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Haydns "Sieben letzte Worte"
Wunderbares Werk, wunderbare Aufnahme

Die von Joseph Haydn selbst arrangierte Fassung der "Sieben letzten Worte unseres Erlösers am Kreuze" für vier Streicher hat das spanische Cuarteto Casals pünktlich zu Ostern eingespielt. Es entdeckt die Essenz dieser Passionsmusik in ihrer Schlichtheit.

Von Raoul Mörchen | 13.04.2014
    Ein Kruzifix in Oberschwaben
    Sieben Mal nach seiner Kreuzigung erhebt Jesus in den Evangelien seine Stimme. (M. C. Hurek / dpa / picture alliance)
    Sieben Mal nach seiner Kreuzigung erhebt Jesus in den Evangelien seine Stimme: Das erste Mal bittet er um Vergebung für seine Peiniger, das letzte Mal empfiehlt er, so heißt es bei Lukas, seinen Geist in die Hände seines Vaters. Die sogenannten "Sieben letzten Worte" haben Joseph Haydn inspiriert zu einem Werk, das in der Literatur nicht seines Gleichen hat: Es ist uns in mehreren Fassungen überliefert – der Erstfassung für Orchester, in einer Bearbeitung für Klavier und einer späteren Erweiterung zum Oratorium. Die von Haydn selbst arrangierte Fassung für vier Streicher hat das spanische Cuarteto Casals jetzt für das Label Harmonia Mundi eingespielt. Eine Passionsmusik die, obwohl sie von Worten handelt, auf Worte ganz verzichtet.
    Musik: Joseph Haydn, Die Sieben letzten Worte unseres Erlösers am Kreuze, Einleitung
    Wäre da nicht die karge Besetzung, man würde erwarten, dass sich jetzt der Vorhang hebt und die Tragödie beginnt, nach dieser dramatischen Ouvertüre. Und tatsächlich folgt auch eine Tragödie, doch die braucht keine Bühne und auch keinen Vorhang. Es ist die Tragödie, die in der christlichen Überlieferung "Die Leidensgeschichte Jesu" heißt, es ist ihr allerletztes Kapitel. Der Verrat, die Verurteilung, der Gang durch die Gassen sind geschehen, Golgota erreicht. Wenn Jesus nach der Ouvertüre seine Stimme erhebt, dann hängt er schon am Kreuz. Das erste Wort richtet er direkt an seinen Vater: Wir hören es jedoch, wie die übrigen Worte auch, nicht gesprochen und nicht gesungen, sondern als reine instrumentale Klangrede, vorgetragen von der ersten Violine: "Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun." Oder, im lateinischen Original, das dieser Musik zugrunde liegt: "Pater, dimitte illis: non sciunt enim quid faciunt."
    Musik: Joseph Haydn, Die Sieben letzten Worte unseres Erlösers am Kreuze, Sonata 1
    Es ist, um das vorwegzunehmen, eine wunderbare Aufnahme, mit der uns dieses wunderbare Werk wie ein leicht verfrühtes Ostergeschenk überreicht wird. Und es trifft sich wirklich gut, dass die Überbringer dieses Geschenks vier Musiker aus Spanien sind, die Mitglieder des Cuarteto Casals. Denn auch die Musik, die sie spielen, kommt aus Spanien, gewissermaßen. Komponiert hat sie zwar Joseph Haydn, komponiert in der Residenz seines Brotherren im heute ungarischen Schloss Esterhaza, gedacht jedoch war sie für eine Kirche in der Hafenstadt Cadiz. In dem in eine Höhle hineingebauten Oratorio de la Santa Cueva feierte man damals die Osterandacht mit einem außergewöhnlichen Zeremoniell. Nachdem der Priester eines der sogenannten "Sieben letzte Worte" aus der Bibel vorgetragen und anschließend kommentiert hatte, stieg er von Kanzel hinab und kniete nieder vor dem Altar. Um die Andacht der Gläubigen in dieser Zeit zwischen den Lesungen zu begleiten, suchten zwei Würdenträger des Oratoriums eine geeignete Musik. Der Auftrag, der Joseph Haydn vermutlich Ende des Jahres 1786 erreichte, stellte den Komponisten vor ein schwieriges Problem: Jedes der sieben Worte verlangte nach einer Musik der Kontemplation – am Ende also würden sieben langsame Sätze aufeinander folgen. Kein flinkes Menuett, kein Scherzo durfte die Andacht stören. Haydn musste, was die Tempi betraf, auf das wichtigste Mittel traditioneller Dramaturgie also verzichten: auf das Mittel des Kontrasts.
