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Heiligsprechung von Oscar Romero
Warten auf den Erlöser

38 Jahre nach seiner Ermordung wird Oscar Romero vom Papst heiliggesprochen. An den Verhältnissen, die der ehemalige Erzbischof von San Salvador in seiner Heimat anprangerte, hat sich jedoch bis heute nichts geändert: das Land versinkt in Armut, Korruption und Gewalt.

Von Ina Rottscheidt | 13.10.2018
    Der Schatten eines Mannes mit Hut auf einem Wandgemälde, das den ermordeten Erzbischof Oscar Arnulfo Romero darstellt.
    Romeros Ermordung markierte den Beginn des Bürgerkriegs in El Salvador - der bis heute nicht aufgearbeitet ist (picture alliance / Salvador Melendez)
    Kein Tag vergeht, an dem die Nachrichten in El Salvador keine Gewalttaten vermelden: Menschen werden ermordet, überfallen, grausam verstümmelt. Die Mordraten sind die höchsten der Welt. Jeden Tag werden im Durchschnitt zwölf Menschen gewaltsam getötet. Auch 26 Jahre nach dem Ende des Bürgerkriegs findet das Land keinen Frieden.
    Kultur der Gewalt
    "Für mich ist es ein Blick in einen Abgrund, was mit einer Gesellschaft passieren kann, deren soziale Frage nicht gelöst ist."
    Sagt Joachim Schlütter. Er leitet die Friedrich-Ebert-Stiftung in El Salvador und lebt seit fast fünf Jahren in dem kleinen zentralamerikanischen Land. Das größte Problem sind die sogenannten "Maras": mafiaähnliche, brutale Jugendgangs, die im Drogen- und Waffenhandel mitmischen, Schutzgelder erpressen und de facto ganze Stadt- und Landesteile unter ihre Kontrolle haben. Folge von Massenauswanderungen in die USA und den ebenso zahlreichen Abschiebungen zurück nach El Salvador.
    "Die Leute, die hier ausreisen, gehen in die billigen Gegenden im Süden der USA, aber auch in New York, und sind in Gettos. Da gibt es rassistische Kriege. Und diese Mentalität wurde hierin importiert. Gruppen von Jugendlichen, wie bei uns Halbstarke, gab es hier schon immer, aber die haben die Leute nicht erschossen. Bis die ersten zurückkamen und denen gesagt haben: Wir zeigen euch mal, wie ihr Geld verdienen könnt."
    Mitglieder der Mara Salvatrucha im Gefängnis in Ciudad Barrios, San Salvador.
    Banden in El Salvador, wie hier Mitglieder der Mara Salvatrucha, pflegen eine Gewaltkultur (picture alliance / Edgar Romero)
    Es herrscht eine regelrechte Kultur der Gewalt und der Rechtlosigkeit - besungen in zahlreichen Rap-Songs. Schätzungsweise 60.000 Jugendliche haben sich den Maras bis heute angeschossen: In einem Land, in dem die Korruption hoch ist und der Staat schwach, gilt das Recht des Stärkeren.
    "Die Regeln unter den Maras sind mittelalterlich. Wer keinen erschossen hat, wird nicht Mitglied, Strafen sind bestialisch. Es wird zum Beispiel eines Morgen die Parole rausgegeben vom "palabrero", also dem Wortführer einer solchen Clique: 'Frauen, die morgen kein rotes T-Shirt anhaben, werden erschossen!' Und das passiert dann auch."
    Die Rache der Mächtigen
    El Salvador - zu Deutsch: der Erlöser. Von nichts scheint das kleine zentralamerikanische Land derzeit weiter entfernt zu sein. Wenn an diesem Sonntag der ehemalige Erzbischof von San Salvador, Oscar Romero, vom Papst heiliggesprochen wird, dann ist für die Menschen damit auch die Hoffnung verbunden, dass sich wenigstens mit göttlicher Hilfe etwas im Land ändert. El Salvador versinkt in Gewalt, Armut und Korruption. De facto hat sich seit damals, als der Kirchenmann diese Situation erstmals öffentlich anprangerte, kaum etwas geändert.
    Es ist der 23. März 1980: Der Erzbischof von San Salvador Oscar Romero hält eine flammende Predigt: Kein Soldat sei verpflichtet, Befehle auszuführen, die gegen das Gesetz Gottes verstoßen, ruft er den Gläubigen zu.
