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Heiland im Ruhrgebiet

Der erste Satz sei für ihn, äußerte Ralf Rothmann schon häufig, ausschlaggebend für die Entfaltung des ganzen Romans. Manchmal sind es auch die ersten zwei oder drei Sätze, aus deren Essenz sich alles weitere ergibt: "Unter Tage ist es still um diese Zeit, in der sich noch niemand im Schacht oder auf der letzten Sohle befindet, und der Mann schob das Gitter zu und legte den Riegel um, trat einen Schritt zurück. Stiller als über den Wolken." So beginnt Rothmanns neuer Roman Junges Licht.

Von Ursula März | 18.08.2004
    Selbst wer das Werk des inzwischen 51jährigen Schriftstellers nur aus Klappentexten kennt, kann aus diesen Anfangssätzen schließen, dass Rothmann erzählerisch noch einmal in seine biographische Heimat zurückgekehrt ist, die zugleich die literarische Heimat seiner bedeutenden Ruhrpott-Trilogie darstellt: In die Welt des Bergbaus und in das proletarische Milieu der Bergbauarbeiter. Aber es ist nicht nur vom Unterirdischen, von der Sphäre ohne Licht, die Rede, sondern auch vom Überirdischen, von der Sphäre, auf die sich unter den Vorraussetzungen der Gläubigkeit die Hoffnung richtet, sie führe zur unendlichen Helligkeit. Und wer von Rothmann ein wenig mehr gelesen oder gehört hat, fühlt sich schon in der ersten Minute der Lektüre an die Rubrizierungen erinnert, die die Kritik seit geraumer Zeit und zu Recht auf diesen Schriftsteller anwendet: "Metaphysischer Realismus", "Transzendenz", "Spiritualität", "Christlichkeit" oder konkreter "Christologie".

    In der Tat, von einer wahrhaft christologischen Leidens- und Pubertätsgeschichte der späten 50er und frühen 60er Jahre wird in Junges Licht erzählt. Von einem Zwölfjährigen namens Julian, Sohn einer in jeder eng lebenden Bergarbeiterfamilie im Ruhrgebiet, der ein paar altersgemäße Dummheiten anstellt, die das Wort Sünde nicht wert sind, aber von den Sünden und Gemeinheiten, den Anfechtungen und Gewalttätigkeiten seiner Umgebung durchbohrt wird wie die Zielscheibe von den Geschossen. Er muss den Lehrer erdulden, der ihn schlägt, die lebensunzufriedene Mutter, die ihn prügelt, die feindliche Jungsbande, die sein Kaninchen tötet, das Fahrrad stiehlt, den Hausbesitzer, der ihm sexuell nachstellt, die lolitahafte Untermieterin Marusha, die sein schamhaft erwachendes Triebleben mit ihrer Krassheit provoziert und kränkt. Er muss - dies ist die zeitliche und narrative Grundsituation des Romans - das Schlimmste, Blödeste erdulden, was einem Jungen in diesem Alter in den Sommerschulferien widerfahren kann, nämlich ganz allein in der Wohnung zu sitzen. Julians Mutter fährt mit der kleineren Schwester zu den Großeltern an die Küste. Vater und Sohn bleiben da. Der Vater arbeitet, schläft oder schweigt. Der Sohn richtet ihm, wenn er im Kühlschrank etwas findet, Esspaket und Trinkflasche für die Arbeit unter Tage.

    Ralf Rothmanns Romane sind im Kern allesamt Entwicklungsromane. Buch um Buch umkreist der Autor Pubertät und Adolenszenz, die Zeit, in der sich das Leben als Last auf die Seele zu legen beginnt. Junges Licht ist da keine Ausnahme. Nur läuft hier die Entwicklung ganz konkret und plastisch auf einen Kerngedanken der Christologie, die altruistische Buße hinaus. In einer Hauptszene des Romans geht Julian in die Kirche, um im Beichtstuhl anstelle seines Vaters dessen zur Familientragödie führende Verfehlung zu beichten: Unzucht mit der mit der minderjährigen Marusha.

    Aufschlussreich ist die Beichtszene noch in anderer, ästhetischer Hinsicht: Sie ist zum einen ein Beispiel für Rothmanns einzigartige Kunst, schlimm pathosverdächtige Stoffe und Motive so unpathetisch daher kommen zu lassen, als wäre ihre Realität ein Selbstverständlichkeit. Eine O-Ton-Wirkung, für die nichts anderes verantwortlich ist als Rothmanns wirklich tiefe Realitätsvertrautheit mit Milieus und Menschen, ihren Jargons und Leibern, ihren Gewohnheiten und Verrücktheiten, und seine, bei aller literarischen Transzendenzstimmung, ebenso tiefe
    Realitätsliebe. Und: Was in der Beichtszene erzählerisch sichtbar wird, das Streben nach Reinigung, nach Entlastung, dieses Streben betrifft Struktur und Stil des ganzen Romans.

    So bildlich, weltnah und plastisch der Realismus Ralf Rothmanns auch ist, diese Bildlichkeit befindet sich in ständiger Bewegung hin zur gleichsam gereinigten Zeichenhaftigkeit. Der eingesargte Tote im Autoheck des Bestattungsunternehmers, der Mutter und Schwester zum Bahnhof fährt, die auffällige Tierwelt mit Hund, Hase, Vögeln, das aggressive Pferd, das Julian als Kleinkind durch schiere Seelenübertragung bändigte, der Rasierklingenschnitt im Arm, das in eine Parallelhandlung geschilderte Grubenunglück, die Schluchten der Brachlandschaft des Bergbaus, dessen Unterwelt und deren Gegenüber, das Himmelwärts - all dies sind starke Bilder und zugleich Elemente eines reinen Zeichensystems, das durchaus den Anspruch auf kosmische Größe besitzt. Die Methoden, derer sich Rothmanns zeichenhafter Stil bedient, zumal bei den Bildbeschreibungen, von denen sein Erzählen in der Regel ausgeht, sind Ausschnitt und Ellipse. Es sind im Grunde filmische Methoden. Und sucht man in der Kunstgeschichte einen Geistes- und Stilverwandten Ralf Rothmanns, fände man ihn vielleicht tatsächlich in einem Filmregisseur, in dem französischen Katholiken Robert Bresson.

    Unversehens und ohne jeden Rummel um sich und sein Kunstvermögen mischt sich dieser Roman in die abendländische Abbildungsgeschichte, in die Auseinandersetzung zwischen bildlicher Gestaltung und zeichenhafter Abstraktion. Sprechen wir nicht zu oft und nicht zu viel von Ralf Rothmanns Meisterschaft. Denn was sagen wir dann in zwanzig Jahren, wenn wir von ihm noch weitere Romane haben, die so groß und bedeutsam, so menschlich und intelligent sind wie dieses?

    Ralf Rothmann
    Junges Licht
    Suhrkamp, 236 S., EUR 19,80