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Heckel-Retrospektive in Chemnitz
Lebensweltliche Einbettung der klassischen Moderne

In Chemnitz sind jetzt im Museum Gunzenhauser Werke des expressionistischen Künstlers Erich Heckel zu sehen. Er gehörte wie Ernst Ludwig Kirchner und Karl Schmidt-Rotluff zu den "Brücke"-Künstlern mit Chemnitz-Bezug, deren Werke von den Nationalsozialisten als "Entartete Kunst" vollständig aus den Kunstsammlungen entfernt worden waren.

Von Carsten Probst | 21.01.2016
    Erich Heckel wurde zwar nicht direkt in Chemnitz geboren, sondern im nahe gelegenen Döbeln. Chemnitz aber entwickelte sich für ihn schon als Kind und Jugendlichen schnell zum Zentrum seiner Aktivitäten und engen Freundschaften. Hier traf er auf Ernst Ludwig Kirchner und Karl Schmidt-Rottluff, die wie er in Chemnitz das Gymnasium besuchten. Hier nahm er ab 1901 am von Schülern gegründeten Debattierklub "Vulkan" teil, der mit seinen Literaturdiskussionen von Kierkegaard bis Nietzsche eine Art geistiger Ursprung der späteren Künstlervereinigung "Brücke" wurde. Alle "Vulkan"-Mitglieder gehörten hernach auch der "Brücke" an, entweder als aktive oder sogenannte "passive", also fördernde Mitglieder.
    Heckel und Schmidt-Rottluff, die lebenslang miteinander befreundet bleiben sollten, nahmen gemeinsam an den "Vulkan"-Treffen teil. Vor allem Nietzsches "Zarathustra" und "Die Geburt der Tragödie" scheinen ausschlaggebend gewesen zu sein für die Weiterentwicklung der impressionistischen Einflüsse in Heckels und Schmidt-Rottluffs Frühwerk hin zu einer ekstatisch empfundenen Expression.
    Dass der Expressionismus nach dem Zweiten Weltkrieg in Westdeutschland zeitweilig fast zur demokratischen Staatskunst mutierte, verdeckt allerdings oft den Blick auf diese Ursprünge. Deshalb sind Ausstellungen wie die Heckel-Retrospektive im Museum Gunzenhauser in Chemnitz so wichtig. Sie stehen mit ihrem authentischen Ortsbezug für eine andere Sicht auf die klassische Moderne, ihre lebensweltliche Einbettung. Aus Chemnitzer Sicht sind Heckel, Schmidt-Rottluff oder Kirchner zunächst einmal keine Ikonen des freiheitlichen Weltgeistes, hier sind sie Schüler, Suchende, Experimentierende. Das Chemnitzer Umfeld begünstigte offenkundig eine freisinnige Haltung zur Kunst, denn nicht zuletzt kamen Heckel, Schmidt-Rottluff und Kirchner alle als Autodidakten zur Malerei. Die von Anja Richter vorzüglich kuratierte Ausstellung dokumentiert das auch sehr deutlich.
    Chemnitz als Wiege der modernen Avantgarde in Deutschland
    Gleich am Eingang hat sie einen historischen Stadtplan hängen lassen, auf dem Heckels frühe Wohnorte und Stationen innerhalb der Stadt verzeichnet sind. Nach den immensen Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs ist von diesen Orten zwar kaum einer erhalten. Ihr Netzwerk aus Wohnhäusern, Theatern, der Kunstverein "Kunsthütte" und der Arbeitswelt von Heckels Vater, der Eisenbahningenieur war und daher stets in der Nähe der Eisenbahnanlagen lebte, muss damals jedoch tatsächlich so etwas wie die ideelle Wiege von Heckels späterem Schaffen gewesen sein.
    Heckel, so erfahren wir, war ein guter Schüler, vielseitig musisch und literarisch interessiert, und zeitweilig trug er sich mit dem Gedanken, selbst Dichter zu werden und nahm daher auch als Künstler immer wieder auf literarische Vorlagen Bezug oder fügte eigene oder fremde Verse in seine Holzschnitte ein. Heckel soll sogar angeregt haben, der Brücke-Kunst auch eigenständige literarische Werke hinzuzufügen, was von den anderen Künstlern jedoch abgelehnt wurde.
    Bemerkenswert ist der bleibende Heimatbezug Heckels zu Chemnitz. Auch wenn er später nach Dresden, Berlin und schließlich an den Bodensee übersiedelte, war er doch alles andere als ein Flüchtling aus provinzieller Enge. In Chemnitz wurde er, wie auch Schmidt-Rottluff, früh ausgestellt, zuerst 1906 mit Holzschnitten, 1921 mit einer ersten Einzelausstellung und zehn Jahre darauf mit einer ersten umfassende Retrospektive in den Kunstsammlungen Chemnitz. Über siebzig Werke Heckels befanden sich bis zum Jahr 1937 in den Chemnitzer Kunstsammlungen und fielen dann komplett der nationalsozialistischen Aktion "Entartete Kunst" zum Opfer. Schon zu DDR-Zeiten gelangen den Kunstsammlungen allerdings erste Rückkäufe. Heute präsentiert man 120 Werke aus der eigenen Sammlung, überwiegend Druckgrafik, darunter viele nie gesehene Dauerleihgaben aus Privatbesitz. Mit ungeheurem Aufwand haben die Kunstsammlungen in den letzten Jahren daran gearbeitet, Chemnitz als die Stadt Kirchners, Schmidt-Rottluffs und jetzt Heckels ins Gedächtnis zu rufen, als eine Wiege der modernen Avantgarde in Deutschland; Hinweis auf eine geistige Topografie, die noch immer wiederzuentdecken ist.