    "In seinem Namen und im Namen unseres gequälten Volkes bitte ich euch, flehe ich euch an, befehle ich Euch im Namen Gottes: Hört auf mit der Unterdrückung!"
    Einen Tag später ist Romero tot. Erschossen, während der Messe. Es ist die Rache der Mächtigen, weil er unbequeme Wahrheiten ausgesprochen hatte.
    In El Salvador herrscht zu diesem Zeitpunkt bittere Armut. Der Grundbesitz und die Macht liegen in der Hand einiger weniger Familien. Die Regierung besteht überwiegend aus Militärs, erklärt Michael Huhn. Er ist Historiker und arbeitet für das Lateinamerikahilfswerk Adveniat.
    "El Salvador war damals de facto eine Diktatur. Eine Herrschaft, eine Koalition aus Militärs und den wirtschaftlich Mächtigen. Die wirtschaftlich Mächtigen das waren sie sogenannten 14 Familien, die das Land im Griff hatten und die natürlich überhaupt kein Interesse hatten, dass es zu sozialen Veränderungen kommen sollte. Aber es gab eine kräftige oppositionelle Bewegung an den Hochschulen. Das waren die lateinamerikanischen oder salvadorianischen Ausläufer der 68er-Bewegung. Und es gab die große Not, die Armut und Verzweiflung der Tagelöhner, der landlosen Bauern und auch der Bauern, die von ihren Ländereien verdrängt werden sollten, weil da noch mehr Kaffeeplantagen angelegt werden mussten."
    Von der Barmherzigkeit zur Revolution
    Auf die Proteste reagierten die Mächtigen mit zunehmender Repression. Romero erlebt mit, wie die Armee Massaker an Demonstranten verübt, wie Kritiker entführt und gefoltert werden. Doch zunächst war er gar nicht der flammende Redner, der das System infrage stellte. Er predigte Barmherzigkeit aber nicht die Revolution, erinnert sich Kardinal Gregorio Rosa Chávez. Er ist Weihbischof von San Salvador und war damals engster Vertrauter von Romero.
    "Er war ein zaudernder Mensch, fast ängstlich. Oft fragte er um Rat, ihm war die Meinung der Menschen wichtig und zugleich war er ein wenig menschenscheu. Er ging ihnen eher aus dem Weg."
    Der Schreibtisch von Oscar Romero mit dem Aufnahmegerät.
    Zögerlicher Revolutionär: Romeros Wohnung mit seinem Schreibtisch ist heute ein Museum (Deutschlandradio / Anne-Katrin Mellmann)
    Als Romero 1977 Erzbischof von San Salvador wurde, war er kein Rebell. Er war ein zurückhaltender Mensch, galt als Konservativer. Den Eliten war er willkommen, von ihm erwarteten sie keine Kritik. Doch die Ermordung seines Freundes, des Jesuitenpaters Rutilio Grande im Jahr 1977, ist schließlich der Wendepunkt: Romero wird politisch.
    In seinen Predigten kritisiert er die Ungleichheit und die Gewalt. Er benannte Missstände und deren Verantwortliche. Justiz und Politik wirft er Käuflichkeit vor. Seine Predigten wurden über einen katholischen Radiosender im ganzen Land ausgestrahlt. Was Romero zu sagen hatte, erreichte die Menschen im letzten Winkel des Landes, erinnert sich der Kardinal.
    "Es gab ja damals keine objektive Berichterstattung, keine freie Presse. Die arme Landbevölkerung bekam kaum Informationen über das, was im Land passierte. Und ihre Themen kamen in den Nachrichten nicht vor. Die der linken Bewegungen und Gewerkschaften ebenfalls nicht. Es war Romero, der sonntags in der Predigt den Menschen erzählte, was im Land vor sich ging. Er sprach über die Menschenrechte und was er davon hielt. Das war schon sehr konkret."
