerwohnung stapeln, erscheint die Idee mit dem Wohnzimmerkonzert vielleicht doch nicht mehr so gut.

    "Ich glaube, ich habe heute zum ersten Mal so richtig darüber nachgedacht, mein Gott, da kommen zehn, elf Leute, die kenne ich gar nicht. Aber ich glaube, dass es toll wird, und ich glaube, dass die 10, 11 Leute sich darauf freuen können, was sie dort erleben. Und das ist es mir wert, und ich hoffe, meine Wohnung steht danach noch!"

    "So, hereinspaziert, da gibt’s was zu Trinken, einfach zugreifen!"

    Auf dem weißen Sofa in der Wohnküche sitzt Lorenz Pöllmann. Der Kulturwissenschaftler ist einer der Erfinder der "Cosy Concerts" – einem Festival, das sich der intimen Musikerfahrung verschrieben hat. Wer hier wo auf wen trifft - das ist allerdings völlig offen. Das Publikum wird via Facebook über das Programm informiert, wer ein Ticket bucht, kriegt die Adresse per Mail zugeschickt.

    "Die Idee selber ist, na ja, man kann sagen, mäßig innovativ, denn Hauskonzerte, Salons, musikalische Salons beispielsweise, das gibt’s ja schon seit Hunderten von Jahren. Aber das ist 'ne Tradition, die irgendwie unterbrochen wurde, und wir haben überlegt, das könnte man eigentlich wieder neu beleben."

    Annikas kleines Wohn-Schlaf-Arbeitszimmer füllt sich zusehends. Sogar auf dem Himmelbett sitzen die fremden Besucher. Die älteren Semester dürfen aufs Sofa.

    "- Komm neben mich!"
    "- Soll ich neben dich?"
    "- Ja, sollst du!"
    "- Uppsala, ganz gemütlich."
    "- Ja, cosy. Wie sich’s gehört."

    Besucherin Kathrin hat durch einen E-Mail-Newsletter, den sie abonniert hat, von dem Konzert erfahren. Weil sie Musik ebenso liebt wie soziale Experimente, hat sie direkt ein Ticket gebucht.

    "Also, ich habe so was jetzt noch nie erlebt, außer selbst mal ein Hauskonzert gegeben zu haben, vor Freunden. Und ich mag diese Situation, ich mag dieses Intime. Man sieht auch die anderen einfach ganz anders als in so einem Konzertsaal, wo man Rücken an Rücken sitzt. Ja, ich bin gespannt."

    Die Internet-Community ersetzt hier den trauten Familienkreis. Mittendrin sitzt die Künstlerin des Abends: Josephine Stalter, 22 Jahre, kurzes, dunkles Haar, zerrissene Jeans. Sie hat gerade ihr Studium fertig und träumt davon, mit ihren Songs auf der großen Bühne zu stehen. Aber auch Nähe kann eine Herausforderung sein.

    "Also eigentlich ist es ganz schön, weil die Musik ja auch Singer-Songwriter, akustisch ist, von der Atmosphäre ist das ganz gut so. Aber trotzdem ist es schon – also heute sind die ja wirklich ziemlich nah dran. Man hat ja sonst immer so einen Bühnenraum und einen gewissen Abstand zum Publikum. Na, mal gucken, wie’s wird."

    "Einen schönen Abend wünsche ich euch allen, herzlich willkommen liebe Cosy Concerts-Fans. Mein Name ist Lorenz Pöllmann und ich darf euch im Namen des Festival-Teams ganz herzlich begrüßen. Uns ich bitte um einen herzlichen Applaus für Josephine Stalter!"

    "Man steht direkt vor den Leuten, man geht auf Tuchfühlung, man hört jedes Räuspern, und oft entwickelt sich eine Ankündigung auch schnell zum Gespräch. Man ist als Publikum natürlich auch ein bisschen motiviert, zurück zu reden, vielleicht mal nachzufragen. Das ist eine Gefahr, in Anführungsstrichen, die natürlich hier besteht. Und auf dieses Risiko muss man als Musiker Lust haben."

    "Und der nächste Song heißt "Too hard to understand you" und da geht’s einfach darum, allgemein, um Leute, die irgendwie was sagen und dann machen sie es doch nicht. Warum sagst du es dann? Naja – gut."

    Die intimen, leicht melancholischen Songs passen gut in dieses Format. Die Zuhörer lauschen gespannt, Josephine kriegt jede Regung mit.

    "Am schönsten ist es fast, wenn das Publikum auch was mitnimmt. Oder der Song gerade ausdrückt, was man selber fühlt oder was man selber schon mal gefühlt hat. Und das sieht man, glaube ich, auch an den Gesichtern."

    Es ist eine Begegnung auf Augenhöhe.

    "Ich habe das Gefühl, dass da 'ne andere Interaktion ist zwischen Künstlern und Publikum. Vielleicht sogar, dass sich die Künstler ein bisschen verletzlicher machen, sodass man mehr ins Miteinander kommt. Ich glaube, das ist sonst nicht so der Fall, wenn da diese Trennung ist: Bühne – und Publikum weit weg."

    Die Fremdheit und Nervosität des Anfangs – passé. Nach dem Konzert stehen alle gelöst in der Küche und quatschen, die Bierflasche in der Hand. Als wollten sie noch etwas warten mit der Rückkehr ins feindliche Großstadtleben.