    Musik: Joseph Haydn, Die Sieben letzten Worte unseres Erlösers am Kreuze, Sonata 2
    Die ununterbrochene Langsamkeit der sieben Sätze, deren Puls kaum merklich variiert zwischen Largo, Adagio und Grave, diese Langsamkeit war aber nur das eine. Schwieriger noch musste es sein, die innere Haltung der Musik zu kontrollieren: Denn so wie jedes der Worte vom Kreuz etwas ganz bestimmtes sagt, so kann auch die Musik sich nicht verlieren im Für-und-wieder, im Mal-dies-mal-das, in den beliebten Dialogen zweier unterschiedlicher Themen, die sich in der damals hochmodernen Sonatenform so effektvoll miteinander streiten. Was Haydn selbst mitentwickelt hat, hier muss er drauf verzichten. Für die Sonatenform entscheidet er sich dennoch, zumindest in sechs der sieben zentralen Sätze, die Haydn tatsächlich auch "Sonaten" nennt. Doch statt zwei Gedanken miteinander zu verschränken, entwickelt er seine Musik aus einem einzigen: und er entwickelt diesen Gedanken wiederum aus der silbengetreuen Übertragung des Bibelworts in Klang – ganz einfach und nachvollziehbar wie im dritten Satz mit seinem prägnaten Zwei-Ton-Motiv für das lateinische "mulier" und "mater" – "Weib" und "Mutter".
    Musik: Joseph Haydn, Die Sieben letzten Worte unseres Erlösers am Kreuze, Sonata 3
    So großartig jedoch Joseph Haydn seine schwierige Aufgabe kompositorisch meistert – ohne kongeniale Interpreten steht er auf verlorenem Posten. Das gilt sowohl für die originale Orchesterpartitur der "Sieben letzten Worte" wie für die gleich im Anschluss entstandene Reduktion für vier Streicher. Selten mag man die von einer Einleitung und einem Finale eingefasste Folge sieben langsamer Sätze tatsächlich am Stück hören. Wenn das Cuarteto Casals allerdings nach einer guten Stunde das "Vater, in deine Hände empfehle ich meinen Geist" beschließt mit dem donnernden "Terremoto", dann ist man versucht, gleich wieder auf den Start-Knopf des CD-Players zu drücken.
    Die spanischen Musiker widerstehen der Versuchung, Haydns Musik post mortem doch noch auf die große Bühne zu schieben, wo sie zwangsläufig kümmerlich da stünde: Abseits der Rahmensätze verzichten sie auf Theater und jede Entäußerung. Ihre sieben letzten Worte richten sie nach innen, klar und deutlich, ruhig und bestimmt. Die Essenz dieser Musik entdeckt das Cuarteto Casals in ihrer Schlichtheit, in ihrem fast kindlichen Vertrauen darauf, dass das, was wahr ist und unverstellt, auch schön ist. Kein Vibrato, kein Akzent ist zu viel, kein Bogen liegt zu lang oder zu schwer auf der Saite, nichts giert nach Bedeutung, nichts lässt die Aufmerksamkeit schweifen, lenkt ab von dem, was diese Musik sagen will.
    Musik: Joseph Haydn, Die Sieben letzten Worte unseres Erlösers am Kreuze, Sonata VI
    Die zu Klang gewordene Botschaft formuliert das Cuarteto Casals mit den Mitteln einer Aufführungspraxis, die dem Barock letztlich näher stehen als der Klassik. Das mag angesichts des Entstehungsjahrs der Partitur, 1787, überraschen, doch das Ergebnis rechtfertigt die Entscheidung. Mit der Idee der Klangrede, der sprechenden Musik, huldigen Haydns "Sieben letzte Worte" ja tatsächlich einer längst vergangenen Epoche. Gleichzeitig tun sie dies mit den damals aktuellsten Mitteln, mit der Sonatenform und dem Streichquartett.
    Auch das gelingt den Musikern des Cuarteto Casals, auch das zeichnet sie aus vor anderen: dass sie diese Gleichzeitigkeit von alt und neu wirklich erlebbar machen.
    Musik: Joseph Haydn, Die Sieben letzten Worte unseres Erlösers am Kreuze, Sonata VI
    "Es ist vollbracht" – das war das sechste der "Sieben letzten Worte unseres Erlösers am Kreuze". Die instrumentale Passionsmusik von Joseph Haydn hat das spanische Cuarteto Casals aufgenommen für das Label Harmonia Mundi. Die neue Platte wurden ihnen vorgestellt von Raoul Mörchen.
    Joseph Haydn: Die Sieben letzten Worte unseres Erlösers am Kreuze
    Quarteto Casals
    Harmonia Mundi, HMC 902162