    Er wusste, dass er sterben würde
    Fortan richtete sich der Hass der Mächtigen auch gegen die Kirche und gegen Romero selbst. Sie nannten ihn Kommunistenführer und Terrorist. Flugblätter mit dem Aufruf: "Sei Patriot, bring einen Priester um!", kursierten. Der Historiker Michael Huhn sagt:
    "Noch wichtiger ist es daran zu erinnern, dass es nicht nur um die Priester ging, sondern dass unendlich mehr Laienarbeiter der Kirche, unendlich mehr Katecheten und Leiter von Basisgemeinden umgebracht worden sind. Es war physischer Mord und es war gleichzeitig der Aufruf, die zählen nicht mehr. Die Rolle von Romero war die, dass er für viele zu einem Ankerpunkt geworden ist. Denn die Sensation war ja, dass es jemand aus der Höhe der Hierarchie war, der quasi die Seiten wechselte und sich zu den "Kleinen" bekannte und dessen Stimme gehört wurde.
    Diese Stimme wurde am 24. März 1980 für immer zu Schweigen gebracht. Kardinal Gregorio Rosa Chávez erinnert sich an jenen Tag, als sein Freund und Weggefährte getötet wurde.
    "Ich wusste, dass das geschehen würde. Ich hatte am Vortag seine Predigt gehört und als er sagte: "Hört auf mit der Unterdrückung!", war mir klar, dass das sein Todesurteil sein würde. Er wusste auch, dass er sterben würde. Er hatte keine Angst vor dem Tod, er hatte nur Angst davor, wie sie es machen würden. Am Ende starb er am Altar.
    Historisches Bild des Erzbischofs Oscar Arnulfo Romero y Galdamez am 1. Januar 1979 bei einer Messe in einer Kirche in San Salvador.
    Stimme der Armen: Romeros Predigten wurden landesweit durch Radiostationen übertragen (picture alliance / Ken Hawkins / Zuma)
    Romeros Ermordung bildet den Auftakt zu einem Bürgerkrieg, in dem in den folgenden zwölf Jahren Todesschwadronen, Privatarmeen und Militärs linke Guerillagruppen bekämpften. Die linksgerichteten Bewegungen schlossen sich wenig später zur "Nationalen Befreiungsbewegung" -kurz FMLN- zusammen. Was sie einte, war der Wunsch nach mehr Gerechtigkeit und die Überzeugung, dass diese nur durch den bewaffneten Kampf erreicht werden könne. Am Ende wurde es einer der blutigsten Konflikte auf dem Kontinent. Aufgearbeitet wurde er bis heute nicht.
    Operation "Säuberung" - ein Massaker
    Die Gemeinde Chalatenango im Nordosten El Salvadors: Es ist Herbst 2018. Immer noch brennt die Sonne unerbittlich. Suyapa Serrano Cruz geht am Ufer des Río Sumpul entlang. Gemächlich fließt das braune Wasser des Flusses an ihr vorbei, sie deutet auf die andere Seite, ihr Blick wird müde.
    "Hier an diesem Fluss gibt es nichts, nur die Erinnerungen von uns Überlebenden. Kein Schild, kein Gedenkstein, kein Kreuz. Uns sind nur die Erinnerungen geblieben."
    Es war im Mai 1982, als Militärs zahlreiche Ortschaften im Nordosten El Salvadors unter Beschuss nahmen. Helikopter flogen über die Häuser, Soldaten feuerten mit Maschinengewehren in die Menge. Ganze Siedlungen wurden niedergebrannt. Wer konnte, versuchte sich über den Fluss ins Nachbarland Honduras zu retten.
    Hart sei das gewesen, erinnert sich Suyapa und deutet auf die bewachsenen Anhöhen um sie herum. Die Soldaten seien von allen Seiten gekommen. Dort, sagt sie und zeigt auf die andere Seite des Flusses, beginne das Nachbarland Honduras. Auch Suyapa und ihre Familie wollten sich dorthin retten, doch honduranische Soldaten zwangen die Flüchtenden zur Rückkehr.
    "Sie haben uns zurückgeschickt, es waren so viele Menschen! Einige versuchten, mit dem Boot wieder ans andere Ufer zu gelangen. Aber es war kein Platz für uns und auch andere, und so versuchten wir es schwimmend. Viele schafften es nicht, sie ertranken im Fluss."
    Auch ihre beiden Schwestern Ernestina und Erlinda, die damals sieben und drei Jahre alt waren, gingen in den Wirren der Flucht verloren. Ob sie ertranken oder von Militärs mitgenommen wurden? Suyapa weiß es nicht. Bis heute sucht sie nach Gewissheit.
    "Für mich ist es sehr schwer, weil meine Mutter mittlerweile auch gestorben ist. Sie hatte bis zu ihrem Lebensende nach ihren beiden Töchtern gesucht. Viele in unserer Familie wurden getötet. Dieser Krieg hat uns alle zerstört. So viel Leid, das wir erlebt haben. Und unser Kampf ist noch nicht zu Ende. So lange wir leben, werden wir davon erzählen."
    Der Einsatz am Río Sumpul lief bei den Militärs unter dem Namen "Operación Limpieza", zu Deutsch: "Operation Säuberung". Im Namen der Aufstandsbekämpfung töteten sie hunderte Zivilisten, einfache Menschen vom Land und arme Bauern, die irgendwie zwischen die Fronten geraten waren. Es war eines von mehreren großen Massakern, das Militärs in El Salvador während des Bürgerkrieges anrichteten.
    Die verschwundenen Kinder von El Salvador
    Am Ende wurden mehr als 75.000 Menschen getötet, Tausende verschwanden. Unter ihnen auch über 3.000 Kinder. Das war Teil der Kriegsstrategie, sagt Eduaro García. Er ist der Direktor von "Pro-Búsqueda", einer Organisation, die seit vielen Jahren versucht, die vielen Fälle verschwundener Kinder in El Salvador aufzuklären.
    "In den ersten Jahren des Bürgerkriegs verfolgte die Regierung eine Politik der verbrannten Erde. Die Militärs sind in Dörfer eingedrungen mit dem Auftrag alle zu töten, die im Verdacht standen, mit der Guerilla zusammenzuarbeiten. Es kam zu großen Massakern. Sie brannten ganze Dörfer nieder und töteten einfach alle, auch die Kinder. Aber das Töten von Kindern hat dann doch viele Soldaten demoralisiert, sie weigerten sich, Befehle auszuführen. Daraufhin fingen sie an, die Kinder ihren Eltern wegzunehmen und sie an Paare im In- und Ausland zu verkaufen. So entwickelte sich ein regelrechter Kinderhandel in El Salvador."
    Im rund 1.000 Fällen bemüht sich Pro-Búsqueda um Aufklärung. Der systematische Raub von Kindern war auch in anderen Militärdiktaturen Lateinamerikas der 70er und 80er Jahre ein gängiges Mittel. Aber anders als beispielsweise in Chile oder Argentinien gebe es in El Salvador bis heute keinen staatlichen Willen zur Aufklärung, sagt García:.
    "Es handelt sich um einen "Versöhnungsprozess", der von den Akteuren des Bürgerkriegs diktiert wird. In Wirklichkeit gibt es keine Versöhnung. Die Politiker nennen die Opfer immer noch "Aufständische" und "Kommunisten", genau wie damals. Sie verstehen unter "Versöhnung" einen Schlussstrich unter der Geschichte. Wir hingegen fordern Wahrheit, Gerechtigkeit, Reparationen und die Garantie, dass so etwas nie wieder passiert."
    Aufarbeitung wird verschleppt
    Den Menschenrechtlern läuft die Zeit davon. Überlebende und Hinterbliebene werden älter, viele bringen nicht mehr die Kraft auf weiterzukämpfen gegen ein System, das sich kaum bewegt. Wenig von dem, was vereinbart wurde, als 1992 die Friedensverträge unterzeichnet wurden, wurde umgesetzt: keine Aufklärung, keine Öffnung der Militärarchive. Täter wurden niemals zur Rechenschaft gezogen. Man spiele auf Zeit, davon ist der Menschenrechtler Eduardo García überzeugt.
    "Sie warten darauf, dass das in Vergessenheit gerät, dass es irgendwann keine Überlebenden gibt, die Ansprüche stellen. Aber dabei vergessen sie eines: dass Gewalterfahrungen über Generationen hinweg weitergegeben werden. Probleme, die wir heute nicht lösen, müssen nachfolgende Generationen lösen.
    Der ehemalige Bürgermeister Roberto D'Abuisson bei einer Wahlkampfveranstaltung im März 1982.
    Gründer der ARENA-Partei - und Auftaggeber für den Mord an Romero: Roberto D'Abuisson in den 80er Jahren (picture alliance / Pat Hamilton)
    Auch Joachim Schlütter von der Friedrich-Ebert-Stiftung in El Salvador ist überzeugt: es fehlt der Wille zur Aufklärung.
    "Es gab eine Wahrheitskommission. Und das irre ist: Vier Tage bevor der Bericht der Wahrheitskommission mit Namen, mit Orten, mit Zeiten, wo Massaker begangen worden waren, veröffentlicht wurden, gab es eine Generalamnestie."
    Morde, Massaker, Verbrechen gegen die Menschlichkeit: Das alles wurde nie geahndet. Die Generalamnestie hatte die damals an der Macht befindliche ARENA-Partei, zu Deutsch: "Nationalistische Republikanische Allianz", ausgesprochen. Eine rechtskonservative Partei, deren Mitglieder während des Bürgerkriegs in Massaker und Verbrechen gegen die Menschlichkeit verwickelt waren. Parteigründer Roberto D’Aubuisson Arrieta war es, der den Mord an Erzbischof Romero in Auftrag gegeben hatte. Das gilt heute als bewiesen. Er hatte auch die Todesschwadronen organisiert. Angeklagt wurde er nie.
    Eine Gesellschaft verliert ihr Vertrauen
    Welche Lehren haben die Menschen aus der Vergangenheit gezogen? Dass Unrecht nicht bestraft wird und Verbrechen sich lohnen? Auch heute liegt die Straflosigkeit bei über 90 Prozent - Verbrechen werden so gut wie nie aufgeklärt, Täter selten zur Verantwortung gezogen. Joachim Schlütter ist überzeugt:
    "Diese ganze Gesellschaft hier hat den Schock des Bürgerkriegs noch gar nicht überwunden. Sie hat nie wieder Zutrauen zueinander gefunden. Es gibt keinen gesellschaftlichen Grundkonsens oder Vertrauen. Die sind weg. Und da drauf kam dann noch der Neoliberalismus, nach dem Motto: Wenn jeder an sich selber denkt, ist allen geholfen. Das ist hier auf fruchtbaren Boden gefallen. Die Leute haben hier untereinander kaum Kontakt. Und das ist ein Punkt, der wird häufig unterschätzt."
    Und die soziale Frage, an der sich einst die Proteste zu Oscar Romeros Zeiten entzündeten, ist bis heute nicht gelöst. Mehr als 40 Prozent der Bevölkerung in El Salvador leben heute unterhalb der Armutsgrenze. An den Verhältnissen haben auch linke Regierungen in El Salvador nichts geändert: Seit 2009 ist die FMLN an der Macht, die sich nach dem Friedensschluss von einer Guerilla-Organisation zu einer politischen Partei wandelte. Auch sie konnte ihre Versprechungen von weniger Gewalt und Armut nicht halten.
    Nach wie vor suchen viele Salvadorianer ihr Glück in den USA. Schätzungen zufolge lebt bereits heute ein Viertel der Bevölkerung im Ausland. Ihre Geldüberweisungen machen mittlerweile fast ein Fünftel des Bruttosozialprodukts in El Salvador aus. Wer abgeschoben wird und zurück muss, hat in El Salvador keine Perspektiven, sagt Schlütter.
    "Der soziale Konflikt ist die Mutter aller Aggressionen, aller Gewalt. Das ist übrigens auch ein Ausspruch von Oscar Romero."
    Podrán matar al profeta - "Sie können den Propheten töten", ist der Titel eines Liedes, das in El Salvador jeder kennt. Gewidmet ist es Oscar Romero, der mit seiner Gesellschaftskritik damals schon Weitblick bewies. Allein: Seine Botschaften wurden offenbar nicht gehört. Aber die Geschichte und seine Rufe nach Gerechtigkeit werden niemals verstummen, heißt es in dem Lied weiter. Auch 26 Jahre nach dem Ende des Bürgerkriegs ist in El Salvador kein Frieden in Sicht. Wenn an diesem Sonntag Romero heiliggesprochen wird, dann haben seine Forderungen, die Überwindung der sozialen Ungleichheit, Aussöhnung und ein Ende der Gewalt im Land auch 38 Jahre nach seiner Ermordung nichts an Aktualität verloren.